Politischer Missbrauch von Gedenkfeiern hat Hochkonjunktur – ein eklatanter Fall!

Der Missbrauch von Gedenkveranstaltungen – demnächst wieder anlässlich des Tags der Befreiung vom Nationalsozialismus – feiert in Deutschland Hochkonjunktur. Besonders dreist: neben der Instrumentalisierung des Gedenkprogramms werden große Teile der Opfer, deren Nachfolger oder offizielle Vertreter diffamiert oder sogar ausgeladen.

Ein oft gesehenes Transparent auf Demonstrationen in Berlin trifft ins Schwarze: „One Genocide does not justify another„. Die Instrumentalisierung des Holocaust zur Rechtfertigung neuer Verbrechen gegen Menschen- und Völkerrecht erreicht anlässlich der diesjährigen Holocaust Gedenkfeiern in Deutschland einen oftmals sarkastischen Höhepunkt. Selbst Nachkommen der Opfer und den Zionismus kritiserenden Jüd:innen wird dabei das Recht auf ungestörte Erinnerung, Mahnung und Trauer gestohlen.

Hier die Öffentliche Erklärung und Stellungnahme der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ zur Vereinnahmung einer solchen Gedenkveranstaltung in Niedersachsen – unterzeichnet von mehr als 20 „jüdischen“ Organisationen! (Peter Vlatten)

Politisch instrumentalisierte Gedenkfeier in Bergen-Belsen

Link zum Original mit englischer Version, 22. April 2025

Am 27. April veranstalten die Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten und der Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen eine Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen.

Überlebende und ihre Nachkommen werden daran teilnehmen, um die Erinnerung an die Gräueltaten wach zu halten. Viele haben erst später im Leben ihr Schweigen gebrochen und ihre Aussagen niedergeschrieben, um zu versuchen, ihre Erlebnisse in einer ganz anderen Welt zu verarbeiten. Auch wenn die persönlichen Gründe für ihre Teilnahme unterschiedlich sind, haben sie alle ein kollektives Trauma in sich getragen und geerbt, das durch Gedenkveranstaltungen wie diese zu heilen versucht werden muss.

Anfang April gaben die Organisator:innen schließlich ein detailliertes Programm bekannt, das Lord Vernon Coaker, Staatsminister im britischen Verteidigungsministerium, und Ron Prosor, Botschafter des Staates Israel in der Bundesrepublik Deutschland, als Redner vorsieht. (Update: Seitdem haben die Briten Coaker durch die Vize-Premierministerin Angela Rayner ersetzt.)

Die Anwesenheit dieser beiden Männer, die in offizieller Funktion sprechen, hat bei einer Holocaust-Gedenkfeier absolut nichts zu suchen.

Der Besuch des Ortes dieser dunklen Geschichte ist für die Überlebenden und ihre Nachkommen ein Schritt zur Aufarbeitung ihrer zerbrochenen Familiengeschichten. In erster Linie macht die Entscheidung der Organisator:innen, diese beiden Staatsvertreter einzuladen, die Gedenkveranstaltung zu einem politischen Instrument. Das ist eine Beleidigung für diese Familien, die in ihrer zerbrechlichsten Lage zusammenkommen werden.

Die Veranstaltung wird offenbar auch mit einer Wiedergabe von „Hatikva“, der israelischen Nationalhymne, abgeschlossen, was eine zionistische Einbettung verspricht. Die Organisator:innen scheinen zu erwarten, dass die jüdischen Teilnehmenden den Status Israels als Vertreter des jüdischen Volkes und der Überlebenden der Gräueltaten umstandslos anerkennen. Dies ist eine überraschende Annahme, die jüdische Personen als vereinten politischen Block betrachtet und nicht als Individuen mit der gleichen Komplexität und den gleichen Rechten wie andere Bürgerinnen und Bürger, die in vielen Ländern leben und unterschiedliche Ansichten über ihre Beziehung oder Nicht-Beziehung zu Israel haben. Alle Teilnehmenden sollten den Raum haben, auf eigene Weise zu trauern und zu gedenken. Indem die Organisator:innen den Teilnehmenden diese Redner aufzwingen, provozieren sie stattdessen schmerzhafte Assoziationen und erheben die Stimme eines Vertreters eines Staates, der derzeit genozidale Gewalt ausübt.

Abgesehen von dem persönlichen Affront, der darin besteht, dass die Zeremonie auf zynische Weise in ein Instrument der Staatskunst verwandelt wird, gibt es folgende Gründe, warum es unangemessen ist, den oben genannten Rednern eine Plattform zu bieten:

Anschuldigungen gegen Israel wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Am 26. Januar 2024 stellte der Internationale Gerichtshof fest, dass „eine reale und unmittelbare Gefahr besteht, dass die Rechte der Palästinenser in Gaza, die durch die Völkermordkonvention geschützt sind, irreparabel beeinträchtigt werden“. Er stützte sich dabei auf die Art des israelischen Verhaltens bis zu diesem Zeitpunkt und auf Erklärungen israelischer Beamter. Der IGH hat in dem von Südafrika gegen Israel angestrengten Verfahren wegen angeblicher Verstöße gegen die Völkermordkonvention im Gazastreifen bereits dreimal Eilanträge gestellt.

Der Internationale Strafgerichtshof hat einen Haftbefehl gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen des Kriegsverbrechens des Aushungerns als Methode der Kriegsführung und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Mord, Verfolgung und anderen unmenschlichen Handlungen während des Gaza-Krieges erlassen.

Die Beteiligung eines offiziellen Vertreters der israelischen Regierung angesichts der schwerwiegenden Vorwürfe gegen sie ist an und für sich schon eine Verhöhnung des Zwecks des Gedenkens und der Trauer um die Opfer des Völkermordes.

Der Holocaust-Revisionismus israelischer Beamter und die Allianz mit der europäischen extremen Rechten

Israel ist seit Jahren ein Bündnis mit der europäischen extremen Rechten eingegangen, um seine diplomatischen und geopolitischen Ziele zu fördern. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat wiederholt den Holocaust-Revisionismus legitimiert, um im Gegenzug herzliche Beziehungen zu Staatsoberhäuptern wie Ungarns Viktor Orban zu pflegen, die mit der israelischen Regierung eine fremdenfeindliche und rassistische Politik u. a. gegenüber Arabern und Muslimen teilen.

Das jüngste Beispiel dieser für beide Seiten vorteilhaften Beziehung zeigte sich bei Netanjahus jüngstem Staatsbesuch in Ungarn, wo er für Fotos mit Orban posierte und feierte, wie die jüdische und die ungarische „Geschichten sich treffen und die große Allianz beginnen, die sich nun entwickelt hat“.

In derselben Rede lobte der israelische Premierminister Ungarns „prinzipientreue Haltung“ zum Internationalen Strafgerichtshof, aus dem Ungarn ankündigte, es werde ihn verlassen – eine eklatante Gegenleistung für Israels Entscheidung, Ländern wie Ungarn zu erlauben, ihre Verantwortung für die Auslöschung jüdischen Lebens in Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs herunterzuspielen.

Ron Prosors Verleumdung von Gegnern, einschließlich Nachkommen von Überlebenden

Als wären die obigen Ausführungen nicht schon Grund genug, Vertreter:innen des Staates Israel keine Plattform zu bieten, verweisen wir auf das beschämende Verhalten von Herrn Prosor im täglichen deutschen Kontext.

Als israelischer Botschafter in Deutschland ist Prosor für eine ständig wachsende Litanei abscheulicher Äußerungen über Araber, Palästinenser und Juden, die anders denken als er, verantwortlich. Prosor übt einen beträchtlichen Einfluss auf eine deutsche Regierung und Institutionen aus, die in allen jüdischen Angelegenheiten bereits auf eine sklavische Ehrerbietung gegenüber Israel eingestellt sind.

Prosor, der in der israelischen Botschaft in Berlin das Sagen hat, hat kürzlich aktiv dazu beigetragen, dass der israelische Philosoph und Enkel von Holocaust-Überlebenden, Omri Böhm, von seiner Rede zum 80. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora ausgeladen wurde.

Seine Botschaftverglich daraufhin die Einladung Boehms mit „einer Einladung an Bashar al-Assad, einen Vortrag über Menschenrechte zu halten“. Die Rede, die Böhm gehalten hätte, kann hier nachgelesen werden. Wir heben nur einen kurzen Auszug hervor:

Eine Welt, in der eine Wiederholung von Buchenwald überall möglich ist, ist eine Welt, in der sie überall möglich ist, auch gegen Juden.


Diese Hetzkampagne gegen einen Juden, der die universellen Lehren für die Menschheit aus dem Holocaust hervorhebt, ist zu einem vorhersehbaren Merkmal der offiziellen israelischen Reaktionen auf Kritik geworden, ganz gleich aus welcher Richtung. Deutsche Behörden und Institutionen sind in vielen Fällen diesem Beispiel gefolgt und haben die Taktik der Bösgläubigkeit nachgeahmt, indem sie Israel und das Judentum sowie Israelkritik und Antisemitismus in einen Topf geworfen haben. Damit verharmlosen sie das Verständnis der Öffentlichkeit für Antisemitismus und entwerten die Bedeutung des Holocausts.

Im Gegenteil, die Geschichte zeigt dass jedes Zeitalter das Potential zum Faschismus in sich trägt. Auf jedem Kontinent, in jeder Kultur, jeder Religion, in jedem Land und in jedem Menschen schlummert ein zerstörerisches Potenzial für das Entflammen autoritärer und faschistischer Orientierungen. Faschismus agiert da, wo Machthabende, auf die eine oder andere Art und Weise, unliebsamen Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit und Fähigkeit des Selbstausdrucks, des Gesehen- und Beachtet-Werdens systematisch vorenthalten.

Wie andere wortgewandt festgestellt haben, hat die israelische Botschaft in Deutschland „jahrzehntelange Mainstream-Diskussionen darüber, warum wir uns an den Holocaust erinnern sollten“, wegen seiner universellen Lehren und Bedeutung aktiv zurückgewiesen.

Die Anwesenheit von Ron Prosor bei dieser Veranstaltung ist daher ein Affront gegenüber dem Gedenken an die Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren Angehörige in einem intimen Rahmen des Gedenkens zusammenkommen werden.

Unangemessenheit der Einladung eines Redners aus dem britischen Verteidigungsministerium

Das Vereinigte Königreich ist zwar ein weniger bedeutender Lieferant der völkermörderischen israelischen Kriegsmaschinerie als die USA und Deutschland und hat mit der Aussetzung einiger Exportlizenzen für Israel einige positive Schritte unternommen, aber es hat kein vollständiges Embargo verhängt und ist weiterhin an der Lieferkette wichtiger Teile für die F-35-Kampfjets an Israel beteiligt, obwohl Großbritannien einräumt, dass die Gefahr besteht, dass diese unter Verletzung des humanitären Völkerrechts eingesetzt werden. Es führt auch Aufklärungsflüge durch, um Israel mit Informationen zu versorgen.

Die Teilnahme eines offiziellen Vertreters des Vereinigten Königreichs, geschweige denn eines Ministers mit Verteidigungsressort, hat bei dieser Veranstaltung nichts zu suchen und steht im Widerspruch zu dem Ziel, der Opfer des Völkermords zu gedenken.

Zusammenfassung

Über die verachtenswerte und zynische Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens durch die israelische Führung, die jeden Kritiker angreift, während sie gleichzeitig Allianzen mit der modernen extremen Rechten schmiedet, ist bereits genug gesagt worden. Es genügt zu sagen, dass ihre Anwesenheit den Teilnehmenden an der Gedenkfeier nur schadet. Ihre Reden werden die Teilnehmenden nur entfremden und spalten, anstatt ihnen zu ermöglichen, sich um den Zweck zu versammeln, für den sie da sind.

Die Organisator:innen hätten eine andere Vorgehensweise wählen können: Überlebende und nur Überlebende auf die Bühne zu bringen, wie es bei der Gedenkfeier in Auschwitz-Birkenau Anfang dieses Jahres der Fall war.

Schon jetzt fordern wir die Organisator:innen auf, dies zu überdenken. Stellen Sie nicht diese beiden offiziellen Vertreter des Staates auf die Bühne. Lassen Sie den Raum für Überlebende, Familienangehörige und alle anderen Teilnehmenden, die in gutem Glauben da sind.

Sollte es zu keiner Änderung des Programms kommen, vermuten wir, dass Teilnehmende, die die hier beschriebenen Bedenken teilen, sich gezwungen sehen könnten, den Fokus des Tages individuell wieder auf das zu richten, was er eigentlich sein sollte: das Gedenken an die Opfer und die Ehrung der Überlebenden des von Nazi-Deutschland begangenen Völkermords.

Unterzeichnende Organisationen:

AJAB – Anti-Zionist Jewish Alliance in Belgium
Boycott from Within (Israeli citizens for BDS)
International Jewish Anti-Zionist Network-Canada
Israelis Against Apartheid
Jewish Network for Palestine (UK)
Jewish Voices for a just Peace (Norwegen)
Jewish Voice for Labour (UK)
Jews Against the Occupation „48 (Australien)
Jews for Palestine – Ireland
Jews for Just Peace 5784 (Dänemark)
Jews Say No (USA)
Judeobolschewiener*innen (Österreich)
Judeus pela Paz e Justiça (Portugal)
Judíes x Palestina (Argentinien)
Judíes por una Palestina Libre (Mexiko)
Kollektiv Doykait (Switzerland)
MARAD, Collectif juif décolonial (Schweiz)
Not in Our Name (Österreich)
SAJFP – South African Jews for a free Palestine
Sh“ma Koleinu – Alternative Jewish Voices of Aotearoa New Zealand
Tsedek! (Frankreich)
​​​​​​​UJFP – French Jewish Peace Union

Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, Original mit englischer Version, 22. April 2025

Titelfoto: Peter Vlatten

Berlin: Die vergessene »Aktion Avus«

Die »Kampfgruppe Osthafen« leistete in den letzten Kriegstagen Großes

Von Felix Schlosser

Bild: Wikimedia

Ungelöste Kriminalfälle, auch historische, üben große Faszination aus. In der Sendung »Mord und Totschlag – Kriminalität unterm Hakenkreuz« von »Terra X« im ZDF aus dem Jahr 2024 etwa wird von einem Anschlag auf drei SS-Männer in Grunewald auf der Stadtautobahn Avus berichtet. Die Nazis saßen in einer voll beladenen Limousine, als sie laut Ermittlern vermutlich in eine fingierte Straßenkontrolle gerieten. Bei dieser wurden sie ohne jede Gegenwehr durch gezielte Kopfschüsse getötet. »Das Verbrechen trifft diesmal Heinrich Himmlers Vorzeigegarde und damit ins Mark des nationalsozialistischen Polizeistaates«, heißt es dazu vom Sprecher der Dokumentation. Sogar in internationalen Medien wird über den Anschlag berichtet. Die Kriminalpolizei setzt eine der bis dahin höchsten Prämien von 100 000 Reichsmark aus. Dann ein weiterer Kommentar des Sprechers: »Dennoch wird der Mord an den SS-Männern nie aufgeklärt.«

Vielleicht hätte sich der Anschlag aber spätestens zu DDR-Zeiten aufklären lassen, hätte man das Buch »Kampftage in Berlin« aus dem Jahr 1975 zurate gezogen. In diesem wird in einem Kapitel, dass den vielversprechenden Namen »Aktion Avus« trägt, minutiös und detailliert über den Angriff geschrieben. Der Autor Heinz Müller ordnet diesen Hans Malecki, Otto Leuleck, Paul Schiller und sich selbst zu. Die vier Antifaschisten waren Arbeiter und Teil der Widerstandsgruppe »Kampfgruppe Osthafen«, in der sich vor allem Mitglieder der KPD und SPD sowie Parteilose organisierten.

Müller schreibt, die Gruppe habe nach einer Möglichkeit gesucht, eine Aktion mit Ausstrahlungskraft durchzuführen. Diese sollte sowohl andere Antifaschist*innen motivieren, als auch die Nazis empfindlich treffen und für Unsicherheit und Verwirrung sorgen. Der Plan war, »das faschistische Objekt am schwarzen Grund« in Dahlem zu sprengen. Zu diesem Zweck wollte die Gruppe versuchen, den Wagen eines »Nazibonzen«, wie es im Buch heißt, zu erbeuten. Wie auch bei anderen Aktionen der Gruppe entschloss man sich, in Wehrmachtsuniformen zu agieren.

Nach der Kontrolle mehrerer Wagen kam schließlich das Auto mit den SS-Leuten angefahren. Müller soll dann das Feuer auf den Fahrer und die anderen Männer eröffnet haben. Den Wagen wie geplant zu erbeuten, scheiterte daran, dass ein anderer Pkw mit mehreren Offizieren anhielt und die Gruppe die Flucht durch das Waldgelände antreten muss. Da es zu gefährlich gewesen sei, nach dem Anschlag die S-Bahn zu benutzen, hätten sich die Antifaschisten zunächst per Omnibus und im Anschluss per U-Bahn zur Frankfurter Allee begeben. Von dort aus sollen sie sich in die Simon-Dach-Straße 32 zurückgezogen haben, um über das Erlebte zu sprechen.

Ob die »Aktion Avus« sich so zugetragen hat, wie Müller es in seinem Buch beschreibt, bleibt offen. »Kampftage in Berlin« ist ein Roman. Nicht selten neigen Schriften über Widerstandskämpfer, die in der DDR verfasst wurden, zu einer Legenden-, Mythen- und Märtyrerbildung. Dass die »Kampfgruppe Osthafen« aber existierte und Widerstand leistete, steht außer Frage. Davon zeugen nicht nur die historisch detaillierten Beschreibungen in dem Werk Müllers, sondern auch Sekundärquellen in anderen Büchern.

Doch »Kampftage in Berlin« war beim ZDF nicht Teil der Recherche. Auf eine nd-Anfrage antwortet »Terra X«-Redakteur Peter Hartl: »Die Darstellung in dem genannten Buch war uns bei der Arbeit zum Film nicht bekannt.« Die Recherchen hätten sich auf historische Akten und die damaligen Ermittlungen gestützt.

Die »Kampfgruppe Osthafen« leistete in den letzten Tagen kurz vor der Befreiung Beeindruckendes: So sollen Teile der Gruppe auf einem S-Bahn-Gelände unweit des Rudolfplatzes ein Munitionsdepot der Wehrmacht gesprengt haben. Außerdem sollen sie die Zerstörung von Lebensmittelmagazinen am Osthafen verhindert haben. Im Rahmen des sogenannten »Nero-Befehls« zerstörten die Nazis kurz vor der Befreiung großflächig Infrastruktur. Diese hätte ansonsten für den Gegner von Nutzen sein können. Auf der Stralauer Allee soll die Gruppe Wehrmachtssoldaten zum Desertieren überredet haben.

Aber nicht alle Aktionen der Gruppe verliefen reibungslos. »Genosse Schiller lag leblos auf der Couch. Wir fühlten seinen Puls und bemühten uns, seinen Herzschlag zu hören. Vergeblich. … In diesen Minuten verspürte ich die Schwere der Verantwortung, die auf uns lastete, besonders deutlich. Ich blickte in die Gesichter der beiden Genossen und dachte: Zwölf Jahre haben sie in Not und Gefahr ihrer Partei die Treue in dem Bewusstsein gehalten, dass der Tag der Befreiung kommen wird. Wie viel Hoffnung haben die Genossen darauf gesetzt, an diesem Tag mit dabei sein zu können«, beschreibt Müller den Tod Paul Schillers. Er starb am 23. April 1945 in einem Zigarrenladen: Er wurde bei Kampfhandlungen mit den Nazis tödlich verletzt.

»Insbesondere Berichte über militanten Widerstand gegen das Naziregime sind extrem selten.« Timo Steinke
Wem gehört der Laskerkiez?

Bis vor einigen Jahren waren die Widerstandsgruppe und der Name Schillers der Öffentlichkeit so gut wie nicht bekannt. Erst durch die Stadtteilgruppen »Wir bleiben alle Friedrichshain« und »Wem gehört der Laskerkiez?«, die im Rahmen eines Stolpersteinrundgangs auf den Stein von Paul Schiller aufmerksam wurden, begannen lokale Antifaschist*innen sich mehr mit den Hintergründen zu beschäftigen.

Auch dieses Jahr werden die Stadtteilinitiativen an Schiller erinnern. »Gerne hätten wir mehr Belege und Quellen zu den Aktionen der Gruppe, die sich aber eigentlich nur durch Archive und tiefergehende Recherchen organisieren lassen«, erzählt Timo Steinke von der Nachbarschaftsinitiative »Wem gehört der Laskerkiez?« im Gespräch mit »nd«. »Insbesondere Berichte über militanten Widerstand gegen das Naziregime sind extrem selten, und gerade die Vielzahl an Aktionen, die der Gruppe zugeordnet werden, sind für uns eine Motivation, Jahr für Jahr an unsere ehemaligen Nachbar*innen zu erinnern.«

Auf lange Sicht wolle man sich einerseits für mehr Nachforschungen einsetzen und andererseits im Bezirk anregen, den Widerstand der »Kampfgruppe Osthafen« durch eine Gedenktafel zu ehren. Das Gedenken an Paul Schiller am 23. April um 18 Uhr am Rudolfplatz ist ein Schritt in diese Richtung.

Gedenktermin:
Mittwoch | 23. April 2025|  18.00 Uhr | Rudolfplatz, 10245 Berlin-Friedrichshain Gedenken an Paul Schiller

Erstveröffentlicht im nd am 23.4.2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190713.antifaschismus-berlin-die-vergessene-aktion-avus.html?sstr=Paul|schiller

Wir danken für das Publikationsrecht.

Stolperstein für Anarchosyndikalisten Walter Schwalba verlegt

Mit Walter Schwalba wurde am Freitag an einen Antifaschisten erinnert, der lange Jahre aktiv in der anarchosyndikalistischen Bewegung war

Von Peter Nowak

Bilder: Jochen Gester

Etwa 40 Menschen versammelten sich am Freitag vor dem Eingang der Bänschstraße 30 im Berliner Ortsteil Friedrichshain, darunter Schüler*innen eines Gymnasiums in der Nachbarschaft. Anlass war die Verlegung eines Stolpersteins für den Antifaschisten Walter Schwalba, der einst hier wohnte.

Zwei Fahnen, die während der Gedenkveranstaltung vor dem Hauseingang hingen, passten dazu, dass der Geehrte in seinem Leben in sehr unterschiedlichen Organisationen der politischen Linken aktiv war: Neben der Fahne der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) hing dort auch das schwarz-rote Banner der anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaft Freie Arbeiter*innen-Union (FAU).


Jochen Gester von der Berliner VVN-BdA ging in seiner Rede auf die Biografie von Schwalba ein, die das erklärt. Der 1896 in Kreuzberg in eine Arbeiter*innenfamilie geborene Mann politisierte sich im Ersten Weltkrieg. Weil er genug vom Morden hatte, desertierte er in der Endphase des Kriegs und lebte illegal bei seiner Schwester in Berlin. Er wurde Mitglied des Spartakusbundes und der frisch gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Doch die verließ er bereits 1920 wieder und schloss sich der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) an. Heute gibt es keine schriftlichen Zeugnisse, die über die Gründe dieser Umorientierung Aufschluss geben.8

Doch Gester benannte in seiner Rede einige Anhaltspunkte. »Im März 1920 gelang es Schwalba, Arbeit in seinem erlernten Beruf als Klaviermacher zu finden. Im neuen Betrieb waren die Libertären der FAUD stark vertreten. Ihre Arbeitsweise imponierte ihm offensichtlich und führte zu einer langjährigen politischen Bindung an diese Strömung der Arbeiterbewegung.«

Schwalba war nicht nur bis zu ihrer Selbstauflösung angesichts des Naziterrors 1933 führendes Mitglied der FAUD. Ab dem Frühjahr 1934 beteiligte er sich in der Illegalität am antifaschistischen Widerstandskampf der Anarchosyndikalist*innen. Walter Schwalba übernahm die Leitung der Berliner Widerstandsgruppe. Unter dem Tarnnamen »Esst deutsche Früchte und bleibt gesund« publizierten die Illegalen eine Broschüre, die zum gewaltsamen Sturz des Naziregimes aufrief.

„Im neuen Betrieb waren die Libertären der FAUD stark vertreten. Ihre Arbeitsweise imponierte ihm offensichtlich und führte zu einer langjährigen politischen Bindung an diese Strömung der Arbeiterbewegung.“ Jochen Gester Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Hansi Oostinga, der für die FAU Berlin das Wort ergriff und über das Leben von Schwalba recherchiert hat, erinnerte an jüngere Forschungsergebnisse zur Widerstandsarbeit von Anarchosyndikalist*innen. Mindestens 600 von ihnen waren aktiv im Widerstand, darunter auch Schwalba. Er wurde 1937 mit anderen FAUD-Mitgliedern verhaftet und zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Im Anschluss wurde er ins KZ Sachsenhausen deportiert und 1945 von der Roten Armee befreit.

Schwalba trat der KPD bei, die sich 1946 mit der SPD zur SED vereinigte. Er arbeitete bei der Volkspolizei und erhielt mehrere Auszeichnungen. Er starb 1984. Sein Engagement in der FAUD erklärte Schwalba später als Irrweg, den er beschritten habe, weil er damals zu wenig marxistisches Lehrmaterial gehabt habe.

»Ob dies nun eine Entscheidung war, die er traf, weil ihm klar war, dass es dafür keine lebbaren Alternativen in der DDR gab, oder ob er sich von seinen Freiheitsräumen wirklich verabschiedet hatte, bleibt wohl unbeantwortet«, sagte Gester. Auch die anwesenden FAU-Mitglieder erklärten, dass es natürlich kritische Diskussionen bei ihnen gab, dass ein ehemaliger Anarchosyndikalist später bei der Volkspolizei arbeitete. Doch man gedenke Schwalba als eines aktiven Nazigegners und Deserteurs im Ersten Weltkrieg.

Am Schluss der Veranstaltung kündigte Timo Steinke von der Initiative »Wem gehört der Laskerkiez?« eine Gedenkveranstaltung für Paul Schiller am 23. April um 18 Uhr am Rudolfplatz an. Mit Schiller soll dort an einen Antifaschisten erinnert werden, der als Teil der wenig bekannten Kampfgruppe Osthafen wenige Wochen vor der Befreiung vom Faschismus Soldaten zum Desertieren aufforderte und SS-Männer entwaffnete. Er wurde am 23. April 1945 erschossen.

Erstveröffentlicht im nd v. 7.4. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190406.antifaschismus-stolperstein-fuer-anarchosyndikalisten-walter-schwalba-verlegt.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

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