Gerechter Frieden im Nahosten – öffentlicher Appell an die DGB Spitzen!

Während die Führungen der DGB Gewerkschaften zu Israels Besatzungspolitik und Völkermord weiterhin schweigen oder sogar verdeckt unterstützen, wird an der Basis ein grundsätzlicher Kurswechsel gefordert und immer breiter diskutiert, wie Solidarität mit Palästina aussehen soll. Bis zu 80 Prozent der deutschen Bevölkerung lehnen seit Monaten das Vorgehen Israels ab. An der Gewerkschaftsbasis sieht das nicht anders aus. Auch die aktuell anstehende Zusammenkunft mit der israelischen Gewerkschaft Histadrut, deren Vorsitzender die Bomben auf Gaza signiert, stößt auf Unverständnis und Ablehnung. Wir publizieren dazu einen weiteren öffentlichen Appell als Diskssuionsbeitrag an die Mitglieder und als Aufforderung an die deutschen Gewerkschaftsspitzen, endlich ihre Haltung zu korrigieren! (Peter Vlatten)

Vier Thesen zu einem gerechten Frieden im Nahen Osten – vier Ansätze für einen Kurswechsel im DGB

von Flo Nagel – abgestimmt mit Gewerkschafter:innen IG BAU, GEW und IG Metall, 23.Oktober 2025

Die deutsche Nahostpolitik gerät zunehmend auf Abwege: Während Länder wie Großbritannien, Italien, Spanien, Kanada und Australien vor Kurzem einen palästinensischen Staat anerkannt haben, fiel die Bundesrepublik zuletzt dadurch auf, EU-Sanktionen gegen Israel als Reaktion auf seine zerstörerische Kriegsführung in Gaza auszubremsen.

Damit trägt Deutschland Mitverantwortung für die anhaltende Unterdrückung, Vertreibung und Vernichtung palästinensischen Lebens. Auch die deutschen Gewerkschaften haben bislang nicht den Mut gefunden, die sogenannte „deutsche Staatsräson“ zu hinterfragen, eine grundlegende Kritik an Israels Politik zu formulieren und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.

Doch unter Gewerkschafter*innen wächst die Kritik an dieser passiven Haltung, die im Folgenden aufgegriffen wird: Vier Thesen zu einem gerechten Frieden im Nahen Osten, vier Anstöße für einen Kurswechsel im DGB.

1. Besatzung befördert Widerstand

Der Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 unter der Führung der Hamas beinhaltete zahllose skrupellose Kriegsverbrechen gegen Zivilist*innen, welche nicht nur schreckliches Leid verursacht, sondern auch den Freiheitsbestrebungen der Palästinenser*innen massiv geschadet haben. Das Handeln der Hamas lässt sich jedoch nicht allein mit einem antisemitischem Vernichtungswahn erklären, sondern ist auch – wie die Hamas selbst – eine Folge der israelischen Besatzungspolitik. Das Vorgehen Israels in Gaza ruft unbändige Wut hervor. Wer gerechten Widerstand unterstützt, fördert Solidarität. Wer „Free Gaza from Hamas“ fordert, sollte zunächst das Ende der israelischen Besatzung fordern wie es zuletzt 100.000 Menschen bei einer Demonstration in Berlin taten.

Doch stattdessen wird in Deutschland Protest gegen die israelische Besatzung und den Vernichtungskrieg in Gaza wie in kaum einem anderen Land unterdrückt und kriminalisiert. Die DGB-Gewerkschaften haben es bisher nicht vollbracht, die Repressionen zu verurteilen oder selbst zu den Protesten für ein freies Palästina aufzurufen.


Anstoß für einen Kurswechsel:
Der DGB-Bundesvorstand und die Bundesvorstände der Einzelgewerkschaften solidarisieren sich mit den Gaza-Protesten, schließen sich den Forderungen der Solidaritätsbewegung an und rufen zu zukünftigen Demonstrationen auf.
Die DGB Gewerkschaften sollten sich in dieser Frage an den Beschlüssen ihrer internationalen Dachverbände wie IndustriALL, Public Services International oder der Education International orientieren.

Wer stattdessen schweigt, macht sich zum Komplizen der jahrzehntelangen völkerrechtswidrigen Politik Israels, die im Laufe des Gaza-Krieges nach Ansicht israelischer Menschenrechtsorganisationen, UN-Kommissionen und hunderter Forscher*innen in einen Genozid umgeschlagen ist.

2. Israel: Kein Interesse an einem gerechten Frieden

Die israelische Regierung hat nicht nur alle Waffenstillstandsbemühungen seit dem 7. Oktober sabotiert, sondern auch sämtliche Bemühungen zur Beendigung des historischen Konfliktes, der nur mit der Anerkennung eines palästinensischen Staates überwunden werden kann. Die regierende Likud Partei hält indes an dem in ihrem Gründungsprogramm formulierten Ziel eines „Großisrael“ fest, das auf einen jüdischen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer abzielt. In diesem Licht fördert die israelische Regierung den jüdischen Siedlungsbau im Westjordanland und verhindert damit schon heute dauerhaft die Entstehung eines palästinensischen Staates.

Es ist eine Illusion anzunehmen, dass sich Israel in Zukunft einen palästinensischen Staat abverhandeln lassen wird. Die Haltung der deutschen Bundesregierung, einen Staat Palästina erst am Ende eines Prozesses zur Zwei-Staaten-Lösung anzuerkennen, ist daher realitätsfremd – und stabilisiert den für die Palästinenser*innen unerträglichen Status quo.

Anstoß für einen Kurswechsel: Der DGB-Bundesvorstand und die Bundesvorstände der Einzelgewerkschaften erhöhen den Druck auf die Bundesregierung, einen Staat Palästina anzuerkennen.

3. Israelis sind gleicher als Palästinenser

In der Bundesrepublik hat sich ein enges Meinungsklima etabliert, das von Regierungsstellen wie dem Antisemitismusbeauftragten über die Springer-Presse bis hin zu zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der Amadeu-Antonio-Stiftung reicht und öffentliche Kritik erschwert. Wer Israels Vorgehen hinterfragt, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, mit doppelten Standards zu messen und antisemitische Motive zu bedienen. Dieser Mechanismus zielt erfolgreich darauf ab, Kritiker*innen zu diskreditieren, wenn sie israelische Verbrechen als diese benennen.

Umgekehrt stimmt, dass deutsche Medien und zahlreiche Politiker*innen bei israelischen Menschenrechtsverletzungen – auch im internationalen Vergleich – gerne ein Auge zudrücken. Ein Beispiel: Tausende Palästinenser sitzen in israelischen Gefängnissen, viele ohne Anklage, darunter auch 350 Kinder und Jugendliche. Berichte über sexualisierte Gewalt, systematische Folter bis hin zu Tötungen zeigen die Brutalität dieses Systems. Doch während die Befreiung der Geiseln aus der Gefangenschaft der Hamas zurecht gefordert und schließlich gefeiert werden konnte, kommt das Schicksal mehrerer tausend sogenannter „Administrativhäftlinge“ in Israels Foltergefängnissen in der deutschen Debatte kaum zur Sprache. Der Westen und damit wir alle müssen uns die Frage gefallen lassen: Wie viele palästinensische Leben sind ein israelisches wert?

Anstoß für einen Kurswechsel: Der DGB-Bundesvorstand und die Bundesvorstände der Einzelgewerkschaften schützen die menschliche Würde von Palästinenser*innen ebenso wie die von Israelis. Zu dieser Verantwortung gehört auch, sich bei der Bundesregierung für die Freilassung aller willkürlich eingesperrten Palästinenser*innen einzusetzen.

4. Die Rolle des DGB – einseitig solidarisch

Die palästinensischen Gewerkschaften warten seit zwei Jahren auf ein Zeichen der Solidarität von den deutschen Gewerkschaften. Offizielle Bemühungen aus dem DGB, mit den vom Tod bedrohten Gewerkschafter*innen in Gaza Kontakt aufzunehmen, sind bislang ausgeblieben. Während bei humanitären Katastrophen sonst sofort Spendenkampagnen gestartet werden, haben sich der DGB und seine Einzelgewerkschaften immer noch nicht zu einer Unterstützung für die Menschen im zerbombten Gazastreifen durchringen können.

Stattdessen hält der DGB unbeirrt an seinen Kontakten zur zionistischen Histadrut fest. Diese hatte während des gesamten Gaza-Feldzuges zu lediglich einem Protest gegen den Kriegskurs der Regierung aufgerufen, um die Freilassung der israelischen Geiseln zu bewirken. Dass es der Gewerkschaft dabei weniger um das Leid der Palästinenser*innen geht, zeigte Arnon Bar-David, Vorsitzender des Dachverbandes: Zu Beginn des Krieges reiste er durch sein Land und besuchte Rüstungsfabriken, wo er sich beim Signieren von Bomben fotografieren ließ. Dokumentiert ist, wie er auf einem der Morderzeugnissen einen „Gruß von der Histadrud und den israelischen Arbeitern“ hinterließ. In wenigen Tagen wird eine große DGB-Delegation mit Vertreter*innen der Gewerkschaften und der Hans-Böckler-Stiftung zu einer von der Histadrud organisierten Konferenz nach Tel Aviv aufbrechen, wo es zum Hände schütteln mit Bar-David kommen wird.

Anstoß: Der DGB-Bundesvorstand und die Bundesvorstände der Einzelgewerkschaften sagen die Delegationsreise nach Israel Ende Oktober ab. Sollte die Reise stattfinden, wird die Delegation nicht darauf verzichten, die fragwürdige Rolle der Histadrud in der Vergangenheit und während des zweijährigen Vernichtungskrieges in Gaza offen anzusprechen.

Titelbild: Peter Vlatten

Diktatur und Kriegsökonomie

Ewgeniy Kasakow im Gespräch mit Oleg Schein* über Gewerkschaften in Russland

In diesem Artikel geht es ausnahmsweise einmal nicht um Russland als staaatlichen Akteur in einem kriegerischen Konflikt sondern wir werfen einen kritischen Blick auf die Klassenverhältnisse, auf die Situation der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen. (Jochen Gester)

Bild: Gewerkschaftlicher Aufmarsch der FNPR am 1.Mai 2023. Moskow Times.

Ewgeniy Kasakow:Wie steht es um die Gewerkschaften in der Russländischen Föderation?

Oleg Schein: Der Krieg hatte unmittelbar nur eine geringe Wirkung auf die Dynamik der gewerkschaftlichen Organisierung, aber wir können davon ausgehen, dass die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder über die Jahre gesunken ist.

In Russland gibt es zwei große gewerkschaftliche Dachverbände: die Föderation der unabhängigen Gewerkschaften (FNPR) als Rechtsnachfolgerin der sowjetischen Gewerkschaften und die Konföderation der Arbeit Russlands (KTR), die Organisationen vereinigt, die bereits unter den Bedingungen der kapitalistischen Reformen gegründet wurden.

Die Unterschiede zwischen den beiden Dachverbänden sind jedoch nicht nur historisch. Die FNPR trat in den letzten drei Jahrzehnten als ein »konstruktiver Partner« der Staatsmacht in Erscheinung. So brachte sie 1999 eigene Funktionäre in die Duma, deren Liste »Vaterland – Ganz Russland« sich später mit der Vorläufer-Partei von »Einiges Russland« zusammenschloss. In der Diskussion um eine neue Arbeitsgesetzgebung 2001 hat die FNPR, wenn auch nicht kritiklos, die Entscheidungen der Staatsführung unterstützt – inklusive des faktischen Verbots von Streiks, des Verzichts auf gewerkschaftliche Mitbestimmung bei Kündigungen und der Abschaffung von Tariflöhnen zugunsten eines Prämiensystems. Dabei ist in der FNPR die Mitgliedschaft von Arbeitgebern nicht verboten, weshalb viele Gewerkschaftsorganisationen von Stellvertretern des Managements angeführt werden. 2008 hat die FNPR eine Kooperationsvereinbarung mit der Partei »Einiges Russland« geschlossen und unterstützte Wladimir Putin bei den Wahlen.

Die KTR setzt dagegen auf die Basisaktionen der Beschäftigten und hat bei ihrer offiziellen Gründung 1995 die Werte der sozialen Demokratie, einschließlich der politischen Freiheiten, Gendergleichheit und der Rechte von Arbeitsmigrant:innen deklariert. Die Konföderation führte Kampagnen durch, unterstützte und initiierte Streiks, half den Aktivist:innen, die in Gefängnissen landeten. Die Mitgliedschaft von Arbeitgebern wurde qua Statuten ausdrücklich untersagt.

E.K.:Kannst Du etwas zum Organisationsgrad der Lohnabhängigen sagen?

O.S.: Insgesamt ist es schwer, den Organisierungsgrad in Russland zu bestimmen. 1991 hatte die FNPR offiziell 54 Millionen Mitglieder, jetzt sind es laut deren Website 19 Millionen. Aber aus dem Schaubild auf der Website folgt, dass der Organisationsgrad rund 16 Prozent der Lohnabhängigen im Land beträgt, von drei Prozent in Fernost bis 25 Prozent an der Wolga. In diesem Fall müsste die Mitgliedszahl der FNPR eher 13 Millionen betragen.

Aufschluss darüber, warum diese Zahlen nicht übereinstimmen, gibt die Website der Gewerkschaft Bergbau-Metallindustrie der FNPR. Dort wird angegeben, dass sie 378.000 Arbei- ter:innen und 170.000 Rentner:innen zu ihren Mitgliedern zählt. Da die Rentner:innen weder

Beitrage zahlen müssen, noch an Versammlungen teilnehmen, sind die realen Zahlen mit diesem Kunstgriff um ein Drittel erhöht. Es ist offensichtlich, dass der reale Organisationsgrad im privaten Sektor unter zehn Prozent liegt, im öffentlichen Sektor dürfte er bis zu 70 Prozent betragen.

In der KTR sind etwa eine Million Beschäftigte organisiert. Einen beachtlichen Anteil davon bilden Seeleute; außerdem zu erwähnen sind Beschäftigte im Flugverkehr. Die Spezifikation dieser Branchen sowie die vielen Erfahrungen aus solidarischen Aktionen ermöglichen es, die hohen Mitgliedszahlen zu halten. Aber die KTR stößt auf offensichtliche Schwierigkeiten in jenen Sektoren, in denen sie sich zu entwickeln versucht – im Bildungs- und Gesundheitsbereich sowie in der Industrie sind die Mitgliedsgewerkschaften vergleichsweise klein und es gelingt nur mit Mühe, die Mitgliedszahlen zu halten.

E.K.:Woran liegt das?

O.S.: Die Ursachen dafür, dass die Entwicklung von wirkmächtigen Gewerkschaften äußerst schwer ist, liegen nicht nur im Krieg gegen die Ukraine und der damit verbundenen repressiven Gesetzgebung.

Bereits seit 2001 sind Streiks faktisch verboten, 2004 wurden im öffentlichen Sektor die Regelungen zur Lohngestaltung reformiert – real bestimmen bspw. der Oberarzt oder der Schuldirektor über ein Premiumsystem die Lohnhöhe der einzelnen Beschäftigten. Seit 2019 sind Kundgebungen, Demonstrationen und sogar Streikposten de facto untersagt. Damit sind den Aktivist:innen die wichtigsten Instrumente zum Kampf für die Rechte der Lohnabhängigen genommen. Bis zu 30 Prozent der Beschäftigten haben gar keinen Arbeitsvertrag, sind also außerhalb der offiziellen Ökonomie beschäftigt.

Die Rechtlosigkeit der Beschäftigten und die daraus resultierende Armut sind ein Grund für die massenhafte politische Apathie und wurden zur Voraussetzung für die Etablierung einer offenen Diktatur in Russland und den darauf folgenden Krieg.

E.K.:Wie sind die Beziehungen zwischen den beiden Gewerkschaftsverbänden zueinander?

O.S.:Aktuell kann man von Arbeitsbeziehungen sprechen, von einem Meinungsaustausch im Rahmen einer trilateralen Kommission, die von der Regierung eingeführt wurde. Früher war das Verhältnis schwierig, nicht selten auch konfliktreich, da die Untätigkeit der FNPR während der von der KTR organisierten Protestaktionen zu Spannungen führte. Aber da gerade alle öffentlichen Protestbekundungen in Russland eingeschränkt sind, bleibt das einzige gemeinsame Aktionsfeld die Diskussion im Rahmen des Tripartismus.

E.K.:Was lässt sich über die rechtlichen Aspekte der Streiks in Russland sagen?

O.S.: Wie gesagt, seit 2001 sind Streiks praktisch verboten. Formell gilt das Recht auf Streik, es ist sogar in der Verfassung festgeschrieben. Es wurde jedoch ein Gesetz erlassen, das ein äußerst kompliziertes Verfahren für kollektive Arbeitskonflikte vorsieht. Real sind die rechtlichen Auflagen unerfüllbar. Daher liegt die Zahl der offiziell vom Föderalen Dienst für staatliche Statistik (Rosstat) erfassten Streiks bei ein bis zwei pro Jahr.

Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine spontanen Streiks oder Protestaktionen gibt. Außerdem haben die Beschäftigten das gesetzliche Recht, die Arbeit einzustellen, falls sich die Auszahlung ihrer Löhne um mehr als zwei Wochen verzögert.

Obwohl Streiks in Russland juristisch verunmöglicht werden sollen, finden sie also dennoch vereinzelt statt. Dadurch, dass es Ausnahmefälle sind, erhalten sie auch große Resonanz. So streikten 2023 in der Region Moskau indische Arbeitsmigrant:innen, die dort als Weber:innen beschäftigt sind, in der Kemerowo-Region streikten Bergarbeiter und in Uljanowsk Arbeiter:innen in einem Autowerk. In keinem dieser Fälle waren die Streiks gewerkschaftlich organisiert. Die Aktivist:innen wurden später gefeuert, obwohl die Arbeitgeber zu einigen Zugeständnissen gezwungen wurden.

Gleichzeitig haben andere Formen der Proteste, die auf Medienpräsenz setzen, Verbreitung gefunden: offene Videoaufrufe, die massenhafte Einreichung von Kündigungen, Online-Petitionen. In einigen Fällen waren sie durchaus erfolgreich. So haben zwei Gewerkschaften des Flugzeugpersonals – eine davon ist Mitglied in der KTR, bei der anderen handelt es sich um eine autonome Gewerkschaft – 2024 eine Erhöhung der Löhne um 30 Prozent erreicht. Die Beschäftigten einer Notrufstation, die in der KTR-Gewerkschaft »Dejstwije« (»Aktion«) organisiert sind, erreichten in einigen Regionen Lohnerhöhungen um 40 Prozent.

E.K.: Die Streiks beim Lieferservice Wildberries sorgte in den russischen Medien für eine große Resonanz. Wie ist die Situation dort jetzt?

O.S.: Wildberries ist eines der größten Versandhandelsunternehmen in Russland, es verfügt über »Verteilzentren« überall im Land. Diese Stationen sind als Franchise-Unternehmen organisiert, formell gibt es also zwischen den Mitarbeiter:innen der Stationen und Wildberries kein Beschäftigungsverhältnis. 2023 hat Wildberries die Bedingungen verschärft und Strafgebühren für beschädigte Lieferungen eingeführt. Um Diebstähle zu verhindern, müssen sich an einigen Stationen die Beschäftigten vor der Kamera bis auf die Unterwäsche ausziehen.

Das rief Massenproteste hervor, die von den Managern der Stationen organisiert wurden. In Folge der Proteste musste das Unternehmen Zugeständnisse machen. Es kam jedoch nicht zur Gründung einer Gewerkschaft während der Protestaktionen. Eine Gruppe von Aktivist:innen richtete einen Telegram-Kanal ein, der inzwischen 10.000 Abonnent:innen hat. Über diesen Kanal wird Rechtsunterstützung für die Beschäftigten geleistet.

E.K.:Im September 2023 wurde die International Transport Workers Federation(ITF)als »unerwünschte Organisation«eingestuft. Welche Folgen hatte das?

O.S.: Die Zusammenarbeit mit unerwünschten Organisationen kann eine Strafverfolgung nach sich ziehen. Diese Entscheidung war ein harter Schlag gegen die KTR-Transportgewerkschaften in Russland, weil es die ITF war, die das Vorhandensein von Tarifverträgen bei den Schiffsbesatzungen kontrollierte, ohne die die Schiffe in vielen Häfen nicht einlaufen dürfen. Die Gewerkschaften mussten offiziell aus der ITF austreten, aber konnten die bereits geschaffenen Rechte der Seeleute auf internationaler Ebene verteidigen.

Im Februar 2024 wurde auch die IndustriALL Global Union zur »unerwünschten Organisa- tion« erklärt. In Russland waren zehn FNPR-Gewerkschaften Mitglieder dieser globalen Gewerkschaftsföderation (darunter jene, die die Beschäftigten der Atomindustrie, die Grubenarbeiter und Bergleute organisieren) sowie die KTR-Gewerkschaft Interregionale Gewerkschaft Arbeiter-Allianz (MPRA), die vor allem Beschäftigte der Autoindustrie vereinigt. Die MPRA wurde 2018 vom russischen Justizministerium verboten, doch die Gewerkschaft konnte die Aufhebung dieser Entscheidung vor Gericht erzwingen. Aber diesmal musste die MPRA die Beziehungen zur IndustriALL beenden.

E.K.:Welche Auswirkung hat die Kriegsökonomie auf die Arbeit der Gewerkschaften? Inwiefern kann man in Russland von einem »Kriegskeynesianismus« sprechen?

O.S.: Tatsächlich lässt sich ein gewisses Wachstum der Löhne im Industriesektor beobachten. Grund dafür sind nicht nur die Kriegsaufträge, sondern auch das Angebotsdefizit auf dem Arbeitsmarkt. Mehrere Faktoren kommen hier zusammen: die Alterung der Bevölkerung und das Ausscheiden aktiver Arbeitskräfte; die Emigration von ca. 800.000 Menschen, die mit dem Krieg nicht einverstanden sind oder sich der Einberufung entziehen; das Schrumpfen der Zahl ausländischer Arbeitskräfte aufgrund des verschärften Kampfs gegen die Migration und der Instabilität des Rubels; sowie der Abgang von bis zu zwei Millionen Menschen an die Front oder in kriegsunterstützende Hinterlandarbeiten.

Deswegen konnte der Föderale Steuerdienst verkünden, dass zwischen 2022 und 2024 die Löhne und die Beiträge an die Versicherungsfonds um 56 Prozent gestiegen seien, während die privaten Einlagen der russischen Bürger auf den Konten der Sberbank um den Faktor 1,93 gestiegen sein sollen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Inflationsrate von 32 Prozent be- scheiden.

Die reale Inflation war jedoch um einiges höher. Durchschnittlich verfügen russische Haushalte nur über rund 300 Euro Ersparnisse, und die Löhne von Lehrer:innen, Ärzt:innen und Mitarbeiter:innen des kommunalen Sektors sind ernsthaft gesunken. Besonders stark haben die Rentner:innen zu leiden: Im Vergleich zu 2018 sank der Anteil der Rentenauszahlungen am BIP um fast die Hälfte, von acht auf fünf Prozent.

Den offiziellen Angaben nach zu urteilen, begann die Produktion im zivilen Sektor der Wirtschaft dieses Jahr merklich zu schrumpfen, was wiederum bedeutet, dass die Realein – kommen sinken werden. Vom Krieg profitieren lediglich die obersten zwanzig Prozent der Bevölkerung: Diese nutzen die Möglichkeit für zusätzliche Einkünfte durch die hohen Zinsen – bis zu 25 Prozent – bei den Bankanlagen. Das erklärt auch den hohen Grad der Zustimmung zur Fortsetzung des Kriegs gerade in Moskau, einer Stadt mit sehr hohen Einkünften. Die Umfragen lassen sich sowohl in loyalen wie in oppositionellen Medien lesen: Während sich im Durchschnitt lediglich 25 Prozent der Bevölkerung Russlands gegen Verhandlungen mit der Ukraine aussprechen, sind es in Moskau 47 Prozent.

* Oleg Schein, 1972 in Astrachan geboren, war langjähriger Vizepräsident der Konföderation der Arbeit Russlands(KTR). Am 22. November 2024 wurde er von Russland in die Liste der »ausländischen Agenten« aufgenommen. Ewgeniy Kasakow ist promovierter Historiker, Journalist und Herausgeber des Bandes»Spezialoperation und Frieden: Die russische Linke gegen den Krieg« (Unrast Verlag).

Erstveröffentlicht im express Nr. 9/10 2025
express im Netz und Bezug unter: www.express-afp.info
Email:express-afp@online.de

Wir danken für das Publikationsrecht.

Arbeiten wie im Mittelalter

Griechische Regierung führt Möglichkeit eines 13-Stunden-Tages ein. Unternehmer feiern Flexibilisierung

Von Kurt Stenger

Bild: PdA Belgien

Auch zwei Generalstreiks konnten es nicht verhindern: Das griechische Parlament stimmte am Donnerstag mit der Mehrheit der konservativen Regierungspartei Neue Demokratie (ND) einem heftig umstrittenen Arbeitsgesetz zu. Dieses führt die Möglicheit eines 13-Stunden-Tages und weitere Maßnahmen für »Hyper-Ausbeutung« ein, wie die Gewerkschaften kritisieren.

Bei der dreitägigen Debatte in Athen kam es zum Schlagabtausch mit den Oppositionsparteien, die die Rücknahme des Gesetzentwurfs wegen verfassungsrechtlicher Einwände verlangten. »Allein die Tatsache, dass wir hier über einen solchen Gesetzentwurf diskutieren, ist inakzeptabel, beschämend und rückständig«, kritisierte Efi Achtsioglou, Abgeordnete der Syriza-Abspaltung Neue Linke. Laut Dimitrios Mantzos von der sozialdemokratischen Pasok wird die Reform »die Arbeitsbeziehungen deregulieren, die Arbeitsplatzunsicherheit erhöhen und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben beeinträchtigen«.

Arbeitsministerin Niki Kerameos, aus deren Haus der Entwurf stammt, erwiderte, man habe »Dutzende Änderungen« auf Wunsch der Sozialpartner und von Oppositionsparteien vorgenommen. Die 45-jährige Juristin mit Harvard-Abschluss setzte eine namentliche Abstimmung über alle einzelnen Artikel durch, die sich bis in den Nachmittag hinzog. Syriza-Abgeordnete blieben dieser fern.

Das Gesetz ist ein Sammelsurium, das auch Passagen für mehr Kontrollen und bessere Gesundheitsversorgung am Arbeitsplatz beinhaltet. Im Zentrum steht aber die Möglichkeit eines bis zu 13-stündigen Arbeitstages in der Privatwirtschaft. Dies war in der Summe zwar schon bisher zulässig, wenn Beschäftigte mehrere Jobs haben – das ist in Griechenland aufgrund der extrem niedrigen Löhne durchaus üblich. Künftig können Arbeiter aber in einer Firma bis zu 13 Stunden am Stück arbeiten, bevor eine mindestens elfstündige Pause zu erfolgen hat. Das soll an 37 Tagen im Jahr oder drei Tagen im Monat zulässig sein. Ministerin Kerameos beteuerte die Freiwilligkeit. Bei einer Ablehnung dürfe der Mitarbeiter weder gekündigt noch mit Gehaltskürzungen sanktioniert werden. Und nach acht Stunden werde ein 40-Prozent-Zuschlag fällig.

Indes bleibt die wöchentliche Regelarbeitszeit bei 40 Stunden plus bis zu acht Überstunden. Dies wird aber im Durchschnitt pro Quartal berechnet, was in bestimmten Wochen Mehr- und Minderarbeit ermöglicht. Das Gesetz birgt weitere Flexibilisierungen: So können Vollzeit-Arbeiter ihre Woche künftig generell auf vier Zehn-Stunden-Tage verteilen. Kerameos verkauft dies als Wohltat für berufstätige Eltern mit kleinen Kindern, da diese flexibler bei der Einteilung ihrer Zeit würden. Ferner dürfen Unternehmer befristete Mitarbeiter für dringende Bedürfnisse künftig ohne Papierkram per Mausklick einstellen.

Ziel des gesamten Machwerks ist es, per extremer Flexibilisierung die wirtschaftliche Produktivität zu steigern. Auch die Reduzierung des Arbeitskräftemangels spielt eine Rolle – in der Krise waren viele Fachkräfte aufgrund der miserablen sozialen Lage ins Ausland abgewandert. Ministerin Kerameos wies im Parlament darauf hin, dass in den ersten acht Monaten 2025 rekordverdächtige 317 000 neue Jobs entstanden seien und führte dies auf Maßnahmen der Regierungen zurück.

Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit seit der Krise von 25 auf gut 8 Prozent gefallen, liegt damit aber noch deutlich über dem EU-Durchschnitt. Auch deshalb klingt der Verweis auf eine gute wirtschaftliche Lage für viele wie Hohn: Selbst laut offizieller Statistik lebt fast ein Drittel der Griechen nahe der Armutsgrenze, während die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung wie auch die Löhne zu den niedrigsten in der EU zählen. Angesichts eines Mindestlohns von etwa fünf Euro bei vergleichbaren Lebenshaltungskosten wie in Deutschland kommen viele mit regulärer Arbeit nicht über die Runden.

»Erschöpfung ist keine Entwicklung.«Gewerkschaftsbund ADEDY

In der Realität dürfte es daher kaum Freiwilligkeit beim 13-Stunden-Tag geben, vielmehr können sich Unternehmer über extreme Flexibilität freuen. Zumal er vor allem in schlechtbezahlten Jobs wie der Saisonarbeit in Gastgewerbe und Landwirtschaft sowie bei Kassiererinnen praktiziert werden dürfte. Auch dass Verstöße gegen Begrenzung und Entlohnung der Arbeitszeit durch Kontrollen verhindert werden, glaubt im Land angesichts bisheriger Erfahrung kaum jemand. Kritiker warnen daher vor der Zerstörung der Work-Life-Balance: »Erschöpfung ist keine Entwicklung, die Toleranz des Menschen hat Grenzen«, erklärte der Gewerkschaftsbund ADEDY, der sich für eine gesetzliche 37,5-Stunden-Woche starkmacht. »Diese Regelungen verstärken das Modell der flexiblen und ungeschützten Arbeit.« Burnouts und vermehrte Unfälle seien zu erwarten.

Der hellenische 13-Stunden-Tag erregt als Novum in der EU weit über die Landesgrenzen hinaus Interesse. In Mitgliedstaaten wie Deutschland mit allerdings nicht vergleichbarer Arbeitsrealität ist flexiblere Arbeitszeit ebenfalls ein Thema. Daher wird auch registriert, wie glatt die konservative Einparteienregierung mit ihrem Vorhaben durchkommt. Diese ist durch diverse Skandale und das Zugunglück von Tempi als Synonym für komplettes Staatsversagen angezählt. Laut Umfragen sind mittlerweile 70 Prozent mit der ND-Arbeit unzufrieden. Der Beschluss des Gesetzes ist daher auch Ausdruck der Schwäche der linken Opposition. Syriza ist nach mehreren Abspaltungen ein Schatten ihrer selbst und liegt bei weit unter fünf Prozent. Die in der Krise totgeglaubte Pasok hat sich wieder als zweitstärkste Kraft etabliert, weit abgeschlagen hinter der ND.

Nicht zufällig nimmt der ehemalige Syriza-Premierminister Alexis Tsipras die Lage zum Anlass für ein mögliches Comeback, wie er in seinem ersten langen Interview nach dem Rücktritt als Parteichef vor zwei Jahren andeutete. Beobachter rechnen mit der Gründung einer neuen Partei, die die Karten links der Mitte neu mischen könnte. Das Arbeitsgesetz bezeichnete Tsipras übrigens als »mittelalterlich«, was einem bekannt vorkommt: 2021 als Oppositionsführer sagte er zum ersten Gesetz der Konservativen mit Deregulierungen im Arbeitsbereich: »Die Regierung stellt die Wiederbelebung des dunklen Zeitalters als Renaissance hin.«

Erstveröffentlicht im nd v. 17.10. 2025
https://nd.digital/editions/nd.DieWoche/2025-10-17/articles/20066397

Wir danken für das Publikationsrecht.

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