Die Attacke von VW und ihre Hintergründe

Die Ereignisse bei VW haben für die arbeitenden Menschen in Deutschland Signalwirkung. Sie sind ein Anschlag auf die Lebensstandards der unmittelbar Betroffenen des Konzerns. Aber auch ein Drohpotential für alle Beschäftigen im Metallbereich und darüber hinaus auf die gesamte arbeitende Klasse. Zum Auftakt der Tarifrunde vonseiten des Kapitals perfekt getimt. Die Kapitalseite versucht unsere Köpfe zu vernebeln, zu spalten und falsche Spuren zu legen, was die Ursachen des Konflikts betrifft. Umso wichtiger ist, dass wir dem unserere eigenen Analysen und Perspektiven entgegenstellen. Und Handlungsspielräume zur Gegenwehr aufzeigen. Hier ein weiterer wichtiger Gastbeitrag zum Linken Diskurs über VW. (Peter Vlatten)

Mattis Molde, Infomail 1263, 6. September 2024

VW kündigt Massenentlassungen und Werksschließungen an. Der Konzernvorstand hält drastische Einschnitte für notwendig und der Vorstand des Markenbereichs VW hat gedroht, die bis 2029 geltende Beschäftigungssicherung aufzukündigen. Das ist ein Schlag gegen die Arbeiter:innenklasse, ihren bestorganisierten und -bezahlten Teil.

Ausserdem zum Diskurs VW aktuell: "Kampfansage des Kapitals"

Eine genaue Zahl steht noch nicht im Raum, aber es geht wohl um mehr als 10.000 Stellen, alles andere wäre auch mit Abfindungen etc. regelbar. Werksschließungen drohen, ganze Städte und Regionen in den Ruin zu treiben. Die Aufkündigung der Beschäftigungssicherung stellt die gesamten bisherigen Gepflogenheiten des Umgangs zwischen Unternehmen und Arbeiter:innen in dieser lange als privilegiert geltenden Branche in Frage. All das hat mit der Besonderheit der Autoindustrie zu tun und spezieller noch mit VW.

Autokonzerne

Personalabbau ist überall in der Industrie ein Thema, Sparprogramme sind es auch. Es gibt in Deutschland eine Wirtschaftskrise, die besonders die Industrie betrifft und noch spezieller die Autoindustrie. Neu ist, dass über Entlassungen und Werksschließungen bei einem der großen drei deutschen Endhersteller, VW, BMW, Daimler, geredet wird, die schon lange nicht mehr von Entlassungen betroffen waren. Bei VW in Deutschland gab es noch nie welche. Bei Werken von ausländischen Konzernen wie Ford oder Opel ist das anders und erst recht bei den Autozulieferunternehmen. Auch die großen deutschen Konzerne letzterer, die zugleich alle globale Bedeutung haben, Bosch, Continental und Mahle, machen seit der Coronakrise verschärft Werke dicht und schrecken nicht vor Massenentlassungen zurück. ZF hat diese lange vermieden, aber vor kurzem auch den Abbau von 14.000 Arbeitsplätzen angekündigt.

Dass die Großen Drei bislang ausgenommen waren, hat drei Gründe:

  • Sie haben als riesige Monopole genug Profite, um Personalabbau mit Abfindungen und Altersteilzeit zu gestalten. Im Frühjahr wurden die letzten Zahlen des VW-Konzerns bekannt: Wer weniger als fünf Jahre in der niedrigsten Tarifgruppe tätig war, kann laut SPIEGEL nach einer internen Tabelle mit einer Abfindung von 17.700 Euro rechnen. Bei einer Betriebszugehörigkeit von mehr als 20 Jahren erhöht sich die Zahlung für Beschäftigte derselben Gruppe auf 117.700 Euro. Beschäftigte der sogenannten „Tarif Plus“-Gruppe, der höchsten Stufe bei Volkswagen, würden zwischen 60.700 und 404.700 Euro erhalten. Das Angebot galt für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich zwischen 29. April und 31. Mai für das Programm meldeten. Wer sich innerhalb von zwei Wochen mit VW auf einen Aufhebungsvertrag geeinigt hat und mehr als 5 Jahre im Unternehmen arbeitet, erhält zudem eine sogenannte Turboprämie von 50.000 Euro. [1]https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/vw-sparprogramm-volkswagen-zahlt-bis-zu-450000-euro-abfindung/ar-AA1nvMe9?ocid=feedsansarticle
  • Sie haben für den deutschen Imperialismus nicht nur wirtschaftliche Bedeutung, sondern auch politisch-strategische. Der Automobilbau wurde nach dem 2. Weltkrieg als Beschäftigungsmotor in Westdeutschland forciert und gilt seither als Säule der auf Export orientierten Wirtschaft, da die Autoindustrie eine zentrale Rolle für die Position Deutschlands auf dem Weltmarkt und in der Kette der führenden imperialistischen Staaten spielt. Profite aus Autos – aber auch aus den Branchen Maschinenbau, Chemie oder Rüstung – sichern nicht nur „unsern Wohlstand“, sondern auch die politische Dominanz in Europa. Hohe Exportüberschüsse bringen Verschuldung. Schuldner:innen sind erpressbar. Wir erinnern an Griechenland.
  • In den Autokonzernen ist die Sozialpartner:innenschaft sowohl der Betriebsräte als auch der IG Metall aufs Höchste entwickelt. Das belegen unter anderem die langfristigen Verträge zur Beschäftigungssicherung, die entweder als Betriebsvereinbarung (Betriebsrat und Geschäftsführung) oder als Tarifverträge (Einbeziehung der IG Metall) abgeschlossen werden. In ihnen werden Zugeständnisse seitens der Betriebsräte wie Zustimmung zu begrenztem „sozialverträglichen“ Personalabbau, Ausgliederungen von bestimmten Bereichen, die langfristig in Niedriglohnsektoren überführt werden, begrenzter Lohnverzicht gegen eine Beschäftigungsgarantie, also den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen vereinbart.
Sozialpartner:innenschaft und Geklüngel ohne Ende

VW nahm insofern eine Sonderstellung ein, weil sich anfangs der Bund am Aufbau beteiligte. VW war von den Nazis gegründet worden, um sowohl ein Massenauto – den Käfer – herzustellen als auch Militärfahrzeuge auf hohem industriellen Niveau zu fertigen. Dazu verwendeten die Nazis die beschlagnahmten Gewerkschaftsvermögen, was dann nach dem Krieg den Gewerkschaften und Betriebsräten zusätzliche Rechte verschaffte. So darf kein Werk im Inland ohne Zustimmung der Arbeit„nehmer“vertreter:innen im Aufsichtsrat geschlossen werden. (Inland heißt übrigens bei VW nach wie vor Westdeutschland; die ostdeutschen Werke unterliegen auch nicht dem Haustarifvertrag des VW-Konzerns).

Eine besondere Stellung von VW gegenüber den anderen Autokonzernen besteht auch in der Staatsnähe: 1960 wurde VW zwar privatisiert und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, aber das Land Niedersachsen hält immerhin noch 20 % Anteile. Diese besondere Stellung bezieht sich auf die Marke VW. Neben dieser gibt es im VW-Konzern, der VW-AG, noch weitere Markenbereiche wie Audi, Skoda, Porsche oder die Nutzfahrzeuge.

Diese Sozialpartner:innenschaft zeigt sich auch darin, dass seit Monaten die Betriebsratsspitze über immer neue Sparprogramme verhandelt und diese Gespräche hinter dem Rücken der Belegschaft erst angesichts der Aufkündigung der Beschäftigungssicherung bis 2029 eingestellt hat.

Ein anderer Aspekt der besonders engen Kollaboration der Betriebsräte und der IG Metall im VW-Konzern sind die unglaublich hohen Gehälter, die die Spitzenbetriebsräte erhalten. Spektakuläre Spitze dürfte sein, dass der frühere VW-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Osterloh von VW – durch Boni – bis zu 750.000 Euro in einem Jahr erhalten hat (Die Zeit, Mai 2017). Er erweist sich als würdiger Nachfolger von Klaus Volkert, der nicht nur ähnlich viel Geld kassierte, sondern auch Urlaubsflüge und eine Edelprostituierte vom VW-Vorstand bezahlt bekam. Der damalige Personalvorstand, also derjenige, der diese Zahlungen gewährte, war Herr Hartz – ein- und derselbe, nach welchem die Sozialabbaugesetze der Agenda 2010 benannt sind.

Der Clash

Das VW-Management hatte diesen Schritt vorbereitet. So titelte der NDR am 27.11.2023:  „Volkswagen stimmt Belegschaft auf Stellenabbau ein“. Im April 2024 wurden die Abfindungsangebote erhöht, wie wir oben beschrieben haben. Im Juni 2024 gab es Meldungen, dass der „freiwillige“ Abbau nicht reichen würde.

Warum war dieser Angriff in den Augen des Managements nötig? Die Begründungen der Manager:innen für das verschärfte „Sparprogramm“ lautet, dass so das Kapital für die Entwicklung neuer Autos beschafft werden soll. Die Zahlen weisen aber auf etwas anderes hin: Der Gesamtkonzern, also die VW-AG, ist keineswegs pleite. Im Jahr 2023 wurde ein operativer Gewinn von 22,5 Milliarden Euro erzielt, die Marke VW trug  dazu 3,5 Milliarden bei. Was Wirtschaftsfachleute, die Gewerkschaft, der Betriebsrat und die Bosse nicht in Frage stellen, sind die 16 Milliarden, die 2023 an die Aktionär:innen ausgeschüttet worden sind.

Belegschaft und die Betriebsräte erhöht, um immer neue Zugeständnisse zu erreichen? Fest steht, dass jetzt ein Bruchpunkt erreicht worden ist. Die Kapitalseite will mehr, als der Betriebsrat hergeben kann, ohne sein Gesicht zu verlieren. Die Belegschaft kann sich nicht mehr darauf ausruhen, dass Betriebsrat, IG Metall und Unternehmen das „Beste für alle“ vereinbaren, was schon lange immer mehr zulasten der Belegschaften der Zuliefer:innen, der Werksverträgler:innen, der Leiharbeiter.innen und der ausländischen Belegschaften ging.

Zur Belegschaftsversammlung in Wolfsburg erschienen 25.000, 10.000 mussten vor der Halle warten. Mit Sicherheit ist das weit mehr als die übliche Beteiligung an Betriebsversammlungen. Plakate, Fahnen und Pfeifen waren nicht zu überhören und -sehen. Ganz offensichtlich haben viele Beschäftigte verstanden, was dieser Angriff bedeutet. Für die Werke in Braunschweig, Hannover, Kassel und Sachsen, dort also Zwickau, Chemnitz und Dresden, sind eher noch stärkere Reaktionen zu erwarten.

Was jetzt?

Was auf der Betriebsversammlung in Wolfsburg klar wurde: Der Betriebsrat und die IG Metall haben keine andere Strategie für die Situation als die Fortsetzung ihrer Partner:innenschaft mit den Bossen.

Auf der Pressekonferenz am 4.9. nach dem Briefing durch das Konzernmanagement, die bezeichnenderweise mitten im Autolärm auf dem Werksgelände stattfand, äußerten sich die VW-Betriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo und der IG-Metall-Bezirksleiter Thorsten Gröger. Beide beeilten sich, ihre Gesprächsbereitschaft zu betonen und möglichst schnell mit dem Unternehmensvorstand in Verhandlungen einzutreten. Sie befürchten, dass die angedrohte Kündigung der Tarifverträge ihnen den Spielraum für Verhandlungen einengen würde, da sie ja Rücksicht auf die „Friedenspflicht“ nehmen müssten. Bürokrat:innenlogik!

Sie wiesen auf die machtvolle Kundgebung der Betriebsangehörigen hin, die ihre Kampfbereitschaft bekundet haben. Die beiden Sprecher:innen wichen aber ängstlich jeder näheren Ausführung über eine Mobilisierung der Belegschaften aus.

Auch der anwesende Bundesarbeitsminister Heil erklärte, dass nun die „Stunde der Betriebs-und Sozialpartnerschaft“ geschlagen habe und den Kontroversen die Schärfe nehmen müsse, denn es gehe um mehr als nur VW: „Deutschland muss Autoland bleiben.“

IG-Metall-Führung, Betriebsratsspitze, SPD, sie alle wollen also den alten Weg fortsetzen, den die Konzernspitze aufgekündigt hat. Sie wollen sein Scheitern nicht wahrhaben. Sie betteln im Grunde darum, zu Verhandlungen zurückzukehren, die ja immer nur zu weiteren Opfern, Arbeitsplatzverlusten, Auslagerungen etc. geführt haben.

Dass der Klassenverrat schon vorprogrammiert ist, zeigt die Reaktion der IG-Metall-Spitze. Erste Vorsitzende Christiane Benner ließ am Rande einer tarifpolitischen Konferenz in Hannover durchblicken, welche Verhandlungslösung sich die Gewerkschaftsbürokratie vorstellt. Eine Vier-Tage-Woche wie schon bei der VW-Krise 1994 könne die Option sein. Mit der Arbeitszeitverkürzung sollten die Standorte gerettet werden. Verschwiegen wurde dabei, dass dies um den teuren Preis von drastischen finanziellen Einbußen für die Werksangehörigen erkauft worden war und diese als Vorleistung der Arbeiter:innen auch heute vorausgesetzt werden würden.

Wie kämpfen?

Alle, die den richtigen Schluss aus dem Angriff des Konzerns ziehen und kämpfen wollen, müssen auch aus dem Verhalten von Betriebsratsspitze und IGM-Führung die richtigen Schlüsse ziehen:

Sie werden alle Aktionen immer nur dazu nutzen, um die Bosse wieder an den Verhandlungstisch zu bringen. „Verhandlungsbegleitende Aktionen“ nennen sie das. Dann rennen wir wieder in die Sackgasse, in die sie uns heute schon geführt haben.

Das heißt erstens, dass die Belegschaft die Kontrolle über den Kampf bekommen muss. Es braucht Aktionskomitees, die von ihr direkt gewählt werden. Natürlich können und sollen das auch Betriebsratsmitglieder und Vertrauensleute sein, aber die sollen nach ihrer Fähigkeit gewählt werden, Aktionen bis hin zum Streik zu organisieren. Die Beschäftigten, vor allem die IG-Metall-Mitglieder müssen auch lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen: Nicht einfach die üblichen Verdächtigen bei Wahlen abhaken, sondern diese auch kontrollieren und gegebenenfalls abwählen! Sonst werden wir erleben, dass nach paar Aktionen, die mit kraftvollen Drohungen enden, plötzlich nichts mehr passiert, weil die Herren und Damen Verhandler:innen was ausgedealt haben. Zweitens müssen alle Verhandlungen öffentlich sein und über Vorschläge müssen alle Beschäftigten abstimmen können.

Für was kämpfen?

Es ist klar, dass das Dogma durchbrochen werden muss, dass die Aktionär:innen eine fette Dividende brauchen und die Belegschaften dazu noch die Profite für Entwicklung und Erneuerung der Produktion erwirtschaften sollen oder mit Arbeitsplatzverlust oder mehr Arbeitsdruck bezahlen.

Also: Kein Opfer für die Aktionär:innen! Das verbindet sich gut mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung als Ausgleich für den Auftragsrückgang. Natürlich bei vollem Monatslohn, genau das können die gigantischen Gewinne finanzieren, statt in die Taschen derer zu wandern, die gar nicht für das Geld arbeiten.

Das löst aber noch nicht das Problem, was in den Werken denn zukünftig produziert werden soll. Die BR-Vorsitzende Cavallo beschuldigt das Management, die Fehler verursacht zu haben, die zu dieser Situation geführt haben. Außenstehende erklären entweder, dass VW den Zug zur E-Mobilität verschlafen habe, oder raten zur Rückkehr zum Verbrenner. Diese Diskussion lässt zweierlei außer Acht:

  • VW will weiter Autos bauen, aber weniger. Überkapazitäten werden in Deutschland, nicht bei den internationalen Töchtern gestrichen. Jetzt zu fordern, diese im Ausland oder in den ostdeutschen Werken zu sreichen, wäre ein fataler Fehler, der schon oft in diesen Konzernen begangen wurde. Die Belegschaft von Ford Saarlouis hat sich z. B. auf einen Konkurrenzkampf mit Ford Valencia eingelassen, in dem beide sich gegenseitig unterboten haben, statt gemeinsam die Kraft für eine Zukunft einzusetzen. Das Management hat sich gefreut. Saarlouis wird Stand heute dichtgemacht.
  • Ob Verbrenner oder E-Antrieb, die in Deutschland gebauten Autos sind generell alle größer und schwerer als nötig. Sie sind Hindernisse auf dem Weg zur Verkehrswende. Diese allerdings wird auch nicht dadurch kommen, dass jetzt ein VW-Werk schließt, während man z. B. neuen Wald in Brandenburg abholzt, um Teslas zu bauen, die ebensolche Klimakiller sind.

Der Kampf bei VW kann aber die Chance eröffnen, die Beschäftigung zu sichern durch den Bau von Fahrzeugen und Transportsystemen, die klimaschonend und zukunftstauglich sind: Schienenfahrzeuge im Nah- und Fernverkehr, kleine leichte Stadtfahrzeuge oder intelligente Lösungen für den Stadtrandbereich.

Dafür sollten in einem ersten Schritt alle Werke, die VW nicht mehr will, entschädigungslos enteignet werden und zusammen mit denen anderer Konzerne (z. B. Ford Saarlouis, Werke von ZF, Bosch, Continental, Mahle, GKN …) die Entwicklung und Produktion solcher Systeme beginnen, bezahlt vom Staat, kontrolliert von den Beschäftigten und Fachleuten aus der Klimabewegung.

Ausserdem zum Diskurs  VW aktuell: "Kampfansage des Kapitals" 

Die IG Metall muss also die Solidarität aller Automobilarbeiter:innen gegen diesen Angriff organisieren. Darüber hinaus ist eine Konferenz aller bedrohten Belegschaften nötig, um für eine Transformation/Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle zu kämpfen. Die IG Metall muss die Solidarität aller Autoarbeiter:innen organisieren – aber das wird nur dann im notwendigen Ausmaß geschehen, wenn Vertrauensleute und aktive Kolleg:innen dies in den Gewerkschaftsgliederungen und auf Betriebsversammlungen einfordern und selbst Kontakte zu anderen Belegschaften organisieren.

Der Beitrag ist ursprünglich erschienen am 6.September. Zum Originalartikel hier….

Wir danken für die Publikationrechte.

Titelbild : eigene Fotocollage

Moneten für Arbeitskämpfe

Payday, ein Solidaritätsfonds gegen Lohnraub, hat zwei erste Unterstützungsfälle angenommen

Nicht nur Peanuts: Nach den ersten Ausgaben fasst der Solidaritätsfonds von Payday noch 8000 Euro. dpa/Hendrik Schmidt

Wenn Arbeitgeber Lohn einbehalten, schüchtert das Beschäftigte ein. Der Soli­daritätsfonds Payday steuert dagegen und gleicht gewerkschaftsaktiven Kolleg*innen die Lohndifferenz aus.

Von Christian Lelek

Wer sich an seinem Arbeitsplatz organisiert, einen Betriebsrat gründen oder eine gewerkschaftliche Betriebsgruppe bekannt machen will, wird vom Chef selten dafür umarmt. Vielmehr verbreitet sich zunehmend eine Kultur und eine Expertise, erste Organisierungsversuche im Keim zu ersticken. Diese Kultur hat in den Betrieben den Effekt, dass Beschäftigte sich zweimal überlegen, ob sie es riskieren und tatsächlich auf der Arbeit aktiv werden wollen. Arbeitgeber und ihre Gehilfen greifen dabei auf einen dicken Methodenkatalog zurück.

Ein Mittel ist, den Beschäftigten, den Lohn teilweise oder in Gänze vorzuenthalten, sprich Lohnraub. Das ist natürlich illegal, wird aber dennoch genutzt, in der Erwartung, dass sich Beschäftigte nicht oder nicht erfolgreich wehren.

Um dem Lohnraub seine abschreckende Wirkung zu nehmen, gründete sich der Verein Payday. Payday richtete einen Fonds ein, der aktiven Beschäftigten die unrechtmäßig vorenthaltenen Löhne so lange ausgleicht, bis sie erfolgreich zurückerstritten wurden. Dann soll das Geld in den Fonds zurückfließen und für neue Kämpfe ausgegeben werden. Wie Payday mitteilt, sind für die ersten zwei Unterstützungsfälle nun Gelder geflossen.

In einem Fall wurde nicht ausbezahlter Lohn in Höhe von 2000 Euro ausgeglichen, »um der Person zu ermöglichen, den Lohn einzuklagen und gleichzeitig bei dem Arbeitgeber zu bleiben, ohne sich einen neuen Job suchen zu müssen«, wie Payday mitteilt. Es geht um ein Ersatzmitglied eines Betriebsrats, dessen für Betriebsratsarbeit genutzte Arbeitszeit nicht vollständig vergütet wurde. Die Person interpretierte dies als einen Angriff auf den Betriebsrat als solchen.

»Arbeitgeber enthalten den aktiven Beschäftigten, die sich für die Interessen anderer einsetzen, den Lohn vor, um sie auch wirtschaftlich zu zermürben.«Sebastian Riesner Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG)

»Da die Person, die wir unterstützen, vom Arbeitgeber stark unter Beschuss steht, können wir aktuell nicht mehr Details preisgeben«, sagt Ruth Kreuzer gegenüber »nd«. Kreuzer ist selbst Betriebsratsmitglied und hat Payday vor mehr als eineinhalb Jahren mitgegründet. Für diesen Fall sei aber ein Gerichtstermin anberaumt, und der Rechtsanwalt, der das Betriebsratsmitglied vertritt, zeige sich mit Blick auf den Ausgang zuversichtlich.

Payday gleicht lediglich die Lohndifferenz aus, etwaige Rechtskosten übernimmt der Verein nicht. »Bei finanziellen Engpässen weisen wir auf die Möglichkeit der Prozesskostenhilfe hin, streben aber im besten Fall eine Gewerkschaftsmitgliedschaft für die Betroffenen an, sodass die Gewerkschaften die Arbeitskonflikte als Härtefälle anerkennen und die Rechtskosten übernehmen«, sagt Kreuzer.

Sebastian Riesner, Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) in Berlin und Brandenburg, begrüßt die Initiative von Payday. »Leider machen wir als Gewerkschaft auch im Rahmen unserer Arbeit immer wieder die Erfahrung, dass Arbeitgeber den aktiven Beschäftigten, die sich für die Interessen anderer einsetzen, um zum Beispiel einen Betriebsrat zu gründen, Lohn vorenthalten, um sie auch wirtschaftlich zu zermürben«, sagt Riesner. Der lange Rechtsweg werde von »skrupellosen Arbeitgebern und ihren juristischen Helfern« ausgenutzt. Payday schließe hier eine Lücke, aus der sich, so Riesner, hoffentlich erfolgreiche Arbeitskämpfe ergeben.

Der zweite Unterstützungsfall betrifft einen ehemaligen Kurier des Pizza-Lieferdienstes Domino’s. Den Fall hatte »nd« bereits im Mai bekannt gemacht. Allerdings wurde dem Kurier, nachdem er auf Missstände im Betrieb aufmerksam gemacht hatte, nicht nur Geld in Höhe von 4000 Euro nicht gezahlt, sondern am Ende auch gekündigt. Auf die Arbeitsbedingungen bei Domino’s kann er also nicht mehr einwirken. Doch zumindest die Abwendung des Lohnraubs ist noch drin – ein Teilerfolg. Verhandelt wird darüber am 10. September um 11.45 Uhr vor dem Arbeitsgericht Berlin.

Erstveröffentlicht im nd v. 3.9. 2024
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184944.solidaritaetsfonds-gegen-lohnraub-payday-moneten-fuer-arbeitskaempfe.html?sstr=Moneten

Wir danken für das Publikationsrecht.

Hotspot Asphalt

Lieferdienst- und Kurierfahrer in Griechenland fordern Schutzmaßnahmen gegen die Hitze und ein Arbeitsverbot ab 38 Grad Celsius

Von Boris Kanzleitner

Nach der extremen Hitzewelle, die in diesem Sommer über Südosteuropa hereinbrach, waren die offiziellen Zahlen keine Überraschung: Der Juli 2024 war der heißeste Juli, seit in Griechenland Wetterdaten erhoben werden. Um 2,9 Grad Celsius wurden die Durchschnittstemperaturen der drei Jahrzehnte zwischen 1991 und 2020 übertroffen. In drei der vergangenen vier Jahre wurde im Juli neue Temperaturrekorde aufgestellt, berichtete Anfang August der Meteorologische Service der staatlichen Forschungseinrichtung National Observatory of Athens (NOA).

Die Daten bestätigen einmal mehr, was die Klimawissenschaft seit Jahren konstatiert. Bei Griechenland und der umliegenden Region handelt es sich um einen »Hotspot« der weltweiten Erderwärmung. Wissenschaftler*innen der Initiative for Coordinating Climate Change Action in the Eastern Mediterranean and Middle East, die von der zypriotischen Regierung gefördert wird, stellen in ihren Analysen und Modellrechnungen fest, dass die Erderwärmung rund um das östliche Mittelmeer fast doppelt so schnell verläuft wie im globalen Durchschnitt. Hitzeschutz in Deutschland

Deutschland wird bei fortschreitendem Klimawandel etwa für das Jahr 2050 mediterranes Klima vorausgesagt. Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten vor Hitze existieren, aber müssen den Umständen angepasst werden. So können Dachdecker seit 2020 bei zu großer Hitze oder Starkregen Ausfallgeld beantragen. Das Bundesarbeitsministerium erklärt »nd«, man beobachte die Auswirkungen des Klimawandels auf den Arbeitsmarkt kontinuierlich und sei bestrebt, den Schutz und die Gesundheit der Beschäftigten »durch gezielte Maßnahmen« zu gewährleisten. Auf die Frage, ob die Regierung plane, die Standards für Hitzeschutz am Arbeitsplatz an die Forderungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO anzupassen, ging das Ministerium nicht ein. »Aktuell werden Anpassungen hinsichtlich des Hitzeschutzes in den Technischen Regeln für Arbeitsstätten vorgenommen«, so ein Sprecher des BMAS. »Beschäftigte vor Hitze zu schützen, ist Verantwortung der Arbeitgeber«, gibt Annika Wörsdörfer vom DGB-Referat nationaler Arbeits- und Gesundheitsschutz zur Auskunft. »Deshalb schreibt der Arbeitsschutz vor, dass in den Betrieben Gefährdungsbeurteilungen gemacht werden und daraus passgenau Instrumente zum Schutz der Beschäftigten abgeleitet werden.« Im Report 2023 »Betriebliche Prävention« des DGB-Index Gute Arbeit ist jedoch zu lesen, dass es Unternehmer mit der betrieblichen Prävention häufig nicht so genau nehmen. So gaben nur 38 Prozent der für den Report Befragten an, dass innerhalb der vergangenen zwei Jahre eine Gefährdungsbeurteilung für ihren Arbeitsplatz erfolgt sei. Nicht alle Arbeitgeber setzten den Hitzeschutz um, bemängelt auch Wörsdörfer. »Deshalb braucht es mehr Kontrollen und mehr Personal in den Arbeitsschutzbehörden.« nd

Die Auswirkungen auf Mensch und Natur sind drastisch. Die Modelle gehen von einer Zunahme dauerhafter Hitzewellen sowie von Dürren, Staubstürmen, Starkregenereignissen und Überschwemmungen aus. Damit steigt die Gefahr weiterer verheerender Waldbrände sowie der Erosion und Verwüstung entwaldeter Landstriche. Es wird auch mit einer erheblichen »Übersterblichkeit« aufgrund von Herzkreislaufkrankheiten sowie anderen klimabezogenen Erkrankungen gerechnet. Nicht nur die Landwirtschaft, auch der Fischfang und andere wirtschaftliche Bereiche werden existenzgefährdend geschädigt. In einem Papier warnen die Wissenschaftler*innen auf der Grundlage der Auswertung des Forschungsstandes vor »potenziell disruptiven gesellschaftlichen Auswirkungen«.

Neue Arbeitskämpfe

Tatsächlich deutet sich in diesem Sommer erstmals an, dass mit der Erderhitzung auch soziale Konflikte zunehmen. Vor allem die Lieferdienst- und Kurierfahrer*innen protestieren. Ihre Basisgewerkschaft SVEOD – im Jahr 2007 gegründet im Kampf gegen prekarisierte Arbeitsbedingungen und neoliberale Strukturreformen – forderte das Arbeitsministerium im Juli auf, Maßnahmen zum Schutz der Rider zu ergreifen. Sie leiden besonders unter der Hitze, weil sie der Sonne direkt ausgesetzt sind und Schutzhelme tragen müssen. In einer Erklärung schreibt die Gewerkschaft: »Wir arbeiten ohne Pause wie Kamele in der Wüste. Aber wir sind keine Kamele, sondern verfügen über Vernunft und Verstand.«

Das Ministerium der konservativen Regierung unter Premierminister Kyriakos Mitsotakis von der Partei Neue Demokratie (ND) reagierte abwehrend. An lediglich drei besonders heißen Tagen vom 17. bis 19. Juli hatte es das Arbeiten außerhalb von Büro- und Geschäftsräumen verboten, nicht aber an den ebenfalls sehr heißen Tagen bis 23. Juli. Am 18. Juli waren 40 Grad Celsius gemessen worden, an den anderen Tagen 38 oder 39 Grad. Die Gewerkschaft reagierte entsprechend empört. Sie forderte ein generelles Arbeitsverbot bei Fortzahlung von Löhnen und Versicherungen, wenn die Temperaturen über 38 Grad Celsius steigen, sowie weitere Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen, etwa gekühlte Pausenräume und kostenloses kaltes Trinkwasser.

Allein in Griechenland sterben nach Schätzungen etwa 1500 Menschen jährlich aufgrund der Hitzebelastung durch Erwerbsarbeit.

Der Konflikt zwischen Ridern und Arbeitsministerium lässt erahnen, wie der Klimawandel in Zukunft die Arbeitswelt verändern und damit auch zu einer Herausforderung für Gewerkschaften werden wird. Dies bestätigt die Untersuchung von Andreas Flouris von der Universität Thessalien im zentralgriechischen Volos für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Flouris stellt fest, dass die globale Erwärmung vor allem die ohnehin verletzbarsten und am schlechtesten bezahlten Arbeiter*innen betrifft. Es handelt sich dabei weltweit um etwa 2,5 Milliarden Menschen, die in der Landwirtschaft, im Bausektor, im Tourismus, für Lieferdienste sowie bei der Müllentsorgung arbeiten. Diese Arbeiter*innen können ihre äußeren Arbeitsbedingungen kaum verändern. Sie können nicht in kühlere Räumlichkeiten wechseln oder zu einer kühleren Tageszeit arbeiten. Zugleich sind sie oft nicht durch funktionierende öffentliche Gesundheitssysteme geschützt und damit ohnehin besonders gefährdet.

Nach Erhebungen von Flouris ist Hitze bereits heute weltweit für Millionen von Arbeitsunfällen und Tausende von arbeitsbedingten Todesfällen verantwortlich. Allein in Griechenland sterben nach seinen Schätzungen etwa 1500 Menschen jährlich aufgrund der Hitzebelastung durch Erwerbsarbeit. Ein Problem bei der Erhebung von Daten ist allerdings, dass Todesfälle, die durch den Hitzestress auf der Arbeit verursacht sind, aber außerhalb der Arbeitszeit stattfinden, nicht als Arbeitsunfälle registriert werden.

Hurrikane im Mittelmeer

Aber nicht nur in der Arbeitswelt hat die Klimaerwärmung im Hotspot Östliches Mittelmeer weitreichende soziale Auswirkungen. Dies zeigen die Folgen des Wirbelsturms »Daniel«, der im September vergangenen Jahres über Griechenland, Bulgarien und die Türkei zog und schließlich in Libyen wieder auf Land traf. In Griechenland setzten Starkregenfälle die Region Thessalien – eine der Kornkammern des Landes – weitgehend unter Wasser. Fluten zerstörten Häuser, Infrastruktur sowie landwirtschaftliche Flächen und Viehbestände. Die Schäden werden auf etwa zwei Milliarden Euro beziffert. Noch schlimmer wütete der Sturm in Libyen. In dem durch einen Krieg zwischen rivalisierenden Machtstrukturen zerrissenen Land kamen nach Schätzungen um die 6000 Menschen in den Fluten um, die von Starkregen ausgelösten wurden und auch einen Damm brechen ließen. Die Schäden an der ohnehin maroden und lückenhaften Infrastruktur waren enorm.

»Daniel« wird als »Medicane« (Mediterranean Hurricane) bezeichnet. Es handelt sich dabei um Wirbelstürme, wie sie normalerweise in tropischen Regionen mit hohen Wassertemperaturen auftreten. »Daniel« war der bisher stärkste und tödlichste außertropische Wirbelsturm im Mittelmeerraum. Das Wetterphänomen der »Medicanes« wurde erst in den 80ern auf Satellitenbildern entdeckt. Es steht offenbar im Kontext der steigenden Temperaturen.

Regierung in der Verantwortung

Für die Politik in Griechenland waren die Klimaveränderungen bisher kein entscheidendes Thema. Die schweren ökonomischen, sozialen und politischen Verwerfungen infolge der Eurokrise ab 2009/2010 stehen für das Leben und den beschwerlichen Alltag der Bürger*innen weiterhin im Vordergrund. Ein erstes Klimagesetz, das die Regierung Mitsotakis im Mai 2022 erlassen hat, sieht lediglich die Umsetzung der globalen Klimaziele der Vereinten Nationen und der Politik der Europäischen Union vor. Schädliche Emissionen sollen schrittweise abgebaut und regenerative Energiequellen gefördert werden, damit das Land bis 2050 »klimaneutral« wird. Die laufenden Klimaveränderungen werden dadurch im besten Fall eingedämmt, in keinem Fall aber verhindert.

Auch die Strategien zum Umgang mit Klimafolgeschäden in der Stadtentwicklung, Landwirtschaft oder der Infrastrukturentwicklung sind nicht ausreichend. Denn um die absehbaren Folgen der Klimaveränderungen für die Menschen und auch für die Wirtschaft zu lindern, müssten im großen Maßstab Gebäude energetisch saniert, Flächen entsiegelt, Wälder aufgeforstet, Abwassersysteme ausgebaut und die landwirtschaftliche Produktion geschützt werden. Solche Maßnahmen sind unter den Bedingungen der drastischen Kürzung öffentlicher Ausgaben und der brutalen Umsetzung neoliberaler Strukturreformen, wie sie in Griechenland seit der Eurokrise herrschen, allerdings kaum denkbar, denn sie würden umfangreiche öffentliche Investitionen erfordern.

Entsprechend betont Giorgos Velegrakis, dass die Klimakrise eine »eminent politische Frage« sei, die bisher nicht genügend Raum im öffentlichen Diskurs einnehme. Der Wissenschaftler an der Athener Kapodistrias-Universität arbeitet derzeit im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung an einer Studie zu linken Strategien sozial-ökologischer Transformation in Griechenland. Umfragen zufolge mache eine Mehrheit der Bevölkerung die Regierung dafür verantwortlich, dass zu wenig gegen die Klimakrise und ihre Auswirkungen getan werde. Velegrakis erklärt, dass die notwendige Aufmerksamkeit für sozial-ökologische Fragen nicht aus einem »sozialen Konsens« heraus entstehen würde, sondern durch »Praktiken des Dissenses«. In diesem Sinne sind die Aktionen der Rider-Gewerkschaft in Athen vielleicht ein Beginn.

Boris Kanzleiter leitet das Auslandsbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Athen.

Erstveröffentlicht im nd v. 17.8.2024
https://nd.digital/editions/nd.DieWoche/2024-08-17/articles/14329136

Wir danken für das Publikationsrecht.

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