Nein zur Abschaffung des Sozialstaats und zum Aufbau eines Kriegsführungsstaats – – Ostermarsch – Rede eine Gewerkschafters!

Jörn Rieken, Mitglied der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt und im Vorstand des Bezirks Berlin, beleuchtet in seiner Rede auf der Kundgebung des Ostermarsch Königswusterhausen vor allem die immensen sozialen Auswirkungen und Kosten des Kriegskurses. Sie stellen neben dem Krieg selbst eine Breitsalve auf alle ureigenen gewerkschaftlichen Kernanliegen dar!

Liebe Kollegen, Liebe Friedensfreunde,

mein Name ist Jörn Rieken, ich bin Mitglied der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt und im Vorstand des Bezirks Berlin. Auch meine Gewerkschaft hat für Samstag zum Berliner Ostermarsch aufgerufen. Hier spreche ich als Gewerkschaftsmitglied.

Ich stehe hier, weil es zum Selbstverständnis der Gewerkschaften gehört, die Arbeits- UND die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Deshalb streiten wir nicht nur für gute Bedingungen auf den Arbeitsplätzen und für gute Löhne, sondern wir kämpfen auch gegen die wachsende Kriegsgefahr. Denn auf einem zerstörten Planeten lassen sich Arbeitsplätze weder gestalten und erhalten.

Wir protestieren deshalb hier für friedliche Konfliktbeilegung durch Verhandlungen. Wir wollen hin zu einer gesamteuropäischen Sicherheitsvereinbarung, die die russische Föderation unbedingt einschließen muss. Jedes Land hat seine Sicherheitsinteressen, und alle müssen berücksichtigt werden. Notwendig ist dafür Diplomatie, das Mittel sind gemeinsame Sicherheitsverhandlungen. Wir leben auf einem gemeinsamen Kontinent, und Russland ist unser Nachbar! Zu unserer aller Nutzen – wir können uns keinen Krieg, und erst recht keinen Atomkrieg leisten. Daher stellen wir uns mit aller Deutlichkeit gegen das gewaltigste Aufrüstungsprogramm der deutschen Geschichte.

Als Gewerkschaften sind wir schon seit längerem dem Neoliberalismus ausgesetzt – Privatisieren und Deregulieren. Im Wesentlichen bedeutet das: Umverteilung von unten nach oben. Und dieses Ziel wurde konsequent umgesetzt. Zusammenhängende Produktionsketten wurden in Sub-Sub-Sub-Unternehmen zerschlagen, unter anderem auch, um die gewerkschaftliche Stärke der abhängig Beschäftigten einzuschränken.

In der Baubranche sind wir davon besonders betroffen: prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind dort keine Ausnahmen mehr, sondern eher die Regel.

Aber selbst diese dramatische Umverteilung von unten nach oben trägt seit inzwischen vielen Jahren nicht mehr zum Wirtschaftswachstum bei. Die Durchschnittslöhne haben noch nicht einmal das Niveau vor Corona erreicht. In den Sub-Sub-Sub-Unternehmen in der Baubranche sind die Löhne sogar noch weiter gesunken!

Dieser offensichtliche Bankrott des Neoliberalismus befeuert nun den Militarismus. So befinden wir uns derzeit im Übergang vom Neoliberalismus zur Kriegswirtschaft. Oder – wie es die Financial Times vor ein paar Wochen formulierte – die Bundesrepublik sei auf dem Wege „einen Kriegsführungsstaat aufbauen“.

Und das, obwohl die Ende 2024 veröffentlichten Bedrohungsanalyse aller US-Geheimdienste lautete – und diese wurde noch sogar noch unter der Präsidentschaft von Biden erstellt. Zitat: „Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit Streitkräften der USA und der NATO.“ So die Bedrohungsanalyse wörtlich.

Dieses Statement wurde von der vorherigen US-Regierung sogar öffentlich zugänglich gemacht, sie ist im Internet einsehbar. Greenpeace und Sipri haben in Studien das militärische Potential der NATO mit dem der Russischen Föderation verglichen. Demzufolge gibt es für Westeuropa überhaupt kein Bedrohungspotential! Trotzdem wird medial fast mantra-mäßig das Narrativ veröffentlicht, es gehe um Verteidigung.

Dabei ist die russische Föderation bereits jetzt militärisch der NATO militärisch klar unterlegen. Und zwar selbst ohne die geplante Aufrüstung, auch wenn man nur die europäischen NATO-Staaten ohne die USA betrachtet. Bei den meisten Waffensystemen ist die NATO deutlich stärker, sie hat mehr Soldaten und mehr Bevölkerung, eine viel größere Wirtschaftskraft, höher entwickelte Technologie, und gibt schon jetzt mehrfach so viel Geld für Militär aus wie Russland – obwohl sich dieses im Krieg befindet.

Es geht also überhaupt nicht um Verteidigung. Selbst nach Aussage des bisherig zuständigen Ministers – es geht um die „Kriegstüchtigkeit“. Kriegstüchtigkeit aber ist nur ein anderes Wort für Angriffsfähigkeit. Das über 1 Billionen Euro schwere Aufrüstungsprogramm soll es ermöglichen – die direkte Vorbereitung eines Angriffskriegs! Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Herr Breuer, formulierte das geplante Vorgehen folgendermaßen: „Abschreckung muss nicht immer reaktiv sein – sie hat auch aktive Komponenten“.

Gemäß dem bisher zuständigen Minister Pistorius soll die Kriegstüchtigkeit bis 2029 erreicht werden. Der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Herrn Kahl, ging der BND bisher davon aus, dass Russland bis 2029 weitgehend ausgeblutet sein würde – mit der Verwüstung der Ukraine als Kollateralschaden.

Zum Erreichen der Kriegstüchtigkeit soll Deutschland zum Aufmarschgebiet aufgerüstet werden. Gemäß gegenwärtiger Planung sind bereits Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg als die wesentlichen Bereitstellungsräume ausgewiesen. Im neuen Koalitionsvertrag ist das eindeutig so formuliert: „Wegen seiner geografischen Lage in Europa soll Deutschland als zentrale Drehscheibe der NATO weiter ausgebaut werden.“ Um die Bereitstellungsräume zu „ertüchtigen“, sind wesentliche Teile der 500 Milliarden für Infrastruktur vorgesehen.

Aber um welche Art von Infrastruktur handelt es sich dabei?

  • Im Verkehrswesen geht es vor allem um Brücken, die panzertragfähig gemacht werden sollen
  • Im Gesundheitswesen geht es vor allem um die Vorgabe, bis zu 1.000 Schwerverwundete pro Tag per Operation in noch zu schaffenden unterirdischen Krankenhäusern wieder einsatzfähig zu machen
  • Im Bevölkerungsschutz sollen Bunker gebaut werden
  • Im Heimatschutz sollen THW, Rotes Kreuz und weitere Hilfsorganisationen auf den Kriegsfall vorbereitet werden
  • Garniert wird das Ganze mit der geplanten Wiedereinführung der Wehrpflicht. Auch hierfür soll die materielle Infrastruktur aufgebaut werden.

Über eine Milliarde Euro sollen verpulvert werden – verpulvert dabei im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei haben wir ganz andere wirkliche Probleme: Eines der drängendsten Probleme ist der dramatische Mangel an bezahlbaren Wohnraum. 800.000 Sozialwohnungen fehlen in Deutschland. Immer noch fallen mehr Sozialwohnungen aus der Bindung als neue erstellt werden. In Berlin werden nur 4% alle neuen Sozialwohnungen von privaten Investoren gebaut. Es braucht also mit allerhöchster Dringlichkeit ein großes staatliches Investitionsprogramm für Sozialen Wohnungsbau.

Seit Jahren fordert die IG BAU ein solches Investitionsprogramm von 50 Mrd. € über vier Jahre – ein fast lächerlicher Betrag! Vor allem im Vergleich zu den Konsumausgaben für Panzer, Kampflugzeuge und Fregatten. Aufrüstung ist volkswirtschaftlich gesehen reiner Konsum, ohne jeden nachhaltigen Ertrag, dafür mit tödlichen Folgen! Im vorgesehenen Infrastrukturprogramm von 500 Mrd. € hingegen ist –gerade der soziale Wohnungsbau ausdrücklich ausgenommen.

Damit „ist die Systemfrage gestellt“ – sagt selbst der Bundesvorsitzende der IG BAU. Allerdings wird auch in der IG BAU der Widerspruch zwischen Aufrüstung und sozialer Sicherheit – also angemessene Löhne und bezahlbarer Wohnraum – viel zu wenig thematisiert. Wie in anderen Gewerkschaften auch, insbesondere der IG Metall und Verdi, haben wir im letzten Jahre auf dem Gewerkschaftstag diesen Widerspruch thematisiert – und zwar mit der Forderung eines Initiativantrags auf 50 Mrd. für Sozialen Wohnungsbau statt 2% für Aufrüstung. Knapp die Hälfte der Delegierten hatten den Antrag unterzeichnet. Nur eine knappe Mehrheit folgte der Empfehlung des Vorstands, den Antrag abzulehnen. Und damals ging es NUR um 2%! Heute ist die Rede von 5%.

Und genau darum geht es jetzt: wir müssen die Diskussion in die Gewerkschaften tragen! Rein in jeden Ortsverband, in jede Fachgruppe, in jede Betriebsgruppe. Wir müssen dem Mantra der vorgeblichen Bedrohung ausdrücklich und überall widersprechen!

Es geht um nichts weniger als die Vorbereitung eines Angriffskriegs!

Es geht es um die Abschaffung des Sozialstaats, und den Aufbau eines Kriegsführungsstaats.

Die tatsächliche Bedrohung des Sozialstaats kommt nicht von außen – die tatsächliche Bedrohung ist der angestrebte „Kriegsstaat“ und dessen Fähigkeit zum Angriffskrieg!

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.

Titelbild: Beteiligte Ostermarsch KW

Metaller Alarm vor dem Kanzleramt


Einige Stimmen und Einblicke rund um den 15.März ,dem Aktionstag der IG Metall:[1]https://www.igmetall-bbs.de/:

„Uns Stahlwerker und Metaller beschäftigen am meisten die hohen Energiekosten, was einen Rückgang unserer Auftragslage und Wettbewerbsfähigkeit zur Folge hat.“

Eine kleine Einzimmerwohnung in Berlin koste 700 bis 1000 Euro, das sei für Azubis schlicht unbezahlbar. „Es braucht mehr öffentliche Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, um bezahlbaren Wohnraum für Auszubildende zu schaffen.“

Beschäftigte beim Zughersteller Alstom in Hennigsdorf fordern von der neuen Bundesregierung ein Gesamtkonzept, „in der die Zukunft der Mobilität klar vereinbart ist. Und wir brauchen Investitionen der Unternehmen in genau diese Zukunft – eine grüne Zukunft mit Elektroautos und Zügen.“ Stadlerkolleg:innen in Berlin: „Wir wollen Züge bauen!“

Am traditionsreichen Alstom Produktionsstandort Görlitz werden künftig Panzerteile statt Straßenbahnen gefertigt. Wer soll das verstehen? Wer Arbeit haben will, muss in den sauren Apfel beissen. Aber nicht einmal alle werden übernommen!

VW Arbeiter wollen „nicht den Tod produzieren.“ Es gibt viele Produkte, die wir für ein gutes Leben und eine funktionierende Gesellschaft brauchen.

Die Kolleg:innen bei VW Sachsen und die Menschen in der Region treibt die Sorge um, dass die gegebenen Zukunftsversprechen wirklich Bestand haben!

Mitteldeutsche Kohlereviere transformieren! Alle müssen in die Sozialverisicherung einzahlen. Mehr Ausbildungsplätze gegen Fachkräftemangel.

Fazit: Rechte Politik ist unsozial. Viele befürchten, dass sie über uns hereinbricht.

Vom 28.3. bis 30.3. trafen sich über 200 aktive Vertrauensleute aus der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen am Pichelsee, um sich auszutauschen, Antworten zu finden sowie den Zusammenschluss untereinander zu stärken.

Vertrauensleute sind traditionell das „kämpferische Rückgrat“ der IG Metall. Vertrauensleute sind die Organisatoren vor Ort im Betrieb. Sie kennen die konkreten Interessen, Meinungen und Stimmungen der Kolleg:innen am Besten und agieren idealerweise als deren direkt gewählte Sprecher gegenüber den Kapos und Vertretern des Unternehmens. Jede Belebung und Intensivierung dieser Vertrauensleutearbeit stärkt die tagtägliche Verankerung sowie schlagkräftige Mobilisierungs- und Streikfähigkeit einer Gewerkschaft!

Wir müssen uns darauf einstellen, breite Angriffe abzuwehren!

Die Lage der Kolleg:innen und ihre Zukunft muss mehr denn je in politischen Zusammenhängen gedacht werden. Ständige Steuererleichterungen für Großverdiener sind nicht mehr akzeptabel. Wenn die Mieten einen Großteil des Einkommens zu Gunsten von Aktienhaltern aus Hedgefonds ausmachen, dann müssen wir Gewerkschaften innerhalb und außerhalb der Betriebe dafür mobilisieren, dass diesen der Garaus bereitet wird.

Die zuletzt im Grundgesetz verankerte und beschlossene militärlastige Verschuldung ist ungeheuerlich und riskant, wie selbst der Bundesrechungshof feststellt. Die zu erwartende Inflation wird massiv zulasten der Realeinkommen gehen.

Durch die Steuersenkungspläne der rechten Mehrheit im neuen Bundestag zugunsten der Reichen und Unternehmen zusammen mit der Zinsbelastung aus dieser beispiellosen Verschuldung wird laut Handelsblatt der Druck auf den Kernhaushalt mit seinen sozialen Aufgaben unweigerlich wachsen. Kapitalvertreter und Ökonomen fordern Friedrich Merz eindringlich auf, die unter dem Begriff „Wirtschaftswende“ geplanten Angriffe auf Arbeits-, Sozial- oder auch Umweltstandards jetzt schnellstmöglich umzusetzen.

Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Rainer Dulger: „Wir erwarten nachhaltige Sozialversicherungsreformen, die im Sondierungspapier bislang eine Leerstelle sind“. Das Rentenniveau in Höhe 48 Prozent sei eine zu „schwere Hypothek“. Der Präsident des Bundesverbands der Freien Berufe (BFB), Stephan Hofmeister fordert deutlich weitergehende Arbeitsmarktreformen als bisher in dem Papier vorgezeichnet. Der Mercedes Vorstand kann sich für die Tesla-Idee erwärmen, dass die Beschäftigten die ersten 3 Krankheitstage selbst bezahlen. Reduzierung von Rente, Reduzierung des Elterngeldes, Wegfall eines Feiertags, Abschaffung einer gesetzlichen Höchstarbeitszeit, Anhebung der Mehrwertsteuer – die Kürzungsideen kennen keine Grenze. Und natürlich soll die einzige Waffe, die Beschäftigte und ihre Gewerkschaften haben, das Streikrecht weiter eingeschränkt werden.

Der Coup am Kanzleramt

Am Samstag Abend wurden die Vertrauensleute eindrucksvoll ihrer Rolle als kämpferisches Herzstück der IG Metall gerecht. Nachdem kreativ Transparente und Poster gestaltet worden waren, gab es einen Überraschungsausflug nach Berlin Mitte zum Kanzleramt. Noch bevor Merz ins Kanzleramt eingezogen ist, werden ihm an Ort und Stelle die Erwartungen der Beschäftigten in der Metallindustrie und die Forderungen ihrer Gewerkschaft päsentiert. Per Lichtprojektion prangt das IG Metall Logo samt Forderungen auf seinem neuen „Zuhause“! Ganz offensiv heisst es: „Hausordnung für Friedrich Merz“. Die großen Medien berichten weniger über die inhaltlichen Anliegen und mehr darüber, dass die Aktion nicht angemeldet war und von der Polizei aufgelöst wurde.

Die allgemeinen Forderungen lauten u. a.: In Zukunftstechnologien investieren, Regionen stärken! Schluss mit Verlagerung und Stellenabbau! Und: Hände weg vom Sozialstaatl

Energie und Verkehrswende statt Wirtschaftswende! Zukunfsfähig ist, was den Menschen und der Gesellschaft nützt!

und ganz konkret: Hände weg vom Streikrecht! Hände weg vom 8 Stundentag! Keine Zeit für Mehrarbeit! Friedlich bleiben!

Der Wind wird in den nächsten Jahren rauer. Nur wir können dafür sorgen, dass er den Profiteuren von sozialer Ungleichheit und Armut, aber auch von Kriegen ins Gesicht weht. „Ohne zu kämpfen geht nichts. Zusammen geht mehr“!

Die Vertrauensleute haben durch Ihre Aktion eines klar gemacht: Hier sind Beschäftigte, die nicht alles mit sich machen lassen. Sie sind auch zu widerständigen und unkonventionellen Aktionen bereit. Schlagkräftig gewerkschaftlich organisiert! Ob das Friedirch Merz kapiert hat? Oder meint der Kanzler in Wartestellung, das sei eine einmalige gruppendynamische Aktion gewesen? Arbeiten wir daran, dass er sich da irrt!

Bildmaterial: eigene Collage, Quelle Beteiligte

References

Obdachlosigkeit in Berlin: Das Elend überwinden

Am Montag findet die siebte Mahnwache gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen statt. Grüne fordern mehr 24/7-Unterkünfte

Von Lola Zeller

Bild: Jochen Gester. An der Hochbahn in Kreuzberg. Die Stadt als Anker für Schutzsuchende. Wir müssen menschenwürdige Lösungen finden und eine Sao-Paulosierung Berlins verhindern.

Wir fordern Sichtbarkeit von obdachlosen Menschen und setzen uns gegen die Vertreibung aus dem öffentlichen Raum ein», sagt Uwe Mehrtens zu «nd». Mehrtens ist Teil der Union für Obdachlosenrechte (Ufo) Berlin und war selbst wohnungslos, in Hamburg und Berlin. Heute setzt er sich für die Rechte von Menschen ein, die in Berlin auf der Straße und in Wohnungslosenunterkünften leben müssen. Seine Gruppe Ufo wirkt an der jährlichen Mahnwache gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen mit, die am Montag zum siebten Mal vor dem Roten Rathaus in Berlin stattfinden wird.

«Wir werden mit vielen Leuten vor Ort sein und haben ganz viel vor», sagt Mehrtens. Aktuell beschäftigt sich Ufo vor allem mit dem Thema Vertreibung – etwa im Zusammenhang mit der Überarbeitung eines Leitfadens des Bezirksamts Neukölln, in dem festgehalten ist, dass obdachlose Menschen von bestimmten Orten, etwa Spielplätzen, einfacher vertrieben werden können. Auch die sogenannte Reinigungsstreife der U-Bahnlinie 8, ein Pilotprojekt der BVG, das im vergangenen Jahr startete, kritisiert Mehrtens: «Obdachlose werden nicht nur aus den U-Bahnen gezerrt und gedrängt, sondern auch in den Bahnhöfen sollen sie nicht mehr sichtbar sein.»

Die U8-Reinigungsstreife kritisieren auch Nicole Lindner und Steffen Doebert, die Teil des Bündnisses sind, das die jährliche Mahnwache gegen Obdachlosigkeit organisiert. «Die Reinigungsstreife ist einfach abartig und ekelhaft. Menschen sind kein Müll», sagt Lindner zu «nd».

Lindner und Doebert wünschen sich, dass zur Mahnwache auch Berliner Politiker*innen kommen. Aber nur zum Zuhören, sagt Doebert. «Reden dürfen sie nicht.» Denn bei der Mahnwache gehe es darum, den Menschen den Raum zu geben, die Erfahrungen mit Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit gemacht haben. «Wir haben ein offenes Mikrofon und wollen die Leute vorziehen, die von Selbstvertretungen sind, die kriegen ja sonst kaum Raum», so Doebert.

Der Ort der Mahnwache ist bewusst gewählt. «Wir stehen vor dem Roten Rathaus, weil da die Regierenden sitzen, die was machen könnten», sagt Lindner. Dafür müssten sie aber aus ihren Büros herauskommen, sich die Erfahrungen von obdachlosen Menschen anhören und mit ihnen ins Gespräch kommen. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) habe die Einladung allerdings bereits abgelehnt, sagt Lindner.

Von den Politiker*innen fordern die beiden effektive Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit, um das vom Senat selbst gesetzte Ziel, diese bis 2030 zu überwinden, auch zu erreichen. Eine der Forderungen: Zwangsräumungen in Berlin allgemein nicht zuzulassen. «Wie kann denn Obdachlosigkeit beendet werden, wenn immer noch zwangsgeräumt wird und so immer mehr Obdachlose produziert werden?», fragt Doebert. Um das Recht auf Wohnen durchzusetzen, dürften jene, die eine Wohnung haben, diese nicht verlieren. Solange das aber passiere, «ist das eine Farce mit 2030», sagt Lindner.

Ein weiterer Ansatz, um Obdachlosigkeit zu bekämpfen, könne eine Entkriminalisierung von Hausbesetzungen sein. «Besetzungen sollten als Amtshilfe anerkannt werden, gerade bei Leerstand», sagt Lindner.

Das Ziel, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden, verfolgt nach eigenen Angaben auch die Senatssozialverwaltung unter Senatorin Cansel Kiziltepe (SPD). Im Koalitionsvertrag sei «vereinbart, die Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden und den betroffenen Menschen eine menschenwürdige Perspektive zu sichern», teilt die Sozialverwaltung auf nd-Anfrage mit.

Wege dahin seien unter anderem der Ausbau von Housing-First-Projekten, die obdachlosen Menschen zuerst niedrigschwellig eine Wohnung vermitteln, um dann die bürokratische Eingliederung in weitere Hilfesysteme zu klären. Außerdem würden Notunterkünfte für Wohnungslose ausgebaut und die Bezirke bei der Prävention von Wohnungs- und Obdachlosigkeit unterstützt.

«Wie kann denn Obdachlosigkeit beendet werden, wenn immer noch zwangsgeräumt wird?» Steffen Doebert
Bündnis Gemeinsam gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen

«Größtes Hindernis bei der Beendigung der Wohnungslosigkeit ist der weiterhin eklatante Mangel an bezahlbarem Wohnraum», so die Sozialverwaltung. Außerdem seien viele «Stellschrauben» bundesrechtlich geregelt, sodass der Berliner Senat die «politischen Schwerpunktsetzungen infolge der Koalitions- und Regierungsbildung auf Bundesebene» abwarten müsse.

Die Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hält ebenfalls daran fest, Obdachlosigkeit in Berlin bis 2030 beenden zu können. In einem kürzlich veröffentlichten Zehn-Punkte-Programm werden Maßnahmen gegen die Wohnungsnot ausgeklammert. Diese zu beenden sei zwar die elementare Herausforderung, werde Berlin aber «noch sehr viele Jahre» beschäftigten, wie man realistischerweise feststellen müsse, sagt Fraktionsvorsitzende Bettina Jarasch. «Wir wollen und müssen es zumindest schaffen, die Verelendung auf der Straße zu beenden, das heißt, die Obdachlosigkeit zu überwinden.» Das sei mit dem entsprechenden politischen Willen durchaus bis 2030 möglich.

Mit den bisherigen Anstrengungen des Senats ist Jarasch nicht zufrieden. Die Grünen fordern etwa, den Zugang zu Housing First zu erleichtern und den Anspruch aller Menschen – unabhängig von sonstigen Leistungsansprüchen – auf eine Unterbringung in Wohnungslosenunterkünften durchzusetzen. Auch will die Fraktion die Kältehilfe als niedrigschwelliges Schlafplatz-Angebot ganzjährig anbieten und zu sogenannten 24/7-Unterkünften auszubauen.

Bei der Vorstellung des Zehn-Punkte-Plans ist Elke Löbel zu Gast. Sie leitet die einzige Berliner 24/7-Notunterkunft für Frauen in Kreuzberg und zeigt an diesem konkreten Beispiel auf, wie wichtig diese Art der Unterbringung ist, die es wohnungslosen Menschen ermöglicht, sich täglich rund um die Uhr in der Unterkunft aufzuhalten. «Man muss erst einmal ankommen und sich ausruhen können, um eine Bestandsaufnahme machen zu können und zu schauen, wie es weitergeht.»

Ihrer Erfahrung nach haben «nahezu alle Frauen», die in der Unterkunft versorgt werden, eine psychische Erkrankung – entweder führte diese zur Obdachlosigkeit, oder andersherum. Sie berichtet von einer jungen Frau, die schon in ihrer Kindheit und Jugend im Hilfesystem war, dann in eine Wohngemeinschaft ziehen konnte. Während der Corona-Pandemie erkrankte die Frau psychisch und verlor in der Folge ihr Zimmer in der WG. «Wir konnten ihr durch intensive soziale und psychologische Betreuung ein Platz im betreuten Wohnen vermitteln», sagt Löbel. Eine andere Frau sei mit 50 Jahren obdachlos geworden, weil sie in ihrer Beziehung Gewalt erfahren und sich schließlich getrennt habe. Auch hier sei eine intensive Betreuung notwendig gewesen, um sie in eigenen Wohnraum vermitteln zu können.

Ulrike Kostka, Vorstandsvorsitzende der Caritas Berlin, befürchtet, dass sich angesichts der Sparmaßnahmen des schwarz-roten Senats die Lage für obdachlose Menschen in den kommenden Jahren verschlimmert. Vor allem etwaige Einsparungen im Integrierten Gesundheitsprogramm müssten abgewendet werden, denn dieses komme mit vielen niedrigschwelligen Angeboten vor allem sucht- oder psychisch kranken Menschen zugute. Durch Kürzungen würde «das ganze Hilfenetz gefährdet». Angebote, die als Projekte finanziert und dadurch stets von Kürzungen bedroht sind, seien trotzdem Teil der Grundversorgung in Berlin.

Auf Anfrage von «nd» teilt die Senatsgesundheitsverwaltung mit, dass weder die Sparmaßnahmen für das laufende Haushaltsjahr 2025 noch für den Doppelhaushalt 2026/27 bislang final entschieden worden seien, weshalb man über etwaige Kürzungen keine Auskunft erteilen könne.

Nicole Lindner und Steffen Doebert vom Bündnis gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen kritisieren Kürzungen im Berliner Hilfesystem scharf. «Hilfeleistungen sind unkürzbar. Man kann nicht bei den Hilfebedürftigen sparen, das geht gar nicht», sagt Doebert.

Die Mahnwache vor dem Roten Rathaus wird von vielen Gruppen und Künstler*innen unterstützt. Am Montag geht es um 16 Uhr los, die Aktivist*innen wollen bis zum Dienstagmittag dort bleiben und in Zelten übernachten. Neben zahlreichen Redebeiträgen kann man sich beim Stand des Straßensozialarbeitsvereins Gangway selbst im Siebdruck versuchen. Es wird eine Ausstellung geben, eine Kunstaktion und eine Gedenkaktion, mit der an die auf der Straße verstorbenen Menschen erinnert wird. Verschiedene Musiker*innen begleiten die Mahnwache, darunter die Bands «Incredible Herrengedeck» und «Ton, Steine, Scherben». «Wir hoffen, dass wir über die Musik auch Menschen erreichen, die sich noch nicht so viel mit dem Thema Obdachlosigkeit beschäftigt haben», sagt Lindner.

Erstveröffentlicht im nd v. 29.3. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190159.wohnungsnot-obdachlosigkeit-in-berlin-das-elend-ueberwinden.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

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