Politischer Missbrauch von Gedenkfeiern hat Hochkonjunktur – ein eklatanter Fall!

Der Missbrauch von Gedenkveranstaltungen – demnächst wieder anlässlich des Tags der Befreiung vom Nationalsozialismus – feiert in Deutschland Hochkonjunktur. Besonders dreist: neben der Instrumentalisierung des Gedenkprogramms werden große Teile der Opfer, deren Nachfolger oder offizielle Vertreter diffamiert oder sogar ausgeladen.

Ein oft gesehenes Transparent auf Demonstrationen in Berlin trifft ins Schwarze: „One Genocide does not justify another„. Die Instrumentalisierung des Holocaust zur Rechtfertigung neuer Verbrechen gegen Menschen- und Völkerrecht erreicht anlässlich der diesjährigen Holocaust Gedenkfeiern in Deutschland einen oftmals sarkastischen Höhepunkt. Selbst Nachkommen der Opfer und den Zionismus kritiserenden Jüd:innen wird dabei das Recht auf ungestörte Erinnerung, Mahnung und Trauer gestohlen.

Hier die Öffentliche Erklärung und Stellungnahme der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ zur Vereinnahmung einer solchen Gedenkveranstaltung in Niedersachsen – unterzeichnet von mehr als 20 „jüdischen“ Organisationen! (Peter Vlatten)

Politisch instrumentalisierte Gedenkfeier in Bergen-Belsen

Link zum Original mit englischer Version, 22. April 2025

Am 27. April veranstalten die Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten und der Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen eine Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen.

Überlebende und ihre Nachkommen werden daran teilnehmen, um die Erinnerung an die Gräueltaten wach zu halten. Viele haben erst später im Leben ihr Schweigen gebrochen und ihre Aussagen niedergeschrieben, um zu versuchen, ihre Erlebnisse in einer ganz anderen Welt zu verarbeiten. Auch wenn die persönlichen Gründe für ihre Teilnahme unterschiedlich sind, haben sie alle ein kollektives Trauma in sich getragen und geerbt, das durch Gedenkveranstaltungen wie diese zu heilen versucht werden muss.

Anfang April gaben die Organisator:innen schließlich ein detailliertes Programm bekannt, das Lord Vernon Coaker, Staatsminister im britischen Verteidigungsministerium, und Ron Prosor, Botschafter des Staates Israel in der Bundesrepublik Deutschland, als Redner vorsieht. (Update: Seitdem haben die Briten Coaker durch die Vize-Premierministerin Angela Rayner ersetzt.)

Die Anwesenheit dieser beiden Männer, die in offizieller Funktion sprechen, hat bei einer Holocaust-Gedenkfeier absolut nichts zu suchen.

Der Besuch des Ortes dieser dunklen Geschichte ist für die Überlebenden und ihre Nachkommen ein Schritt zur Aufarbeitung ihrer zerbrochenen Familiengeschichten. In erster Linie macht die Entscheidung der Organisator:innen, diese beiden Staatsvertreter einzuladen, die Gedenkveranstaltung zu einem politischen Instrument. Das ist eine Beleidigung für diese Familien, die in ihrer zerbrechlichsten Lage zusammenkommen werden.

Die Veranstaltung wird offenbar auch mit einer Wiedergabe von „Hatikva“, der israelischen Nationalhymne, abgeschlossen, was eine zionistische Einbettung verspricht. Die Organisator:innen scheinen zu erwarten, dass die jüdischen Teilnehmenden den Status Israels als Vertreter des jüdischen Volkes und der Überlebenden der Gräueltaten umstandslos anerkennen. Dies ist eine überraschende Annahme, die jüdische Personen als vereinten politischen Block betrachtet und nicht als Individuen mit der gleichen Komplexität und den gleichen Rechten wie andere Bürgerinnen und Bürger, die in vielen Ländern leben und unterschiedliche Ansichten über ihre Beziehung oder Nicht-Beziehung zu Israel haben. Alle Teilnehmenden sollten den Raum haben, auf eigene Weise zu trauern und zu gedenken. Indem die Organisator:innen den Teilnehmenden diese Redner aufzwingen, provozieren sie stattdessen schmerzhafte Assoziationen und erheben die Stimme eines Vertreters eines Staates, der derzeit genozidale Gewalt ausübt.

Abgesehen von dem persönlichen Affront, der darin besteht, dass die Zeremonie auf zynische Weise in ein Instrument der Staatskunst verwandelt wird, gibt es folgende Gründe, warum es unangemessen ist, den oben genannten Rednern eine Plattform zu bieten:

Anschuldigungen gegen Israel wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Am 26. Januar 2024 stellte der Internationale Gerichtshof fest, dass „eine reale und unmittelbare Gefahr besteht, dass die Rechte der Palästinenser in Gaza, die durch die Völkermordkonvention geschützt sind, irreparabel beeinträchtigt werden“. Er stützte sich dabei auf die Art des israelischen Verhaltens bis zu diesem Zeitpunkt und auf Erklärungen israelischer Beamter. Der IGH hat in dem von Südafrika gegen Israel angestrengten Verfahren wegen angeblicher Verstöße gegen die Völkermordkonvention im Gazastreifen bereits dreimal Eilanträge gestellt.

Der Internationale Strafgerichtshof hat einen Haftbefehl gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen des Kriegsverbrechens des Aushungerns als Methode der Kriegsführung und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Mord, Verfolgung und anderen unmenschlichen Handlungen während des Gaza-Krieges erlassen.

Die Beteiligung eines offiziellen Vertreters der israelischen Regierung angesichts der schwerwiegenden Vorwürfe gegen sie ist an und für sich schon eine Verhöhnung des Zwecks des Gedenkens und der Trauer um die Opfer des Völkermordes.

Der Holocaust-Revisionismus israelischer Beamter und die Allianz mit der europäischen extremen Rechten

Israel ist seit Jahren ein Bündnis mit der europäischen extremen Rechten eingegangen, um seine diplomatischen und geopolitischen Ziele zu fördern. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat wiederholt den Holocaust-Revisionismus legitimiert, um im Gegenzug herzliche Beziehungen zu Staatsoberhäuptern wie Ungarns Viktor Orban zu pflegen, die mit der israelischen Regierung eine fremdenfeindliche und rassistische Politik u. a. gegenüber Arabern und Muslimen teilen.

Das jüngste Beispiel dieser für beide Seiten vorteilhaften Beziehung zeigte sich bei Netanjahus jüngstem Staatsbesuch in Ungarn, wo er für Fotos mit Orban posierte und feierte, wie die jüdische und die ungarische „Geschichten sich treffen und die große Allianz beginnen, die sich nun entwickelt hat“.

In derselben Rede lobte der israelische Premierminister Ungarns „prinzipientreue Haltung“ zum Internationalen Strafgerichtshof, aus dem Ungarn ankündigte, es werde ihn verlassen – eine eklatante Gegenleistung für Israels Entscheidung, Ländern wie Ungarn zu erlauben, ihre Verantwortung für die Auslöschung jüdischen Lebens in Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs herunterzuspielen.

Ron Prosors Verleumdung von Gegnern, einschließlich Nachkommen von Überlebenden

Als wären die obigen Ausführungen nicht schon Grund genug, Vertreter:innen des Staates Israel keine Plattform zu bieten, verweisen wir auf das beschämende Verhalten von Herrn Prosor im täglichen deutschen Kontext.

Als israelischer Botschafter in Deutschland ist Prosor für eine ständig wachsende Litanei abscheulicher Äußerungen über Araber, Palästinenser und Juden, die anders denken als er, verantwortlich. Prosor übt einen beträchtlichen Einfluss auf eine deutsche Regierung und Institutionen aus, die in allen jüdischen Angelegenheiten bereits auf eine sklavische Ehrerbietung gegenüber Israel eingestellt sind.

Prosor, der in der israelischen Botschaft in Berlin das Sagen hat, hat kürzlich aktiv dazu beigetragen, dass der israelische Philosoph und Enkel von Holocaust-Überlebenden, Omri Böhm, von seiner Rede zum 80. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora ausgeladen wurde.

Seine Botschaftverglich daraufhin die Einladung Boehms mit „einer Einladung an Bashar al-Assad, einen Vortrag über Menschenrechte zu halten“. Die Rede, die Böhm gehalten hätte, kann hier nachgelesen werden. Wir heben nur einen kurzen Auszug hervor:

Eine Welt, in der eine Wiederholung von Buchenwald überall möglich ist, ist eine Welt, in der sie überall möglich ist, auch gegen Juden.


Diese Hetzkampagne gegen einen Juden, der die universellen Lehren für die Menschheit aus dem Holocaust hervorhebt, ist zu einem vorhersehbaren Merkmal der offiziellen israelischen Reaktionen auf Kritik geworden, ganz gleich aus welcher Richtung. Deutsche Behörden und Institutionen sind in vielen Fällen diesem Beispiel gefolgt und haben die Taktik der Bösgläubigkeit nachgeahmt, indem sie Israel und das Judentum sowie Israelkritik und Antisemitismus in einen Topf geworfen haben. Damit verharmlosen sie das Verständnis der Öffentlichkeit für Antisemitismus und entwerten die Bedeutung des Holocausts.

Im Gegenteil, die Geschichte zeigt dass jedes Zeitalter das Potential zum Faschismus in sich trägt. Auf jedem Kontinent, in jeder Kultur, jeder Religion, in jedem Land und in jedem Menschen schlummert ein zerstörerisches Potenzial für das Entflammen autoritärer und faschistischer Orientierungen. Faschismus agiert da, wo Machthabende, auf die eine oder andere Art und Weise, unliebsamen Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit und Fähigkeit des Selbstausdrucks, des Gesehen- und Beachtet-Werdens systematisch vorenthalten.

Wie andere wortgewandt festgestellt haben, hat die israelische Botschaft in Deutschland „jahrzehntelange Mainstream-Diskussionen darüber, warum wir uns an den Holocaust erinnern sollten“, wegen seiner universellen Lehren und Bedeutung aktiv zurückgewiesen.

Die Anwesenheit von Ron Prosor bei dieser Veranstaltung ist daher ein Affront gegenüber dem Gedenken an die Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren Angehörige in einem intimen Rahmen des Gedenkens zusammenkommen werden.

Unangemessenheit der Einladung eines Redners aus dem britischen Verteidigungsministerium

Das Vereinigte Königreich ist zwar ein weniger bedeutender Lieferant der völkermörderischen israelischen Kriegsmaschinerie als die USA und Deutschland und hat mit der Aussetzung einiger Exportlizenzen für Israel einige positive Schritte unternommen, aber es hat kein vollständiges Embargo verhängt und ist weiterhin an der Lieferkette wichtiger Teile für die F-35-Kampfjets an Israel beteiligt, obwohl Großbritannien einräumt, dass die Gefahr besteht, dass diese unter Verletzung des humanitären Völkerrechts eingesetzt werden. Es führt auch Aufklärungsflüge durch, um Israel mit Informationen zu versorgen.

Die Teilnahme eines offiziellen Vertreters des Vereinigten Königreichs, geschweige denn eines Ministers mit Verteidigungsressort, hat bei dieser Veranstaltung nichts zu suchen und steht im Widerspruch zu dem Ziel, der Opfer des Völkermords zu gedenken.

Zusammenfassung

Über die verachtenswerte und zynische Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens durch die israelische Führung, die jeden Kritiker angreift, während sie gleichzeitig Allianzen mit der modernen extremen Rechten schmiedet, ist bereits genug gesagt worden. Es genügt zu sagen, dass ihre Anwesenheit den Teilnehmenden an der Gedenkfeier nur schadet. Ihre Reden werden die Teilnehmenden nur entfremden und spalten, anstatt ihnen zu ermöglichen, sich um den Zweck zu versammeln, für den sie da sind.

Die Organisator:innen hätten eine andere Vorgehensweise wählen können: Überlebende und nur Überlebende auf die Bühne zu bringen, wie es bei der Gedenkfeier in Auschwitz-Birkenau Anfang dieses Jahres der Fall war.

Schon jetzt fordern wir die Organisator:innen auf, dies zu überdenken. Stellen Sie nicht diese beiden offiziellen Vertreter des Staates auf die Bühne. Lassen Sie den Raum für Überlebende, Familienangehörige und alle anderen Teilnehmenden, die in gutem Glauben da sind.

Sollte es zu keiner Änderung des Programms kommen, vermuten wir, dass Teilnehmende, die die hier beschriebenen Bedenken teilen, sich gezwungen sehen könnten, den Fokus des Tages individuell wieder auf das zu richten, was er eigentlich sein sollte: das Gedenken an die Opfer und die Ehrung der Überlebenden des von Nazi-Deutschland begangenen Völkermords.

Unterzeichnende Organisationen:

AJAB – Anti-Zionist Jewish Alliance in Belgium
Boycott from Within (Israeli citizens for BDS)
International Jewish Anti-Zionist Network-Canada
Israelis Against Apartheid
Jewish Network for Palestine (UK)
Jewish Voices for a just Peace (Norwegen)
Jewish Voice for Labour (UK)
Jews Against the Occupation „48 (Australien)
Jews for Palestine – Ireland
Jews for Just Peace 5784 (Dänemark)
Jews Say No (USA)
Judeobolschewiener*innen (Österreich)
Judeus pela Paz e Justiça (Portugal)
Judíes x Palestina (Argentinien)
Judíes por una Palestina Libre (Mexiko)
Kollektiv Doykait (Switzerland)
MARAD, Collectif juif décolonial (Schweiz)
Not in Our Name (Österreich)
SAJFP – South African Jews for a free Palestine
Sh“ma Koleinu – Alternative Jewish Voices of Aotearoa New Zealand
Tsedek! (Frankreich)
​​​​​​​UJFP – French Jewish Peace Union

Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, Original mit englischer Version, 22. April 2025

Titelfoto: Peter Vlatten

1. Mai 2025: Gegen „Zeitenwende“, Kriegs- und Erschlagfähigkeit – für Frieden, Abrüstung und internationale Solidarität

Bild: Ingo Müller

Auch wenn sich die Vorstände des DGB in dieser Existenzfrage politisch bedeckt halten oder gar der Regierung ihre Unterstützung signalisieren, bleibt die Antikriegsbewegung in den gewerkschaftlichen Verbänden präsent. Dies hat sich auch bei den Ostermärschen gezeigt, bei dem Ortsverbände von DGB-Gewerkschaften in einigen Städten wie Wolfsburg oder Würzburg zur Teilnahme an den Aktionen gegen den größen Aufrüstungsprozeß der Nachkriegsgeschichte aufgerufen haben. Auch die Berliner IG Metall war in den vergangenen Jahren Teil der Friedensbewegung. Dieses Jahr werden sich Metallerinnen und Metaller wieder vor dem Transparent mit dem Portrait Bertha von Stuttners sammeln. Und Karl und Rosa sind in unserem Gedenken und Mahnen ebenso präsent. Über die Teilnahme von Kolleg:innen anderer Gewerkschaften würden wir uns freuen.

Treffpunkt: Donnerstag, 1. Mai, 11 Uhr, am Straußberger Platz/ Karl-Marx-Allee. Erkennungszeichen „Berta von Suttner Transpi“ vor dem „Restaurant Trattoria Vesuvia“


Forum gewerkschaftliche Linke Berlin

Wider die Gleichgültigkeit

Ein befreiungstheologischer Aufruf, die Zuschauerrolle zu verlassen

Von Benedikt Kern und Julia Lis

Bild: Screenshot You Tube Video

In Nachrufen wird Papst Franziskus für vieles gelobt. Spannender ist aber, was in bürgerlichen Medien nicht über ihn geschrieben wird. So wird die konsequente antimilitaristische Position dieses Papstes größtenteils übergangen. In aller Deutlichkeit stellte er sich gegen die Aufrüstungslogik, digitalisierte Kriegsführung und atomare Bewaffnung in einem, wie er bereits lange vor Beginn des Krieges in der Ukraine sagte, laufenden »Dritten Weltkrieg auf Raten«. Sein Drängen auf Verhandlung statt Eskalation in der Ukraine und in Gaza brachte ihm internationale Kritik ein, auch und vor allem von liberalen Kräften innerhalb und außerhalb der Kirche, die sich vom Papst eine Stärkung der westlichen Position erwartet hätten.

Dafür war er nicht zu haben – und das nicht, weil er, wie jetzt auch vielfach zu lesen ist, als Argentinier ein Mann des globalen Südens war. Entscheidend war hier seine Positionierung als Theologe, als Christ: Seine Perspektive war es, die Verteidigung des Lebens der einfachen Menschen, der Armen, der Geflüchteten, der Ausgegrenzten über alle machtpolitischen Interessen von Staaten und Kapitalfraktionen zu stellen. Das hat er nicht nur in symbolischen Gesten zum Ausdruck gebracht, sondern zum Handlungskriterium gemacht. In deutlichen Worten und in der Ausrichtung seines Wirkens hat er die »Globalisierung der Gleichgültigkeit« nicht nur kritisiert, sondern Mitleid, Empathie, Barmherzigkeit propagiert – nicht auf persönliche Tugenden reduziert, sondern es als grundlegend für jede menschliche Gestaltung der Welt, und damit jede Politik. Dass eine solche Ausrichtung der Politik den Herrschenden aber nicht abzuringen ist, darin war er nicht naiv.

Deshalb hat er als wohl erster Papst konsequent auf andere politische Akteure gesetzt, zum Beispiel auf soziale Bewegungen weltweit. Bereits ein Jahr nach seiner Wahl lud er zu einem Welttreffen dieser selbstorganisierten Akteure einer Veränderung »von unten« in den Vatikan. Weitere solcher Zusammenkünfte folgten, auf denen Franziskus in Europa weitestgehend unbeachtete Reden gehalten hat, die nicht nur in außergewöhnlicher Schärfe Kritik an den herrschenden Verhältnissen übten, sondern das Vertrauen ausdrückten, dass es eben jene »organisierten Armen« sind, in deren Händen es liege diese Verhältnisse von der Wurzel aus zu verändern. Die katholische Kirche forderte er auf, den Bewegungen nicht fernzubleiben und deren Anliegen mit ihren Möglichkeiten zu unterstützen.

Dieses Bündnis jenseits der Welttreffen in größerem Maßstab voranzutreiben und auszubauen ist nicht gelungen, wohl auch weil weder die katholische Kirche noch die Linken dazu ernsthaft bereit waren. Damit haben beide jene Sensibilität für Zeitansagen vermissen lassen, die Papst Franziskus in vielen Bereichen auszeichnete: Ein Beispiel ist etwa seine klare Kritik an einer Digitalisierung, die die menschlichen Beziehungen maßgeblich verändert und einer umfassenden Logik der Verwertbarkeit aller Lebensbereiche folgt. Eine solche Kritik an der erbarmungslosen Profitlogik des Kapitalismus selbst, wie sie in dem programmatischen Satz »Diese Wirtschaft tötet« aus seinem Schreiben »Evangelii gaudium« zum Ausdruck kam, hat ihm viel Widerspruch eingebracht.

Kritik von Links an Franziskus wurde wegen seiner Haltung gegenüber dem Feminismus laut. Durchaus zurecht, wenn man bedenkt, dass er wenig Distanz zu einem kirchlichen Frauenbild zeigte, dass Frauen auf Hingabe und Mutterschaft festschreibt und über Jahrhunderte eine verhängnisvolle Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Allerdings wird man etwa seiner Zurückhaltung in der Frage der Zulassung von Frauen zum Priesteramt nicht gerecht, wenn man sie nur als Antifeminismus deutet. Man muss sie auch in Beziehung setzen zu seiner Kritik am Klerikalismus in der Kirche überhaupt, der Priester zu Christen erster Klasse macht. Dass auch die Weihe von Frauen an diesem Klerikalismus nicht viel ändern würde, hat Franziskus gesehen.

Die Haltung in dieser Frage entsprach seiner Einstellung zu Fragen der Kirchenreform insgesamt. Strukturreformen etwa in Richtung einer Demokratisierung der Kirche durch mehr Partizipation hatten in seinen Augen Sinn, wenn sie auch mit einer konsequenten Ausrichtung auf das Evangelium, und damit die Armen und Ausgegrenzten dieser Welt verbunden blieben. Sie sollten der Kirche helfen, sich in den Dienst neuer sozialer und ökologischer Praxen zu stellen. Das hat die bundesdeutsche katholische Kirche, nicht nur die Bischöfe, sondern auch und gerade reformorientierte Laien, nicht verstanden. Die meisten gefielen sich lieber in einer Zuschauerhaltung, die aus der Distanz jede Reformbemühung als zu wenig weitreichend kritisierte.

Das aber war wohl die eigentliche Tragödie dieses Pontifikats: dass es zu viele gab, die kritisierten oder bewunderten und zu wenige, die jene Möglichkeitsräume, die der Papst öffnete, ausgefüllt haben. Die Bedingungen zu einer Neuausrichtung waren vielleicht so gut wie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) nicht mehr. Durch den Tod dieses Papstes schließt sich nun dieses Zeitfenster, vielleicht unwiderruflich. Es ist kaum zu erwarten, dass sein Nachfolger den visionären Mut aufbringt dem Entschiedenes entgegenzusetzen. Aber nun voller Sorge darauf zu warten, würde heißen, den Fehler des Zuschauens fortzusetzen. Stattdessen geht es nun um das Vermächtnis dieses Papstes: Wird es gelingen Bündnisse von Christ*innen und Nicht-Christ*innen zu schmieden, die der Ungleichheit, der Aufrüstung, den Grenzregimen und Nationalismen etwas entgegenzusetzen haben? Dazu bliebe noch viel, ja fast alles zu tun.

Benedikt Kern und Julia Lis sind katholische Theolog*innen und arbeiten am befreiungstheologisch inspirierten Institut für Theologie und Politik in Münster.

Erstveröffentlicht im nd v. 25.4. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190773.tod-von-franziskus-wider-die-gleichgueltigkeit.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

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