Warum führen die Ukrainer einen selbstmörderischen Krieg? Gespräch mit einem Zeitzeugen

6. September 2024

von Thomas Mayer

Bild: r-mediabase

In meinem Buch „Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg – um was es wirklich geht“ habe ich ausführlich geschildert, wie dieser schreckliche Krieg von der NATO und der ukrainischen Regierung durch eine langjährige Politik der Eskalation verursacht wurde. Das diskutierte ich nun mit einem Zeitzeugen aus der Ukraine, der vorab sagte, dass die Wirklichkeit ganz anders sei als ich es im Buch beschrieben habe. Ich war gespannt auf das Gespräch. Ich fasse dieses zusammen, denn es hilft, die Tragödie des Ukraine-Kriegs und die Denkweise und Emotionalität vieler Ukrainer besser zu verstehen.

Normalerweise kommt die Kritik an meinem Buch „Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg“ von Menschen, die es gar nicht gelesen haben. Das war hier anders. Jean – der Name ist geändert – lebte lange in der Ukraine und arbeitete dort als Dozent. Er ist ein gebildeter, wacher und internationaler Freigeist. Der Kontakt kam über private Beziehungen zustande.

Jean denkt geopolitisch und sieht die imperialistischen Interessen der USA deutlich. In seinen Augen ist Putin mit den Kriegseintritt in eine bewusste Falle der USA hineingetappt – ein interessanter Ansatz. Gleichzeitig meinte Jean aber, dass Russland die Ukraine bedroht und überfallen habe und dass deshalb die Waffenlieferungen und die Unterstützung der NATO-Staaten nötig seien. Hier haben wir einen Dissens. Ich meine, mit Waffenlieferungen entsteht kein Frieden, sondern der schreckliche Krieg wird nur verlängert und schlimmer. Ohne die Kriegsbeteiligung der NATO hätte es schon längst einen Friedensvertrag gegeben.

Jean sprach aus persönlicher Erfahrung und kennt dort viele Menschen. Er vermittelte den Standpunkt, den viele Ukrainer haben. Ich schildere seine Ansichten und kommentiere diese dann. Mit meinen Kommentaren war Jean überhaupt nicht einverstanden, wir kamen letztlich nicht zusammen.

Auch die Ukrainer sind gespalten, sehr viele sehen es anders. Es hat eine Abstimmung mit den Füßen stattgefunden. 2001 hatte die Ukraine 48 Millionen Einwohner, heute etwa die Hälfte. Millionen sind geflüchtet, ein großer Teil nach Russland.

Maidan-Umsturz 2014 – eine Demokratiebewegung?

Jean nahm an den Maidan-Demonstrationen in Kiew 2013/2014 teil und kennt persönlich viele Menschen, die dort aktiv waren. Diese Proteste führten zum Sturz des amtierenden Präsidenten und dann in den folgenden Monaten zur Abspaltung der Krim und zum Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine. Jean war am 20. Februar 2014 bei der Gewalteskalation auf dem Maidan anwesend, als Scharfschützen aus dem Hotel Ukraine auf Demonstranten und Polizisten gleichzeitig schossen. „In meine Richtung wurde auch geschossen, ich war aber in den hinteren Reihen.“

Jean erlebte die Maidan-Bewegung als eine emanzipierte Bürgerbewegung, die den alten autoritären Ballast der Sowjetvergangenheit und die korrupten, mafiösen Strukturen in der Ukraine loswerden wollten. Den damaligen Präsidenten Janukowitsch sahen die Demonstranten vor allem als korruptes Zentrum einer Günstlingswirtschaft. Das alles wurde mit Russland verbunden. Deshalb sollte Russland möglichst wenig Einfluss auf die Ukraine haben, berichtete Jean. Die Ukraine sei für Russland wirtschaftlich sowieso nur ein Billiglohnland gewesen, das ausgenutzt wurde. Die Hoffnung lag in der EU. Es habe die Angst geherrscht, dass die Ukraine autoritär und von Russland abhängig wie Weißrussland würde.

Jean erzählte, dass die Maidan-Bewegung sehr viel Unterstützung aus der Bevölkerung bekommen habe, bis zu mehreren hunderttausend Menschen waren auf der Straße. Er wies die Ansicht zurück, dass der Maidan von den USA inszeniert worden sei. Auch wenn die US-Außenpolitikerin Victoria Nuland und EU-Politiker die Maidan-Proteste offen unterstützten, die Kraft sei aus den Reihen der Bürgerinnen und Bürger gekommen. Das hatte Jean bei der „Orangen Revolution“ 2004 ganz anders erlebt: „Diese war viel stärker von den USA gesteuert und ohne so tiefe Verankerung in der Bevölkerung.“

Die Maidan-Proteste begannen als Janukowitsch am 21. November 2013 die bevorstehende Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens zurückzog. Janukowitsch wäre zuvor bei einem Treffen mit Putin gewesen und sei ganz außer sich und erschüttert zurückgekommen, erzählte Jean. Über Wochen habe die Kiewer Regierung nicht erklären können, warum sie das EU-Abkommen nicht unterzeichnet habe, sie mussten erst Begründungen finden. Etwa ein Jahr später sei herausgekommen – durch die Aussage von einem Begleiter von Janukowitsch, der bei dem Gespräch im abhörsicheren Bunker dabei gewesen sei – dass Putin mit einem militärischen Einmarsch in der Ukraine gedroht habe, wenn Janukowitsch das Abkommen unterzeichne. Es hätte also starken erpresserischen Druck durch Putin auf die ukrainische Regierung gegeben.

Am 21. Februar 2014 ist Janukowitsch aus Kiew für immer abgereist. Die Maidan-Protestler seien überrascht gewesen, dass er plötzlich weg war.

Soweit einige Schilderungen von Jean. Diese bringen die Stimmungslage vieler Ukrainer zum Ausdruck und zeigen, wie die Feindbild-Narrative in der Ukraine funktionierten, die zum Donbass-Krieg ab 2014 führten.

Wie war es wirklich? – mein Kommentar dazu

Es ist bekannt, dass die Mehrzahl der Maidan-Demonstranten aus der Mitte der Gesellschaft kamen und gegen die verbreitete Korruption auf die Straße gingen. Es ist aber auch bekannt, dass die zahlenmäßig kleinen faschistischen Gruppen des „Rechten Sektors“ eine starke Rolle in der Organisation der Proteste spielten. Diese Nationalisten bekamen durch den Regierungssturz einen überproportional großen Einfluss in der neuen Regierung und kontrollierten damit die bewaffnete Macht im Staate. Innen- und Verteidigungsminister, Geheimdienstchef und den Vorsitzenden des Sicherheitsrates wurden von den Rechtsextremen besetzt. Das war entscheidend für den Beginn des Bürgerkrieges in der Ostukraine. Dieser wurde im April 2014 von der neuen nationalistischen Regierung begonnen und führte zur unumkehrbaren Spaltung des Landes.

Dass eine Einflussnahme der NATO-Geheimdienste von den Maidan-Demonstranten von Jean nicht bemerkt wurde, ist kein Beleg dafür, dass es kaum Einflussnahmen gab, denn es könnte ja auch sein, dass diese geschickt und unauffällig durchgeführt wurden. Das berühmte geleakte Telefonat zwischen Nuland mit dem US-Botschafter in Kiew, indem sie den neuen ukrainischen Premierminister bestimmte, zeigt deutlich, dass Nuland wohl mehr Einfluss auf den Verlauf des Umsturzes hatte als die Demonstranten selbst.

Die Geschichte von Putins Kriegsdrohung in einem abhörsicheren Bunker halte ich für eine Räuberpistole. Wenn daran etwas gewesen wäre, wäre diese Geschichte von der Putin-feindlichen westlichen Presse stark aufgegriffen und verbreitet worden. Doch ich fand keinen einzigen Artikel darüber. Ich fand in der Medienrecherche nur viele Artikel über den „erpresserischen Druck von Putin“, wobei in diesen Artikeln nie stand, worin der Druck überhaupt bestanden haben soll.

So geht Feindbildaufbau

Interessant ist, dass die krasse Geschichte der Kriegsdrohung im abhörsicheren Bunker Jean im Gedächtnis blieb. Die Aussage eines Mitarbeiters von Janukowitsch ein Jahr später – wenn es diese überhaupt gegeben hat, was ich nicht überprüfen konnte – ist nicht stichhaltig, denn das könnte einfach eine Propaganda-Erfindung mitten im Donbass-Krieg gewesen sein. Ohne weitere Belege kann man es vergessen. Doch um Wahrheit geht es hier nicht.

Mit solchen einprägsamen und ausgeschmückten Geschichten wird das Feindbild zementiert und emotional verankert: Russland ist der Feind mit den schlimmsten Absichten. Es ist unmöglich, dass Putin etwas Gutes will. Wenn eine solche Geschichte von Millionen Ukrainern erzählt und geglaubt wird, dann ist das eine starke realitätsschaffende Kraft.

Eine weitere Räuberpistole ist die Aussage von Jean, dass die Regierung Janukowitsch über lange Zeit nicht sagen konnte, warum sie die Unterschrift zum EU-Assoziierungsabkommen am 21. November 2013 zurückgezogen hat. Tatsächlich wurde das sofort begründet. Das kann man sogar im Wikipedia-Artikel zum EU-Assoziierungsabkommen nachlesen:i

„Am 22. November 2013 erläuterte Ministerpräsident Asarow in einer Parlamentsrede die Entscheidung der Regierung. Die EU und die Ukraine sollten die Folgen des Abkommens zunächst gemeinsam mit Russland besprechen, hieß es. Janukowytsch sagte, dass der IWF der Ukraine bereits 2010 610 Millionen Euro technische Hilfe angekündigt habe: «Drei Jahre lang haben sie uns das wie ein Bonbon in einer schönen Verpackung gezeigt». Am Ende hätten sich alle Hoffnungen, dass der IWF dem Land helfe, zerschlagen. Das sei «erniedrigend» gewesen. Auf dem Osteuropa-Gipfel in Vilnius am 28. November 2013 wiederholte Janukowytsch seine Ablehnung gegenüber einem Kompromissvorschlag der EU. Er forderte Finanz- und Wirtschaftshilfen der EU. Die Ukraine sei mit ihren ernsten Finanz- und Wirtschaftsproblemen zuletzt alleine gelassen worden. Die von der EU angebotenen 600 Millionen Euro an Hilfen bezeichnete Janukowytsch als demütigend. 160 Milliarden Euro benötige sein Land, um sich innerhalb der nächsten Jahre dem EU-Standard anzunähern und reif zu sein für ein EU-Assoziierungsabkommen.“

Ein weiterer Grund für die Nichtunterzeichnung des Abkommens war innenpolitischer Art. Das Kiewer Parlament hatte sechs Gesetze abgelehnt, die von Seiten der EU eine Voraussetzung für eine Vertragsunterschrift waren, darunter die Freilassung von Julija Timoschenko.ii Somit hätte das Abkommen gar nicht unterzeichnet werden können.

Es gab also genügend nachvollziehbare und öffentlich formulierte Gründe für eine Verschiebung der Vertragsunterzeichnung.

An diesem Beispiel sieht man, wie der Feinbildaufbau funktioniert. Emotionale Geschichten gehen von Mund zu Mund. Es ist Unsinn, aber niemand prüft die Wahrheit. Es entsteht ein Leben in einer abgespaltenen „Wirklichkeit“, die sich für die Menschen aber sehr real und lebensnah anfühlt. Denn es geht von Mensch zu Mensch und man befindet sich ständig in dieser sich selbst bestätigenden emotional aufgeladenen „Realität“.

Ukraine als Brückenland zwischen EU und Russland

Die Ukraine war 2014 wirtschaftlich mit Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken verbunden und mit diesen in einer Freihandelszone ohne Zölle. 40 Prozent des Außenhandels der Ukraine fand in dieser Freihandelszone statt, mehr als mit der EU. Es war deshalb im existentiellen Interesse des Landes, dass diese Wirtschaftsbeziehungen nicht durch das EU-Assoziierungsabkommen abgeschnitten werden. Die Regierung Janukowitsch versuchte, das Beste für das Land zu erreichen.

Die Kommunikation der Regierung war aber schlecht und kam nicht an. Denn für die Maidan-Demonstranten spielten solche Überlegungen keine Rolle. Obwohl das EU-Abkommen niemals abgesagt, sondern weiterverhandelt wurde, hörten die Demonstranten nur, dass es mit der EU nichts wird und die Ukraine wieder ein „Anhängsel des autoritären Russlands“ wird. Eine Realitätsverzerrung.

Zum „erpresserischen Druck von Putin“

Es ist bekannt, dass Russland der Ukraine ankündigte, dass mit einem EU-Assoziierungsabkommen die Zollfreiheit mit Russland beendet werde. Das ist verständlich, denn Russland verlangt Zölle gegenüber den EU-Staaten. Wenn diese nun zollfrei Waren in die Ukraine exportieren, dann könnten diese Waren zollfrei weiter nach Russland gelangen. Das wollte Russland natürlich nicht. Entsprechend erhob Russland im Juli 2014 – nach der Unterzeichnung des EU-Abkommens – gegenüber der Ukraine Zölle von bis zu acht Prozent.iii

Ein weiterer „erpresserischen Druck“ bestand darin, dass Putin am 17. Dezember 2013 Janukowytsch Kredite in Höhe von elf Milliarden Euro versprach – von der EU waren 0,6 Milliarden Euro in Aussicht gestellt worden. Außerdem senkte Russland den Gaspreis für die Ukraine um ein Drittel, anstatt 291 Euro für 1000 Kubikmeter auf 195 Euro.iv Deutschland zahlte 2014 an Russland für 1000 Kubikmeter ca. 400 Euro.v Die Ukraine bekam also einen sehr guten Rabatt und zahlte nur die Hälfte. Das passt überhaupt nicht zur unterstellten wirtschaftlichen Ausbeutung der Ukraine durch Russland.

Aber solche Argumentationen sind viel zu rational. Zahlen kommen nicht gegen das verankerte Gefühl an, dass das große Russland die kleine Ukraine unterdrückt.

Verfassungswidrige Absetzung des Präsidenten

Janukowytsch floh am 21. Februar 2014 aus Kiew, nach Presseberichten aufgrund von Gewaltandrohungen seitens radikaler Maidan-Demonstranten. Schon am folgenden Tag setzte ihn das Kiewer Parlament ab. Einen verständlichen Grund für diese Absetzung gab es nicht, denn der Präsident hatte in einer Vereinbarung mit den Demonstranten am 21. Febr. 2014 vorgezogenen Neuwahlen zugestimmt und durch eine Verfassungsänderung sollte er den Großteil seiner Befugnisse verlieren.

Bemerkenswert in dem Gespräch mit Jean war, dass er kein Problem darin sah, dass der gewählte Präsident Janukowytsch entgegen den expliziten Regelungen der Ukrainischen Verfassung vom Parlament abgesetzt wurde.vi Eine verfassungswidrige Absetzung eines Präsidenten ist schlichtweg ein Putsch.

Ich verstand aus dem Gespräch mit Jean, dass für die Ukrainer die Einhaltung von Regeln nicht so wichtig ist. Als Mitteleuropäer denke ich so: Demokratische Verfahren sind das Fundament einer Gesellschaft. Auf Gesetze muss man sich verlassen können, sonst verschwindet das Vertrauen. Das läuft in der Ukraine aber wohl anders, in einer emotionalen Aufwallung kann das Parlament machen, was es will.

Das hatte aber Folgen. Da nach der Absetzung des Präsidenten tags darauf das Kiewer Parlament auch noch Russisch, das von 30 Prozent der Ukrainer als Muttersprache gesprochen wurde, als zweite Amtssprache abschaffte und dann noch Faschisten die wichtigsten Regierungsposten bekamen, nahmen in der Ostukraine und in der Krim die Proteste zu.

Doch dafür hatten die meisten Maidan-Demonstranten kein Verständnis, es fehlte an Empathie. Psychologisch ist das erklärbar. Wenn ein Trauma wirkt, steckt die Seele in diesem fest und kann sich nicht mehr in andere hineinversetzen. Sozial ist es aber verheerend.

Radikale Nationalisten gingen gegen die Föderalisten in der Ostukraine mit massiver Gewalt vor. Am 2. Mai 2014 starben in Odessa 48 Anti-Maidan Demonstranten beim Massaker im Gewerkschaftshaus. Die Täter wurden nicht verfolgt. Von den Kiewer Maidan-Demonstranten kam kein Protest und keine Solidarität.

Es fehlte den Maidan-Demonstranten auch an Realitätssinn. Die Vorstellung einer besseren heilen Welt durch die EU ist naiv. Die EU braucht Billiglohnländer. In der EU wäre die Ukraine ganz unten, noch hinter Rumänien, Bulgarien, Griechenland oder Portugal. Es ist eine Illusion, dass mit einem EU-Beitritt viel Reichtum in die Ukraine käme. Vielmehr ist zu erwarten, dass die Preise schneller steigen als die Löhne und die Realeinkommen sinken, ähnlich wie in anderen beigetretenen Staaten.

Ukraine hat versäumt, sich zu entwickeln

Die Ukraine wurde 1991 unabhängig. Das Land hatte nach 1991 Zeit, sich zu entwickeln, die Korruption und Mafia-Systeme auszufegen, die Oligarchen zu entmachten und Unternehmen, Reichtum, Kultur und Demokratie aufzubauen. Das ist zu wenig passiert.

Daran ist aber nicht Russland schuld. Russland hat nach 1991 nicht in die ukrainische Politik eingegriffen, sondern man hat die Ukraine in die Unabhängigkeit ziehen lassen. Russland hat sich nach Jelzin ab 1999 unter Putin wirtschaftlich erholt und die Oligarchen eingebunden. Das Durchschnittseinkommen wuchs in Russland bis 2014 auf etwa das Dreifache der Ukraine. Warum geschah das nicht auch in der Ukraine? Die ukrainische Politik und Gesellschaft war offensichtlich nach drei Generationen kommunistischer Diktatur mit einem wirtschaftlichen und politischen Aufbau überfordert. Russland ist daran aber nicht schuld, sondern hat selbst das Problem der autoritären Altlast.

Viele Ukrainer schoben aber die Schuld auf Russland. In meinen Augen fand hier eine kollektive Projektion des eigenen Versagens nach außen statt, ein bekanntes psychologisches Muster.

Der Donbass-Krieg von 2014 bis 2022

Nach Jeans Schilderungen sei 2014 die russische Armee in die Krim und die Ostukraine einmarschiert. Die Proteste vor Ort seien klein gewesen und nicht von einer breiten Bevölkerung getragen. Die Abspaltungen der Krim und des Donbass hätte es auf Einfluss von Russland gegeben.

Jean war selbst nicht in der Ostukraine, hat aber Kontakte. Ein Bekannter sei im Krieg 2014 gestorben, als er gegen Soldaten aus Russland kämpfte. Eine Bekannte in einer südrussischen Stadt hat gesehen, wie eine ganze russische Garnison ausrückte. Für Jean waren das Belege für eine russische Invasion.

Die Geschichte eines Einmarsches Russlands in der Ostukraine ist damit aber nicht belegt. 2014 fand ein großes russisches Militärmanöver an der ukrainischen Grenze auf russischem Territorium statt, deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn eine Garnison ausrückte. Es ist bekannt, dass es tausende Freiwillige aus Russland gab, die bei den Donbass-Milizen mitkämpften. Darunter waren auch ehemalige Militärs und Geheimdienstleute.vii Da es sehr viele familiäre Verbindungen zwischen Ukraine und Russland gibt, ist das nicht verwunderlich. Einen offiziellen Einsatz der russischen Armee in der Ostukraine gab es aber nicht. In welchem Umfange es verdeckte Aktionen gab, ist natürlich unbekannt.

Jean argumentierte weiter, dass die Donbass-Milizen keine Waffen hatten, diese könnten nur von der russischen Armee gekommen sein. Offiziell sind mir keine russischen Waffenlieferungen bekannt, verdeckt kann es diese natürlich schon gegeben haben. Bekannt ist aber, dass die Donbass-Milizen Panzer und Waffen von übergelaufenen ukrainischen Einheiten bekommen haben. Auch viele bestehende Waffenlager der ukrainischen Armee in der Ostukraine wurden von den Milizen geleert. Belege dazu habe in meinem Buch „Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg“ zusammengetragen.

Lügen der Kriegspropaganda

Um den Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung in der Ostukraine zu rechtfertigen, war die Hauptlinie der ukrainischen Kriegspropaganda, dies als Kampf gegen eine russische Invasion darzustellen. Das war ständig in den ukrainischen Medien. Am 24.04.2014 entlarvte der „Spiegel“, der nicht für russische Propaganda verdächtig ist, die Lügen-Propaganda Kiews:

„Ein angeblicher «russischer Agent» soll als Beweis für eine Invasion herhalten und entpuppt sich als fanatischer Freischärler.“ Und weiter schrieb der Spiegel: „Mit Fakten nimmt es Kiew mitunter nicht so genau. Als ein ukrainischer Journalist Fotos von einer Einheit der ukrainischen Armee veröffentlichte, die mitsamt ihrer Panzerfahrzeuge zu den Rebellen übergelaufen war, dementierte die Regierung umgehend: Es handele sich in Wahrheit um eine «militärische List». Die Einheit solle unter russischer Flagge vorstoßen und die Separatisten dann überwältigen. Als daraus nichts wurde, bezeichnete Kiew die Aufnahmen von ukrainischen Panzern mit russischer Trikolore als Fotomontage. Später dann machte die Meldung die Runde, die Einheit sei von prorussischen Kräften überwältigt geworden. Tatsächlich hatten sich Kiews Anti-Terror-Kräfte bereitwillig ergeben.“viii

Die Kiewer Kriegspropaganda wurde im Lauf der Zeit natürlich besser und weniger offensichtlich. So wurde das Framing aufgebaut, Russland habe 2014 eine Invasion in der Ostukraine durchgeführt, gegen die sich die Ukraine verteidigen muss.

Der Wille der dortigen Bewohner wurde dabei systematisch ausgeblendet. Dass es 2014 auf der Krim und in den Regionen Donezk und Lugansk Referenden zur Abspaltung von der Ukraine gab, zählte auch für Jean nicht. Die Referenden seien unter Zwang gelaufen. Um das zu belegen berichtete er von einer Bekannten aus dem Donbass, zu der Soldaten ins Haus gekommen seien und sie zur Abstimmung aufgefordert haben.

Das kann natürlich so gewesen sein. Diese Information reicht aber nicht: Haben die Soldaten über die Abstimmungsmöglichkeit informiert oder haben sie gedrängt? War es ein Einzelfall oder ein Normalfall? Die Referenden im Mai 2014 im Donbass fanden in ungeordneten Zuständen statt. Es gab auch bewaffnete Versuche die Durchführung des Referendums zu verhindern. Da kann alles Mögliche passiert sein. Ich kenne aber auch Berichte, die ich in meinem Buch dokumentiert habe, die sehr positiv über die Referenden sprachen und verneinten, dass es Druck auf die Abstimmenden gegeben habe. Soldaten seien nur zum Schutz vor den Wahllokalen gewesen. Die Informationslage ist beim Unabhängigkeitsreferendum 2014 auf der Krim besser, da es dort Wahlbeobachter gab, die nichts Negatives feststellten.

Bei allen Unabhängigkeitsreferenden gab es sehr hohe Zustimmungsraten für eine Abspaltung. Diese wurden durch repräsentative Umfragen in gleichen Zeitraum bestätigt. Es war ein Ausdruck des Willens der dortigen Bevölkerung. Das ist das Wesentliche. Wer der Ansicht ist, dass es zu viele Unregelmäßigkeiten bei den Referenden gegeben hat, sollte fordern, dass diese unter internationaler Beobachtung wiederholt werden. Das hat aber niemand gefordert. Stattdessen wurde dieser Willensausdruck der Ostukrainer einfach missachtet. Denn es passte nicht in die Kriegspropaganda-Erzählung einer russischen Invasion.

Gebrochenes Minsker Abkommen

Beim Minsker Abkommen bohrte ich im Gespräch mit Jean lange nach. Dieses sah nicht nur einen Waffenstillstand vor, sondern der Konflikt sollte grundsätzlich gelöst werden, indem die beiden Donbass-Regionen einen autonomen Status in der Ukrainischen Verfassung erhalten. Wie Südtirol in Italien sollten die Donbass-Regionen eine kulturelle Autonomie und viele föderale Rechte bekommen. Es wäre so einfach gewesen Frieden in der Ukraine herzustellen! Im Minsker Abkommen steht zehnmal, dass die ukrainische Regierung mit den Vertretern der Donbass-Republiken verhandeln müssen. Die Kiewer Regierung hat sich aber immer geweigert mit diesen überhaupt zu reden, denn das wäre eine Anerkennung der Republiken gewesen. Eine föderale Verfassung gab es auch nicht. Stattdessen wurde das Minsker Abkommen nur dazu benützt, um Zeit zu gewinnen, die Ukraine aufzurüsten und NATO- Waffen zu liefern. Das haben 2022 der ehemalige ukrainische Präsident Poroschenko, Angela Merkel und François Hollande, die alle das Abkommen unterzeichnet hatten, öffentlich zugegeben.

Interessant war hier die wegwischende Reaktion von Jean, die ich als Ausdruck ukrainischer Umgangsformen nehme. Das Abkommen und dessen Wortlaut ist egal. Wenn es nicht passt, dann hält man sich nicht daran. Ausgeblendet wird mit dieser emotionalen Reaktion aber, dass ein ungelöster Konflikt weiter brodelt und zu Schlimmeren führt.

Negative Erfahrungen in Russland

Lange Phasen des Gespräches mit Jean gingen um Russland, das er in der Zeit seiner Aufenthalte als autoritär erlebte. An der Uni war der Geheimdienst tätig und befragte Studenten, was der Professor in der Vorlesung gesagt habe. Er wurde bespitzelt, alle wurden bespitzelt, die Kollegen seien eingeschüchtert gewesen. Es gäbe in Russland nur sehr wenige Menschen, die sich gegen die Regierungspolitik äußern. Besser sei es, nach außen keine Meinung zu haben. Freie kulturelle Initiativen hätten es sehr schwer. Jean zeichnete aus seinen Erfahrungen ein düsteres Bild von Russland.

Für mich ist das aber nicht wichtig im Ukraine-Krieg. Damit müssen die Russen selbst fertig werden. Auch wenn es an Russland etwas zu kritisieren gibt, dann ist das niemals ein Grund, einen Krieg gegen Russland zu führen, wie es die NATO derzeit tut.

Verletzte Gefühle machen engstirnig – ein Frieden wäre so einfach gewesen

Für mich war das Gespräch mit Jean ernüchternd. Ich hatte erhofft, dass er neue Gesichtspunkte auf Basis eigener Erfahrungen bringen würde. Stattdessen formulierte er das ukrainische Russlandfeindbild, das festgefügt und resistent gegen widersprüchliche Tatsachen ist.

Ich habe durch das Gespräch aber besser verstanden, dass diesem Feindbild eine starke kollektive Opfertraumatisierung in der ukrainischen Bevölkerung zugrunde liegt. Es gibt viele Verletzungen in den Seelen. Sie fühlen sich als die ewigen Opfer. Gleichzeitig gibt es in der Ukraine Politiker und Medien, die genau mit diesen Traumata spielen und davon profitieren. Auch die USA und die NATO benützen diese Opfertraumatisierung, denn nur so ließ sich die Ukraine auf den Wahnsinn ein, einen Stellvertreterkrieg gegen die viel stärkere russische Armee zu führen.

Dabei spielt es keine Rolle, ob es die Unterdrückung durch Russland überhaupt gegeben hat. Die Gefühle sind da und werden als Wirklichkeit erlebt. Es spielt keine Rolle, dass Russland die Ukraine 1991 in die Unabhängigkeit hat ziehen lassen. Es spielt auch keine Rolle, dass Putin immer wieder erklärte, dass er keinerlei Ambitionen hat, Russland territorial zu erweitern. Oder dass er sagte, er habe auch nichts gegen eine EU-Beitritt der Ukraine. Ihm wird sowieso nicht geglaubt. Die Unterdrückungsgefühle sind da. Mit diesen gab es keine Möglichkeit die Sicherheitsbedürfnisse Russlands zu verstehen, für das ein NATO-Beitritt der Ukraine eine rote Linie ist. Aus diesen Unterdrückungsgefühlen heraus wurden auch die Bedürfnisse der russisch-verbundenen Ukrainer nicht verstanden, sondern diese wurden bekämpft.

Diesen Russland-Hass vor allem in der westukrainischen Bevölkerung führte zum Donbass-Krieg ab 2014. Mit dem Kriegseintritt Russlands 2022 wurden alle Vorurteile vollumfänglich bestätigt. Eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Eine kollektive emotionale Verletzung macht blind und engstirnig. Die Ukraine hätte den Krieg ganz einfach verhindern oder nach der Kriegsausweitung im Februar 2022 schnell beenden können. Sie hätte nur das Vorhaben in die NATO einzutreten aufgeben, die Abspaltung der Krim akzeptieren und den Donbass-Regionen föderale autonome Rechte geben müssen.

Es wäre ziemlich einfach gewesen und hätte auch nicht weh getan. Doch dazu hätte die ukrainische Bevölkerung und Regierung über ihre eigenen Schatten der kollektiven emotionalen Opfertraumatisierung springen und das Russland-Feindbild überwinden müssen.

Stattdessen führte die Ukraine – von der NATO finanziert, beliefert und angefeuert – einen aussichtslosen Krieg gegen das vielfach größere Russland. Nun sind Hunderttausende gestorben, fast die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung hat das Land verlassen. Ein Wahnsinn. Eine Tragödie im wahrsten Sinne des Wortes.

Nach dem Gespräch mit Jean habe ich den Eindruck, dass diese Tragödie bis zur Katharsis fortgeführt werden muss. Zu fest sind die Positionen. Erst eine Katharsis wird eine innere Reinigung ermöglichen.

Durch die ukrainische Offensive in der russischen Kursk-Region im August 2024 wurden nun von der Kiewer Regierung auch alle Hoffnungen auf Friedensverhandlungen zunichte gemacht. Der Krieg wird wohl bis zum bitteren Ende weitergehen.

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Thomas Mayer: Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg – Um was es wirklich geht
Oktober 2023, kartoniert, 600 Seiten, durchgehend farbig bebildert, Euro 28,-, Print-ISBN 978-3-89060-863-1, E-Book-ISBN 978-3-89060-483-1

Referenzen

i https://de.wikipedia.org/wiki/Assoziierungsabkommen_zwischen_der_Europ%C3%A4ischen_Union_und_der_Ukraine (abgerufen am 9.7.2024)

ii https://www.spiegel.de/politik/ausland/eu-abkommen-auf-eis-putin-bringt-ukraine-auf-ost-kurs-a-934875.html

iii https://de.wikipedia.org/wiki/Assoziierungsabkommen_zwischen_der_Europ%C3%A4ischen_Union_und_der_Ukraine#cite_note-deutschl-269721-14 (abgerufen am 9.7.2024)

iv https://www.zeit.de/politik/ausland/2013-12/janukowitsch-besuch-moskau-putin

v https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2015/4/billiges-gas-fuer-russlands-freunde/

vi Das bestätigt sogar der Spiegel: https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-faktencheck-putin-und-der-legitime-praesident-a-957238.html

vii https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_im_Donbas#Motivationen_und_Drahtzieher

viii https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-krise-wie-usa-und-russland-mit-propaganda-arbeiten-a-966009.html

Erstveröffentlicht in tkp – Der Blog für Science und Politik
https://www.spiegel.de/politik/ausland/ostukraine-russische-soldaten-kaempfen-an-der-seite-der-separatisten-a-988155.html

Wir danken dem Autor für das Publikationsrecht.

Vom Rüstungssektor zum Kriegsdenken

Noch mehr politischer Filz und Winkelzüge zur Entfernung der Friedensstatue Ari?

»nd« recherchierte und berichtet neue Details.

Schon die Streichung der Fördergelder für das begleitende Lernprojekt „gegen sexualisierte Gewalt in Kriegen“ erfolgte mit mutmaßlich „mafiosen“ Methoden. Wir informierten.

Alle Vorgänge sind restlos aufzuklären.

Kommt zum Protest am 19. Oktober 16 Uhr vor dem Rathaus Mitte! (Peter Vlatten)

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Die Friedensstatue in Mitte soll weichen – bei einem möglichen Nachfolgeprojekt zeigen sich fragwürdige Verbindungen

Ein Beitrag von Jule Meier, nd 15.09.2024

Aris Tage sind gezählt. Die Duldung für das Mädchen in traditioneller koreanischer Kleidung, das die Friedensstatue im Ortsteil Moabit zeigt, läuft am 28. September aus. Seit 2020 erinnert das Denkmal an die Geschichte der sogenannten Trostfrauen, die in Korea unter japanischer Kolonialherrschaft während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsprostituierte versklavt wurden. Der Korea-Verband hatte das Friedensdenkmal initiiert, um an sexualisierte Gewalt im Krieg zu erinnern.

Kurz bevor Ari gehen soll, ist ein neuer Akteur in der Diskussion um die Nachfolge des Mahnmals aufgetaucht: Der Berliner Verein Society against Sexual Violence in Conflict (SASVIC) hat sich bei der Kommission »Kunst im Stadtraum« des Bezirksamts darum beworben, ein eigenes Denkmal zur Erinnerung an sexualisierte Verbrechen im Krieg zu errichten. Vorsitzende der Kommission ist die Bezirksbürgermeisterin von Mitte, Stefanie Remlinger (Grüne).

SASVIC ist laut Vereinsregister und Aussagen von Vereinsschatzmeisterin Ines Rölekes gegenüber Ari zeige die Stärke, nicht aufgeben zu wollen, sagt Nataly Jung-Hwa Han. Auch sie will nicht aufgeben und hofft auf viel Unterstützung vor dem Rathaus Tiergarten am 19. September anlässlich der letzten Bezirksverordnetenversammlung vor der geplanten Demontage der Friedensstatue. Zu der Sitzung hat die Linksfraktion eine Anfrage gestellt, um das Antragsverfahren von Kunst im Stadtraum transparent zu machen.

Innerhalb der letzten Monate hat der Korea-Verband 3000 Unterschriften gesammelt, um für den Erhalt der Friedensstatue zu werben. »Es ist nicht nur in unserem Interesse, sondern im Interesse so vieler Bürger*innen in Berlin und weltweit, dass dieses aufrichtige Mahnmal an sexualisierte Gewalt im Krieg bleibt«, heißt es in dem Aufruf. am 21. Juni gegründet worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) bereits angekündigt, die Friedensstatue »verändern« zu wollen. Die Website des Vereins ist noch im Aufbau, lediglich Informationen zu den Vorständen lassen sich dort derzeit finden.

Sowohl Schatzmeisterin Röleke als auch der erste Vorsitzende Daniel Walther arbeiten für Higgins, eine Consulting-Firma, deren Anliegen es ist, »die Geschäfte westeuropäischer Firmen im Osten zu erweitern«. Walther selbst war vier Jahre lang beim Rüstungskonzern Cassidian Eads tätig, der mittlerweile zu Airbus Defence and Space gehört. Er war darüber hinaus bei der Jungen Union (JU). Während seiner Amtszeit als Schatzmeister im Bundesvorstand der JU sollen Spenden aus einer in der »arabischen Welt« tätigen Firma, in der Walther damals im Beirat gesessen haben soll, an die Junge Union geflossen sein. Diese soll im Gegenzug Kontakte zur Bundesregierung an jene Firma vermittelt haben. Das geht aus der Berichterstattung der »Taz« von 2014 hervor.

Tilo Fuchs ist der zweite Vorsitzende von SASVIC. Fuchs gilt als Vertreter des Realo-Flügels der Grünen im Bezirk Mitte. Ingrid Bertermann, Bezirksverordnete für Die Linke in Mitte, wundert es nicht, »dass ein altbekannter Akteur des grünen Realo-Flügels in Mitte nun in diese Geschichte involviert ist«. Sie versichert dem »nd«, dass Bezirksbürgermeisterin Remlinger, die ebenfalls seit langer Zeit Teil des Realo-Flügels der Grünen ist, und Tilo Fuchs einander kennen.

Die Schatzmeisterin des Vereins SASVIC zählt gegenüber »nd« eine Vielzahl an Opfergruppen auf, an die das neue Denkmal erinnern will. Zu den 16 verschiedenen Gruppen, die auf der Statue mit einem Symbol vertreten sein sollen, zählen etwa Jesiden, Ruander oder Ukrainer. Auffallend ist, dass der Verein südkoreanische Überlebende listet, dabei war Korea im Zweiten Weltkrieg nicht geteilt, wenngleich ein Großteil der »Trostfrauen« wegen der geografischen Nähe zu Japan aus dem Süden Koreas stammte. Auch russische Opfer sind nicht gelistet.

Schatzmeisterin Röleke erklärt, dass der SASVIC-Vorsitzende Daniel Walther »in seiner Funktion als Chairman der International Young Democrat Union (IYDU)« häufig in Konfliktgebieten unterwegs gewesen sei. »Kurdistan-Irak nach dem Irak-Krieg, Südkorea-Nordkorea, Terror in Kolumbien, diverse Konfliktgebiete in Afrika, die Straße von Taiwan und mehr hat er seitdem bereist«, sagt Röleke. Das Anliegen des Vereins sei es, eine temporäre Skulptur im Bezirk Mitte aufzustellen, »die einen allgemeinen und globalen Ansatz verfolgt, frei von Abgrenzungsproblematiken und einseitigen Adressaten«. Dem Thema sexualisierte Gewalt in Konflikten wolle man inklusiv begegnen. Dafür kooperiere man mit einer Vielzahl an Initiativen, unter anderem dem Verein »Justice for Lai Dai Han«, der laut eigener Website der Kinder vietnamesischer Frauen gedenkt, die während des Vietnamkrieges von südkoreanischen Soldaten vergewaltigt wurden.

Im Vorstand des Vereins Justice for Lai Dai Han sitzt unter anderem Rebecca Hawkins. Die Künstlerin soll das Denkmal gestalten, mit dem sich der Verein beim Bezirk Mitte bewirbt. Das bestätigte dem »nd« die Künstlerin selbst. Die Vorsitzende des Korea-Verbands, Nataly Jung-Hwa Han, sagte »nd«, dass der Verein Justice for Lai Dai Han nicht mit dem Korea-Verband kooperieren wolle, wenngleich sich der Korea-Verband kritisch mit den Kriegsverbrechen koreanischer Soldaten auseinandersetzen würde.

»Petrified Survivors« (Versteinerte Überlebende) lautet der Titel des Kunstwerks von Hawkins, das das neue Mahnmal gegen sexualisierte Gewalt im Krieg werden könnte. Das Denkmal sei »keiner spezifischen Überlebendengruppe gewidmet, sondern für alle Gruppen weltweit« sagt Hawkins dem »nd«. Dafür habe sie verschiedene Gruppen konsultiert, unter anderem die Gruppe Comfort Women Action for Redress & Education, die sich laut Website ebenfalls der Erinnerung an die Trostfrauen annimmt. Das Denkmal Hawkins’ soll laut eigener Aussagen unweit vom Antikriegsmuseum im Wedding errichtet werden, sofern das Bezirksamt den Antrag des Vereins zustimmt.

Hawkins sagt, die Statue sei völlig unabhängig von der »koreanischen Friedensstatue und den Bemühungen, diese zu entfernen«. Zu einer weiteren Arbeit der Künstlerin gehört laut ihrer Website das Gurkha-Denkmal, das Soldaten im Einsatz des britischen Militärs gedenkt: Es zeigt einen Soldaten in Uniform mit Maschinenpistole und steht im englischen Folkestone. »Zum Zeitpunkt der Fertigstellung zeigte die Skulptur die modernste Militärausrüstung, die bei Feldzügen im Irak und in Afghanistan getragen wurde«, schreibt die Künstlerin auf ihrer Website.

Nicht nur die Künstlerin Rebecca Hawkins, sondern auch der Verein SASVIC und die Bezirksbürgermeisterin Remlinger argumentieren für ein Mahnmal, das mehr Universalität mit sich bringe, als es Ari derzeit täte. Remlinger sagte dem »nd«, sie möge die Friedensstatue. Sie habe sie inspiriert, sich für ein Bundesdenkmal gegen sexualisierte Gewalt in Kriegen einzusetzen. »Dieses müsste dann allerdings auch mehr als ausschließlich den koreanisch-japanischen Konflikt behandeln«, sagt sie. Bisher ist es in der deutschen Erinnerungskultur durchaus üblich, dass spezifischer Opfergruppen des Zweiten Weltkriegs gedacht wird. Warum dies in diesem Fall nicht möglich sein soll, ist durchaus fragwürdig.

»Es ist nicht nur in unserem Interesse, sondern im Interesse so vieler Bürger*innen in Berlin und weltweit, dass dieses aufrichtige Mahnmal an sexualisierte Gewalt im Krieg bleibt.« -Nataly Jung-Hwa Han Vorsitzende des Korea-Verbands

Nataly Jung-Hwa Han, Vorsitzende des Korea-Verbands, ist irritiert vom Auftauchen der Bewerber*innen. Die Vorstandsmitglieder von SASVIC kenne sie nicht. Sie ist verwundert, dass Remlinger bereits am 19. Juli von dem Kunstwerk Hawkins’ und seiner Einweihung im Frühjahr 2025 gesprochen haben soll, obwohl von der Kommission Kunst im Stadtraum bisher keine Entscheidung vorliegt. Auch habe das Bezirksamt den Eingang eines Antrags des Korea-Verbands, die Friedensstatue länger zu erhalten, bislang nicht bestätigt. Dass der Antrag ohne Eingangsbestätigung vorliegt, bestätigt auch das Linke-BVV-Mitglied Ingrid Bertermann. Bezirksbürgermeisterin Remlinger sagte »nd« jedoch, dass nur ein Antrag beim Bezirksamt eingegangen sei – und zwar der vom Verein SASVIC mit der Künstlerin Rebecca Hawkins.

Grundsätzlich begrüße der Korea-Verband, wenn das Thema sexualisierte Gewalt im Krieg mehr diskutiert werde. Verbandsvorsitzende Han will das Werk Hawkins’ nicht mit der Friedensstatue vergleichen. »Aber meine Erfahrung mit Ari ist: Viele Menschen können sich mit dieser Statue identifizieren.« Der leere Stuhl neben Ari gebe Raum für diverse Betroffene, so steht es auch im Manifest zur Friedensstatue.

Ari zeige die Stärke, nicht aufgeben zu wollen, sagt Nataly Jung-Hwa Han. Auch sie will nicht aufgeben und hofft auf viel Unterstützung vor dem Rathaus Tiergarten am 19. September anlässlich der letzten Bezirksverordnetenversammlung vor der geplanten Demontage der Friedensstatue. Zu der Sitzung hat die Linksfraktion eine Anfrage gestellt, um das Antragsverfahren von Kunst im Stadtraum transparent zu machen.

Innerhalb der letzten Monate hat der Korea-Verband 3000 Unterschriften gesammelt, um für den Erhalt der Friedensstatue zu werben. »Es ist nicht nur in unserem Interesse, sondern im Interesse so vieler Bürger*innen in Berlin und weltweit, dass dieses aufrichtige Mahnmal an sexualisierte Gewalt im Krieg bleibt«, heißt es in dem Aufruf.

Wir danken »nd« für die Publkationsrechte.

mehr zum Thema: "Wegner lässt Fördergelder für Projekt „gegen sexualisierte Gewalt in Kriegen“ streichen – Berliner Zivilgesellschaft wütend"

Titelfoto Peter Vlatten

“Wir fordern Euch auf, eine eindeutig antirassistische und internationalistische Position zu beziehen.”

Den Kriegskurs erfolgreich bekämpfen, das verlangt letztlich, sich mit den arbeitenden Menschen breit zusammenzuschliessen. Antirassistisch und internationalistisch.

Parlamentarische Erfolge gegen den Kriegskurs werden niemals ausschlaggebend dazu führen, dass die Zeitenwende zurückgedreht werden kann. Auch die wesentlich stärkere Friedensbewegung vor mehreren Jahrzehnten konnte die Stationierung der Mittelstreckenraketen nicht verhindern. Dazu hätte es neben Massendemonstrationen schlagkräftiger politischer Streiks bedurft, die den mit dem Kriegskurs verbundenen Kapitalinteressen nachhaltig weh tun.

Wer die Menschen mit migrantischem Hintergrund vor den Kopf stößt, erweist dem Friedenskampf einen Bärendienst. Rassismsus treibt die Spaltung der Arbeitenden voran. In meinem ehemaligen Automobilwerk mit über 40 000 Beschäftigten arbeiten Menschen aus 187 Nationen zusammen. Nur wer die 187 Finger zu einer Faust zusammenballt, hat die Kraft die Dinge progressiv zu verändern. Die Friedensbewegung muss mit allen imperialen und hegemonialen Bestrebungen im eignen Land konsequent brechen. Dazu gehört untrennbar eine klare Absage an Rassismus und Rechtspopulismus! Nur so wird der 3.Oktober zu einer nachhaltigen Kampfansage an die Zeitenwende. Gestalten wir ihn antirassistisch und internationalistisch.

Jede Mobilisierung und Aufklärung gegen Militarismus und Kriegseskalation ist anerkennenswert. Selbstverständlich müssen auch bürgerliche und konservative Menschen in einem breiten Friedensbündnis einbezogen werden. Aber bitte mit gleichem Respekt für alle. Und man sollte diejenigen, die am Ende die Kohle aus dem Feuer holen müssen, nicht ans Schienbein treten. Das wäre – um ein beliebtes Neuwort zu verwenden – schlichtweg „unvernünftig“.

Wer zurecht den rassistisch-nationalistischen Banderakult unter Selensky in der Ukraine brandmarkt, aber gleichzeitig die Migrationsfeindlichkeit im Inland fördert, macht sich ebenso unglaubwürdig wie alle, die hier laut Antifa rufen, aber gleichzeitig die menschenrechts- und völkerrechtswidrige zionistische Politik Israels in Palästina verharmlosen oder sogar unterstützen.

Unser Motto lautet „Wir ziehen nicht in Eure Kriege – grenzenlose Solidarität!“ Wir publizieren hierzu im Folgenden einen eindringlichen Appell der Sol. Er bezieht sich auf die BSW Erklärung „Solingen muss eine Zeitenwende in der Fluchtlingspolitik bringen„.

Wir halten einen offenen Diskurs für dringend geboten. Wir sehen uns am 3.Oktober.

Offener Brief an Mitglieder des Bündnis Sahra Wagenknecht

An: Friederike Benda, Judith Benda, Ali Ai-Dailami, Sevim Dagdelen, Andrej Hunko, Christian Leye

Liebe Genossinnen und Genossen,

wir schreiben Euch an, weil wir als Mitglieder der Sozialistischen Organisation Solidarität (Sol und früher teilweise der SAV) Euch in den letzten Jahren und Jahrzehnten als Sozialist*innen und Internationalist*innen kennengelernt bzw. wahrgenommen haben. Mit manchen von Euch haben wir in der WASG und/oder der Linkspartei, in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gemeinsam debattiert, gestritten und gekämpft, nicht zuletzt auch gegen Rassismus, Rechtspopulismus und Neofaschismus.

Wir schreiben Euch an, weil wir nicht glauben können und wollen, dass Ihr den Kurs von Sahra Wagenknecht und des BSW in der Asyl- und Migrationspolitik tatsächlich unterstützt. Wir wollen Euch auffordern, dazu Position zu beziehen und auch im BSW für antirassistische und internationalistische Positionen zu kämpfen.

Die Verschärfungen der Asylgesetze, die nach dem Attentat von Solingen in Windeseile von der Ampelregierung mit Unterstützung der CDU beschlossen wurden, markieren einen gefährlichen Rechtsruck der herrschenden Politik. Sie werden keinen Beitrag dazu leisten, auch nur einen Anschlag rechts-islamistischer Terroristen zu verhindern, aber führen dazu, dass die Diskriminierung von Muslimen/Muslimas und Migrant*innen und die Gefahr von Übergriffen und Morden an ihnen zunimmt und sich Neonazis und Rechtsextreme weiter aufbauen und radikalisieren. Gleichzeitig erhöhen sie die Gefahr, dass Muslime und Muslimas in die Arme reaktionärer Kräfte wie Islamischer Staat und anderer Dschihadisten getrieben werden.

Die Ausweitung polizeilicher Befugnisse, wie sie zum Beispiel hinsichtlich verdachtsunabhängiger Kontrollen diskutiert werden, wird nicht nur Unterstützer*innen des rechten politischen Islam treffen, sondern alle Migrant*innen und potenziell auch Linke, Gewerkschafter*innen, Umweltaktivist*innen, die Palästina-Solidaritätsbewegung und viele andere.

Leider gehört Sahra Wagenknecht mittlerweile zu den Taktgeber*innen von Verschärfungen beim Asyl- und Migrationsrecht. Und das nicht erst seit Solingen.

Seit Jahren tätigt Sahra Wagenknecht Aussagen, die migrationsfeindlich sind und die die Spaltung innerhalb der Arbeiter*innenklasse vertiefen. Ob ihre Bezeichnung des Asylrechts als „Gastrecht“ nach der Kölner Silvesternacht, ob die Herstellung eines kausalen Zusammenhangs von Zuwanderung und Gewalt („Unkontrollierte Einwanderung führt zu unkontrollierter Gewalt“), Forderungen nach Leistungskürzungen für Asylbewerber*innen oder die Ausweitung der Zahl sogenannter sicherer Drittstaaten.

Das Kalkül, der AfD durch eine Übernahme von rechtspopulistischen Positionen in der Asyl- und Migrationspolitik Stimmen abzujagen, ist weder bei der Europawahl noch bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen aufgegangen. Ihr werdet dem nun vielleicht entgegnen, dass ohne den BSW-Antritt die AfD noch mehr Stimmen erhalten hätte. Dafür gibt es keine belastbaren Fakten. Aber selbst wenn dem so wäre, kann es doch nicht das Ziel von Linken und Antirassist*innen sein, die Stärkung der AfD dadurch zu bremsen, selbst migrant*innenfeindliche Positionen einzunehmen.

Denn die Wirkung von Sahra Wagenknechts Positionen und Rhetorik ist, dass das Narrativ von AfD und CDU/CSU, die Migration sei ursächlich verantwortlich für soziale Missstände oder Gewalt, bedient wird, dadurch die lohnabhängige und sozial benachteiligte Bevölkerung entlang nationaler und religiöser Linien gespalten wird und Widerstand gegen die sozialen Missstände und die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse so erschwert wird.

Wir finden es falsch, dass Ihr eine Partei gegründet habt, die sich von den sozialistischen Traditionen der Arbeiter*innenbewegung, in der Die Linke zumindest ihrem Programm nach steht, abgewendet hat und die die Mär von der sozialen Marktwirtschaft propagiert. Eine Partei, die nicht mehr, die Klassen- und Systemfrage formuliert. Eine Partei, die eine stark zentralistische Struktur aufweist, (zumindest bisher) keine breite Mitgliederpartei ist, die eine Stellvertreter*innenpolitik betreibt und nicht den Aufbau von klassenbezogener Selbstorganisation und Massenmobilisierungen in den Mittelpunkt ihres Tuns stellt. Wir können nachvollziehen, dass Euch die in der Linkspartei existierenden Positionen für eine militärische Unterstützung des ukrainischen Regimes und des Staats Israels in den gegenwärtigen Kriegen in diesen beiden Regionen empören, wenn wir auch der Meinung sind, dass der Antikriegsbewegung mehr geholfen gewesen wäre, den notwendigen Kampf dazu auch innerhalb der Linken auszufechten.

Aber wir können nicht nachvollziehen, dass Ihr zu den migrant*innen- und asylfeindlichen Positionen, die Sahra Wagenknecht vertritt, schweigt. Mit Eurem Schweigen macht Ihr Euch mitverantwortlich für die Verschiebung der gesellschaftlichen Diskurse und Stimmungen zu diesen Themen nach rechts und für den Rückenwind, den die AfD und auch militante Neonazis dadurch erhalten.

Wir fragen Euch, wie Ihr zu diesen Positionen des BSW steht und fordern Euch – in Erwägung, dass Ihr sie eigentlich nicht unterstützt – dazu auf, innerparteilich, aber auch öffentlich dagegen Position zu beziehen und Euch für das Recht auf Asyl, gegen Abschiebungen (nicht nur nach Afghanistan und Syrien), weitere Asylrechtsverschärfungen und Ausweitung staatlicher Kompetenzen einzusetzen und eine eindeutig antirassistische und internationalistische Position zu beziehen.

Sozialistische Grüße

Sascha Staničić, Sol-Bundessprecher und Mitglied der Linken und AKL

Ursel Beck, Mitglied im Vorstand des Linke Ortsverband Stuttgart-Bad Cannstatt, Delegierte zum Bundesparteitag der Linken

Frank Redelberger, Stadtrat für Die Linke in Lemgo

Wolfram Klein, Mitglied im Vorstand des Linke Ortsverband Stuttgart-Bad Cannstatt und des Landessprecher*innenrats der AKL Baden-Württemberg

Martin Löber, ver.di-Betriebsrat* in Köln und aktiv in der AG B&G der Linke Kreisverbands Köln

Christian Walter, ehemlaiger Landesgeschäftsführer der Linksjugend[‘solid] NRW

Max Klinkner, ehemaliges Mitglied des LSPR der Linksjugend[‘solid] Rheinland-Pfalz

Jasper Proske, ehemaliger Stadtrat für Die Linke in Mainz

Katja Sonntag, Gewerkschaftssekretärin* und ehemalige Delegierte zum Linke Bundesparteitag

René Arnsburg, Mitglied im Landesbezirksvorstand von ver.di Berlin-Brandenburg* und Linke-Mitglied

Alexandra Arnsburg,Mitglied im verdi Landesbezirksfachbereichsvorstand A Berlin-Brandenburg, ver.di Landesfrauenrat*

Jens Jaschik, ehemaliges Mitglied im LSPR der Linksjugend[‘solid] NRW

Tristan Kock, ehemaliges Mitglied des Linke-Kreisvorstands Borken

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