Bundesweit ist der neue Dokumentarfilm über Petra Kelly, angelaufen: „Act now!”. Er erzählt das Leben der Umweltaktivistin, von ihrem Engagement in der US-Bürgerrechtsbewegung und für Robert Kennedy, im Wahlkampf des Demokraten Hubert Humphrey bis hin zu ihrem kompromisslosen Widerstand gegen die Stationierung von US-Raketen in Deutschland, für Menschenrechte und Umweltschutz. Kein Zweifel, Petra war keine Realo, sondern eine fundamentalistische Kämpferin.
Und das sind die Stärken des Streifens: die Archivaufnahmen aus ihrer Zeit als EU-Verwaltungsrätin, die schon damals propagierte, dass der Kampf auf der Straße wichtiger sei als der in den Parlamenten. Kelly, Feministin der ersten Stunde, fühlte sich in Brüssel zwischen all den Schlipsträgern und Wichtigtuern nicht wohl, sie zog die Tribüne vor. Auch nach der Gründung der Grünen Partei lehnte sie die Pöstchenjäger und die männlichen Seilschaften an den Kneipentischen ab. Da sieht man im Film den selbstgerechten Joschka Fischer große Sprüche klopfen und dazu die Stimme der Graswurzel-Petra; und da wir alle wissen, wie Herr Fischer seine politische Karriere beendete, ist auch jeder weiterer Kommentar überflüssig.
Interessant zu hören sind ihre Worte über die Verfolgung durch die Truppe des Rechtsradikalen Lyndon LaRouche, dem enge Verbindungen zur CIA nachgesagt wurden und deren Mitglieder sie mehrfach mit dem Tode bedrohten. Heute tritt diese Politsekte als Schiller-Institut und Europäische Arbeiter-Partei um Helga Zepp-LaRouche auf und stiftet Verwirrung in den Bewegungen. Dieses ausgegrabene Archivmaterial lohnt den Weg ins Kino.
Kelly kombiniert mit Ukraine-Fahnen
Dann aber verlässt Doris Metz ihre Rolle als Erzählerin mit der gebotenen Distanz und Ausgewogenheit. So unterlegt sie ein Plädoyer Kellys mit aktuellen Aufnahmen, die Ukraine-Fahnen-Schwingende zeigen. Nun könnte man im Film durchaus ihre damalige Position den heutigen Waffenlieferungen der regierenden Grünen an Selenskij gegenüberstellen und den Zuschauer nachdenken lassen. Schließlich hatte sich Kelly stets für den radikalen gewaltfreien Widerstand ausgesprochen. Darauf verzichtet die Regisseurin aber. Es bleibt bei den Bildern der Ukraine-Fahnen, womit unterschwellig wohl ein Zusammenhang zwischen Kriegstüchtigkeit und Pazifismus untergejubelt werden soll.
Und man fragt sich, warum über lange Strecken ausgerechnet Luisa Neubauer von Fridays for Future zu Wort kommt, die erst vier Jahre nach dem Tod der Grünen-Ikone geboren wurde. Neubauer stellt sich in eine Reihe mit Petra, sozusagen als Feministin auf Augenhöhe, wobei sie eher den Karrieristinnen der Grünen Partei zugerechnet wird und mit Radikalität wenig gemein hat.
Dann versteigt sich die Regisseurin auch noch zu der Annahme, dass Petra Kelly heute wahrscheinlich mit den Klima-Klebern der Letzten Generation eine neue Partei gründen würde. Woher sie diese Annahme nimmt, verschweigt sie. Kelly bewunderte Frauen wie Rosa Luxemburg und die Russin Alexandra Kollontai. Und in ihrem Engagement setzte sie nicht auf Belehrung oder Zerstörung von Kulturgütern, sondern auf Basisdemokratie. Vermutlich würde sie heute gegen den neuen Kolonialismus auf die Barrikaden gehen und an der Seite von Greta Thunberg den Völkermord in Gaza anklagen – ganz anders als dies die deutsche Sektion von FFF tut.
Krude ist die Darstellung des Todes der Protagonistin
Kelly lebte zu diesem Zeitpunkt, 1992, mit dem Ex-General Gert Bastian zusammen, Friedensaktivist wie sie. Die Umstände wurden niemals aufgeklärt. Die erste, halboffizielle Version war die eines gemeinsamen Selbstmordes; Bastian habe mit seiner Waffe zuerst die schlafende Petra erschossen und dann sich selbst.
Die Regisseurin präsentiert nun aber eine neue Theorie. Das ist an sich nicht unzulässig, da viele Fragen ja noch offen sind. Doch wenn sie schon mit verschiedenen Hypothesen spielt, dann sollte sie auch alle aufzählen, und nicht nur die, die ihr Vorurteil bestätigt. Metz interviewt die ehemalige Bürovorsteherin von Bastian in Bonn, die zwar keine Belege und schon gar keine Beweise für ihre Annahme hat, dass Bastian seine Freundin gegen deren Willen erschossen hat, weil er die Offenlegung von BStU-Akten fürchtete, die seine (angeblichen) Stasi-Kontakte belegen würden. Auch Otto Schily, der Ober-Realo und Gegenspieler Kellys in der Grünen-Fraktion, darf sich mehrfach und ausführlich zu diesem Verdacht äußern. Auch er muss zugeben, dass es keinerlei Belege dafür gibt, aber es habe diesen Verdacht gegeben. Und, so ein weiteres Statement, die gemeinsame Ehrung von Kelly und Bastian durch die Partei sei ein Fehler gewesen, da Letzterer wohl der Mörder gewesen sei.
Nun hätten sich Kohl und seine CDU sicherlich über entsprechende Aktenfunde gefreut, die bewiesen hätten, dass diese lästigen Pazifisten doch im Grunde nur Agenten Honneckers gewesen seien. Diese Funde sind bis heute nicht aufgetaucht. Vermutlich geht es nur um politische Leichenfledderei.
Auch die Theorie Nummer Drei, ein menschliches Drama, wird nicht weiter untersucht, die Theorie des verzweifelten alten Mannes, der seine junge und nach vorne blickende Frau lieber erschießt, als sie aufgibt. Für diese Theorie spräche, dass Bastian privat unter Druck stand und seine Lebensgefährtin bereits sehr krank und von Angstpsychosen geplagt war.
Und schließlich könnte man, der Vollständigkeit halber, eine vierte These in den Raum stellen, nicht nur die östlichen Geheimdienste, sondern auch die CIA erwähnen. Könnte sie erst die schlafende Kelly und dann Bastian, der vom Schuss aufgewacht ist, überwältigt und ihm den Revolver in die Hand gelegt haben? Beweise für die These gibt es ebenso wenig wie für die Metz-Theorie, aber immerhin ein starkes Motiv: Anfang der neunziger Jahre war den US-Diensten längst klar, dass sie eine einst systemkritische und fundamentalistische Anti-Partei nicht umbauen könnten mit einer rebellierenden und international angesehenen Petra Kelly. Ohne sie hätten sich Leute wie Schily, Fischer und Habeck kaum so einfach durchsetzen können und ihre Prioritäten nicht mehr bei Menschenrechten und Umweltschutz gesehen. sondern innerhalb der NATO-Logik im Militarismus.
Eine aufschlussreiche Analyse eines erfahrenen Friedensaktivisten jenseits der jeweiligen Parteibrillen im linken Spektrum. Lesenswert für jeden, der nicht der „Cancelculture“ frönt. (Peter Vlatten)
Titelbild Pressenza: Björn Höckes Wahlplakat in Thüringen mit Anspielung auf Forderungen die Partei zu verbieten.
In den beiden ostdeutschen Bundesländern Thüringen und Sachsen, in denen am 1. September gewählt wurde, erhielt die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) bei einer Wahlbeteiligung von 73,5 % mehr als 30 % der Stimmen, während die Parteien der Regierungskoalition (Sozialdemokraten, Grüne und Liberale) und die Linke eine schwere Niederlage erlitten. Links hat hingegen das Sahra Wagenknecht-Bündnis ein gutes Ergebnis erzielt.
Darüber spricht Anna Polo von der italienischen Redaktion mit Reto Thumiger, Redakteur in Berlin.
Anna Polo: Wie erklärst Du dir dieses Wahlergebnis?
Reto Thumiger: Das Wahlergebnis in Thüringen und Sachsen ist der bisher deutlichste Ausdruck der wachsenden Unzufriedenheit der Wählerinnen und Wähler in Deutschland. Die fortschreitende Deindustrialisierung, die stark steigenden Lebenshaltungskosten und Energiepreise, der marode Zustand des Bildungs- und Gesundheitswesens, die immer weiter zerfallende Infrastruktur des Landes sowie die zunehmende soziale Ungleichheit und der Zerfall der Mittelschicht stehen im scharfen Kontrast zu den Milliarden, die gleichzeitig in die Rüstung und Waffenlieferungen investiert werden. Das soll erst der Anfang sein, da die Bundesrepublik wieder kriegstüchtig werden soll. Es breiten sich Abstiegsängste und die Furcht aus, dass Deutschland direkt in einen Krieg verwickelt werden könnte. Die Stimmung im Osten Deutschland ist besonders mies, da sich die Menschen in den Bundesländern der ehemaligen DDR als Bürger zweiter Klasse fühlen und von dieser Entwicklung besonders stark betroffen sind. Doch dieses Wahlergebnis setzt lediglich den Trend fort, der bereits bei den Europawahlen sichtbar wurde, und auch die Umfragen für die kommenden Bundestagswahlen deuten in dieselbe Richtung, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie in Sachsen und Thüringen.
Das Votum richtet sich sowohl gegen die jeweiligen Landesregierungen als auch gegen die Ampel-Koalition auf Bundesebene. Man muss sich vor Augen führen: In Sachsen kommen die drei Regierungsparteien zusammen gerade einmal auf 12,7 %, in Thüringen sogar nur noch auf 10,4 %. Die FDP wurde regelrecht pulverisiert und ist zusammen mit den Grünen in beiden Landtagen nicht mehr vertreten. Nur die Sozialdemokraten haben mit Mühe die 5%-Hürde überwunden. Die Christdemokraten mussten zwar Verluste hinnehmen, sind in Sachsen aber knapp vor der AfD stärkste Kraft geblieben, während sie in Thüringen mit 10 Prozentpunkten Rückstand hinter der AfD auf den zweiten Platz gefallen sind. Obwohl die CDU mit 16 Jahren Merkel-Regierung mindestens genauso viel Verantwortung für das aktuelle Desaster trägt wie SPD, Grüne und FDP, ist sie mit einem blauen Auge davongekommen.
Die Strategie der etablierten Parteien, die AfD kleinzuhalten, hat offensichtlich versagt. Besonders im Osten haben die Menschen genug von der erzwungenen Wahl des kleineren Übels nach dem Motto: ‚Gebt uns eure Stimme, sonst wird es noch schlimmer.‘
Wie groß ist die Gefahr, die von der AfD ausgeht?
Die AfD deckt ein breites Spektrum ab, das von rechtskonservativen bis hin zu rechtsextremen Positionen reicht. Wenn man sie einfach generell als Nazi-Partei abtut, greift das zu kurz. Aber gerade die Führungsspitze gehört eher zum rechtsextremen Flügel und viele ihrer führenden Köpfe sind wahre Meister im Austesten der Grenzen des in Deutschland Sagbaren. Am bekanntesten ist wohl das Zitat von Alexander Gauland, Ehrenvorsitzender der AfD und Bundestagsabgeordnete: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“. Björn Höcke, eine der einflussreichsten und radikalsten Figuren innerhalb der Partei, zeigt seine politische Einstellung offen, wenn er zum Beispiel sagt: ‚Das Problem ist, dass Hitler als absolut böse dargestellt wird,‘ oder in seinem Buch schreibt: ‚Neben dem Schutz unserer nationalen und europäischen Außengrenzen wird ein groß angelegtes Remigrationsprojekt notwendig sein‘. Das hat dazu geführt, dass Marine Le Pen die Partei aus ihrer Fraktion im Europäischen Parlament ausgeschlossen hat und selbst Giorgia Meloni jegliche Zusammenarbeit mit ihr ablehnt. Selbst weit rechts stehende Parteien wie die Front National oder die Fratelli d’Italia mit postfaschistischen Wurzeln gehen gegenüber der deutschen AfD auf Distanz.
Die desaströse Politik von CDU, SPD, Grünen und FDP, kombiniert mit der sogenannten ‚Brandmauer‘ – der vollständigen politischen Isolation der AfD – sowie dem Fehlen einer glaubwürdigen politischen Alternative, haben die AfD zur perfekten Protestwahl gemacht. Der Aufstieg der AfD ist auch ein Ergebnis des Versagens der Partei DIE LINKE, die es nicht geschafft hat, als einzige echte programmatische Alternative wahrgenommen zu werden. Zudem wurde sie durch ständige interne Streitereien weiter geschwächt, was schließlich zur Abspaltung des Bündnisses um Sahra Wagenknecht führte – worauf ich später noch eingehen werde.
Es ist natürlich schwer vorherzusagen, wie sich die AfD verhalten wird und welche Strömung sich innerhalb der Partei durchsetzen könnte, sollte sie die Brandmauer durchbrechen und entweder an einer Regierung beteiligt werden oder die angestrebte absolute Mehrheit erreichen und sie somit alleine regierungsfähig wäre. In jedem Fall ist dieser Gedanke äußerst besorgniserregend, und wir werden es leider erleben.
Ein genauerer Blick ins Parteiprogramm zeigt, dass die AfD eindeutig eine Kriegspartei ist. Zwar plädiert sie im Ukrainekrieg für einen Verhandlungsfrieden, unterstützt jedoch gleichzeitig das Zwei-Prozent-Ziel der NATO, also die Finanzierung einer massiven Aufrüstung und die weitere starken Erhöhung des Verteidigungshaushalts – was zur Folge hätte, dass noch weniger Geld für Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser, Infrastruktur und Sozialleistungen zur Verfügung stünde. Zudem befürwortet die AfD die NATO-Ost- und Norderweiterung sowie die Waffenlieferungen an Israel. Offensichtlich übertrumpft in der Partei die Islamophobie den Antisemitismus. Sie ist auch eine neoliberale Partei: Es gibt keine Forderungen nach einer anderen Steuerpolitik, keine Erbschafts- oder Vermögenssteuer, und sie tritt nicht für eine stärkere Besteuerung höherer Einkommen ein. Auch in der Lohn- und Rentenfrage vertritt sie nicht die Interessen der breiten Bevölkerung. Die Gründe, warum die AfD gewählt wird, stehen oft im völligen Widerspruch zu den tatsächlichen Inhalten ihres Parteiprogramms. Diese Widersprüche haben jedoch kaum Auswirkungen auf die Wahlentscheidung, was meines Erachtens nur durch die Irrationalität und die kognitive Dissonanz unserer Zeit erklärt werden kann.
Ich denke, wir erleben eine sehr gefährliche Entwicklung, von der die AfD profitiert – oder die sie selbst als Symptom verkörpert. Wenn CDU und AfD in Sachsen zusammen auf 62,5 % und in Thüringen auf 56,4 % kommen, müssen wir von einem massiven und besorgniserregenden Rechtsruck in der Bevölkerung sprechen. Wenn ehemals linke Parteien wie die Sozialdemokraten (SPD) und die Grünen zu den größten Kriegstreibern und Ausführungsgehilfen des Neoliberalismus geworden sind, steuern wir auf US-amerikanische Verhältnisse zu, wo die Wahl nur zwischen Parteien besteht die beide eine rechte, neoliberale und militaristische Politik vertreten – nur mit fünf statt zwei Parteien.
Es braucht auch nicht eine AfD, um der Demokratie den endgültigen Schlag zu versetzen. Der Zerfall demokratischer Institutionen, die Konzentration der Unternehmensmedien, die Einschränkung der Pressefreiheit und die zunehmend autoritäre Regierungsführung zeigen deutlich, dass der globale Finanzkapitalismus die repräsentative Demokratie hinter sich lässt und durch einen neuen Autoritarismus ersetzt wird. In diesem System werden politische Entscheidungen immer stärker von wirtschaftlichen Eliten und multinationalen Konzernen bestimmt, während die politische Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger weiter eingeschränkt wird. Demokratie wird in diesem Kontext zur Fassade, hinter der sich Machtstrukturen verbergen, die auf wirtschaftlicher Kontrolle und globaler Ungleichheit beruhen. Dies führt zu einem politischen System, das auf Technokratie und Oligarchie basiert, in dem demokratische Werte wie Gleichheit, Teilhabe und Freiheit immer weiter ausgehöhlt werden. Der Kapitalismus hat bereits im letzten Jahrhundert gezeigt, dass er zwar die formale Demokratie als Regierungsform bevorzugt, aber problemlos mit rechtsextremen und faschistischen Regierungen koexistieren kann. An großzügigen Großspendern scheint es der AfD jedenfalls nicht zu mangeln – der Kapitalismus hat schließlich immer viele Eisen im Feuer.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht, welches sich selbst als «linkskonservativ» bezeichnet hat einen fulminanten Start hingelegt. Wie schätzt du diese Partei ein?
Sahra Wagenknecht trat im Oktober letzten Jahres gemeinsam mit weiteren Bundestagsabgeordneten aus der Partei DIE LINKE aus, da sie die endlosen Querelen und Richtungskämpfe in der Partei satt hatte. Neun Monate nach der offiziellen Gründung ihrer neuen Partei, noch ohne bundesweite Strukturen, erzielte sie bei den Europawahlen aus dem Stand 6,2 % der Stimmen und erreichte bei den Landtagswahlen in beiden Bundesländern zweistellige Wahlergebnisse. Damit wurde ihre Partei auf Anhieb zur drittstärksten Kraft – der schnellste Aufstieg einer neuen Partei in der Geschichte der Bundesrepublik.
Für die einen ist die BSW die Hoffnung, den Aufstieg der AfD und den Rechtsrutsch zu stoppen und linker Politik wieder mehr Gehör zu verschaffen. Ich benutze den Begriff ‚links‘ hier im Sinne von sozial, progressiv, internationalistisch und pazifistisch. Gleichzeitig vertritt die Partei jedoch eine sehr restriktive Migrationspolitik. Sie fordert ein Ende der Willkommenskultur, lehnt staatliche Leistungen für abgelehnte Asylbewerber ab und verlangt deren konsequente Abschiebung. Zudem plädiert sie für Asylverfahren in Drittstaaten, damit Flüchtlinge ihren Status gar nicht erst in der Bundesrepublik klären lassen können. Diese Haltung steht in starkem Kontrast zu den anderen Punkten die sie vertritt und widerspricht dem, wofür bedeutende Führungspersonen in der Partei wie Sevim Dağdelen, Andrej Hunko oder Fabio De Masi sich jahrelang eingesetzt haben. Möglicherweise handelt es sich dabei um Wahlpragmatismus – was es jedoch nicht besser macht. Infolgedessen wird der Partei andererseits rechtslastige Rhetorik und Populismus vorgeworfen.
Migration scheint plötzlich die Mutter aller Probleme zu sein – eine Auffassung, die inzwischen scheinbar von einer Mehrheit in der Bevölkerung geteilt und von immer mehr Parteien dankbar aufgegriffen wird. Dabei ist diese Sichtweise völlig verfehlt, denn der wirtschaftliche Abstieg, die zunehmende Konzentration von Reichtum sowie der Abbau des Gesundheits- und Bildungswesens haben nichts mit Migration zu tun, und die fehlenden Geldmittel sind nicht auf die sogenannte ‘Willkommenskultur’ zurückzuführen. Solche Argumente lenken nur von den wahren Verantwortlichen ab: dem Versagen der Regierungen und ihrem Verrat an den Interessen der Wählerschaft. Gleichzeitig werden die eigentlichen Ursachen von Migration vollkommen ignoriert. Die extraktive Wirtschaft und die Ausbeutung des globalen Südens – die wesentlich zur Rolle Deutschlands als Exportweltmeister beigetragen haben – sowie eine Konsumgesellschaft, die übermäßig Ressourcen verbraucht und die Umwelt belastet, sind zentrale Faktoren. Hinzu kommen die militärische Beteiligung an internationalen Konflikten und die Waffenlieferungen in Krisengebiete. Diese Faktoren führen zu wirtschaftlicher Ausbeutung, Umweltzerstörung und Instabilität in den Herkunftsländern, wodurch viele Menschen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen.
Und welche Rolle spielt der Ukrainekrieg in den Wahlen?
Existenziell besorgniserregend ist die zunehmende Kriegsrhetorik und die Schritte in Richtung einer Eskalation mit Russland im Ukrainekrieg, bei dem Deutschland schon seit geraumer Zeit eine Kriegspartei geworden ist. Kein anderes europäisches Land scheint so entschlossen, in einen Krieg verwickelt zu werden, wie Deutschland – allen voran die Grünen, die zusammen mit den beiden anderen Regierungsparteien die Militarisierung vorantreiben. Dass die Grünen einst aus den Protesten gegen die Pershing-Stationierung als pazifistische Partei hervorgingen, gehört inzwischen einer längst vergessenen Vergangenheit an. Die LINKE und die BSW sind die einzigen Parteien im Bundestag, die sich konsequent für Frieden und Abrüstung einsetzen, doch sie bilden nur eine kleine Minderheit. Sätze wie „Nie wieder Krieg“, die in Deutschland zu einem zentralen Ausdruck der Ablehnung von Militarismus und Nationalsozialismus wurden, oder das Zitat von Willy Brandt: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts“, geraten zunehmend in Vergessenheit und stattdessen fordert der Verteidigungsminister Pistorius von den Deutschen wieder Krieg zu lernen.
Dass Bundeskanzler Scholz der Forderung aus Washington zur Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland ohne Debatte in der Öffentlichkeit im Parlament oder innerhalb der eigenen Partei zugestimmt hat, ist der nächste Schritt in einer brandgefährlichen Politik. Die Stationierung dieser Raketen so nahe an der russischen Grenze lässt Russland praktisch keine Vorwarnzeit und bringt die Welt damit einen weiteren Schritt näher an einen Atomkrieg. Zudem erhöht sie das Risiko eines Missverständnisses, das zum Einsatz nuklearer Waffen führen könnte.
In dieser Frage ist die deutliche Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland gegen die Raketenstationierung und befürwortet einen Waffenstillstand sowie Verhandlungen für Frieden in der Ukraine. Der Wählerwille, der von den etablierten Parteien weitgehend ignoriert wird, spiegelt sich jedoch nicht in Straßenprotesten oder Friedensdemonstrationen wider. Der Ukrainekrieg hat neben dem Thema der Migration im Wahlkampf eine wichtige Rolle gespielt. Der Stimmenzuwachs für die AfD und die BSW könnte als Friedensvotum interpretiert werden, ist jedoch im Fall der AfD völlig fehlgeleitet. Auch wenn sich die Partei am rechten Rand aus Wahlopportunismus im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg als Friedenstaube präsentiert, bleibt sie in Wirklichkeit eine Kriegspartei.
Welchen Raum können in dieser Situation pazifistische, umweltpolitische und migrantische Solidaritätsbewegungen einnehmen?
Alle progressiven und humanistischen Kräfte dürfen in ihrer Präsenz und ihrem Aktivismus nicht nachlassen. Umwelt-, Friedens-, Solidaritäts- und Menschenrechtsbewegungen müssen gemeinsam mit den progressiven Teilen der Gewerkschaften der entmenschlichenden und menschenverachtenden Entwicklung entgegenwirken und sich den großen Krisen stellen, die der Menschheit drohen: der Zerstörung der Umwelt, der Gefahr eines Weltkriegs und der Spaltung und Entsolidarisierung der Gesellschaft. Dabei reicht es nicht, nur Symptome zu bekämpfen – es gilt, die Wurzeln der Probleme im Blick zu behalten, auch wenn sich die Aktionen auf einzelne Themen fokussieren.
Die Bewegungen müssen die Menschen aus ihrer Resignation und Angststarre herausholen und die Hoffnung wecken, dass ein Wandel von unten hin zu einer besseren, menschlicheren Welt für alle möglich ist. Dabei kommt den Medien eine besondere Rolle zu. Wir alle leiden unter wachsender Isolation und Entfremdung. Wir fühlen uns mit nichts mehr verbunden, und alle Anstrengungen erscheinen zunehmend sinnlos.
Dagegen hilft nur, sich mit dem Besten in uns selbst und in anderen zu verbinden und sich für das Gemeinwohl aller einzusetzen. So können wir auch Rückschläge und Scheitern verkraften. Mit anderen Worten: Wir müssen unserer Existenz einen Sinn und Zweck verleihen, der über das eigene Ich hinausgeht.
Und das ohne Naivität, denn die Talsohle haben wir noch bei weitem nicht erreicht, und wir müssen uns auf stürmische Zeiten gefasst machen.
„Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.“ (Albert Einstein)
Jetzt ist die Zeit, aktiv zu werden. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Wir danken Pressenza für die Publikationsrechte, der Beitrag erschien am 11.September 2024
Die Autorin Anna Polo setzt sich seit Jahren für Frieden und Gewaltfreiheit ein. Sie hat 2003 beim Regionaltreffen der europäischen Humanisten (in Prag), und 2004 (in Budapest), beim Europäischen Humanistischen Forum in Lissabon 2006 und in Mailand 2008 die entsprechenden Arbeitsgruppen koordiniert. 2009 gehörte sie beim Weltmarsch für Frieden und Gewaltfreiheit dem Team Außenbeziehungen an. Gegenwärtig beteiligt sie sich an Welt ohne Krieg und Gewalt.
Noam Chomsky gilt als einer der einflussreichsten Intellektuellen des 21. Jahrhunderts. Wir publizieren hier Ausschnitte eines Interviews mit ihm – aus einem Beitrag von Pressenza. Chomsky thematisiert die beiden schlmimsten Auswüchse des Kapitalismus, die die Existenz der Menschheit auszulöschen drohen. Atomkrieg und Klimakrise. Beides muss mit gleicher Intensität bekämpft werden. Aber auch konventionelle Kriege mit den heutigen Mitteln in Verzahnung mit der Klimakatastrophe können dazu führen, dass unsere Spezies beschleunigt die Löffel abgibt. „Krieg tötet nicht nur die Menschen, sondern zerstört auch die Umwelt und unsere Lebensgrundlagen.“(PeterVlatten)
Ein vor dem Schlaganfall an der Universität von Arizona durchgeführtes Videointerview mit Chomsky ist außerordentlich aktuell und aufschlussreich und sendet eine starke Botschaft: „Fragen und Antworten zu „Was bringt die Zukunft?“ mit Noam Chomsky, moderiert von Lori Poloni-Staudinger, Dekanin der Fakultät für Verhaltenswissenschaften und Professorin an der Fakultät für Politik und öffentliche Ordnung der Universität von Arizona.
Was bringt die Zukunft?
Frage: Geopolitik, unipolar versus multipolar
Chomsky: Zunächst gibt es zwei Krisen, die darüber entscheiden, ob es überhaupt angebracht ist, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Geopolitik in Zukunft aussehen wird: (1) die Gefahr eines Atomkriegs und (2) die Klimakrise.
„Wenn die Klimakrise in den nächsten Jahren nicht bewältigt wird, ist die menschliche Gesellschaft im Grunde am Ende. Alles andere ist überflüssig, wenn diese beiden Krisen nicht bewältigt werden.“
Anmerkung Hunziker: Nach Angaben des Copernicus Climate Change Service (C3S), überstiegen die globalen Temperaturen jedoch innerhalb von nur neun Jahren nach dieser Vereinbarung zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die 1,5° C über dem vorindustriellen Niveau in einem 12-Monats-Zeitraum von Februar 2023 bis Januar 2024 und nähern sich nun schnell der Gefahrenzone. Offensichtlich haben sich die Nationen der Welt nicht an ihr eigenes Diktat gehalten, und wenn nicht sie, wer dann?
Chomsky zur Weltmacht: Derzeit ist das Zentrum der Weltmacht, ob unipolar oder multipolar, in den Nachrichten sehr präsent. Die Wurzeln dieser Frage reichen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zurück, als die USA eine überwältigende Weltmacht aufbauten. Der Krieg in der Ukraine hat die Welt gespalten, und die meisten Länder außerhalb der EU, der USA und ihrer Verbündeten fordern eine diplomatische Lösung. Die USA hingegen vertreten den Standpunkt, dass der Krieg fortgesetzt werden muss, um Russland ernsthaft zu schwächen.
Folglich spaltet die Ukraine die Welt, was sich im Rahmen der unipolaren und multipolaren Beziehungen zeigt. So hat der Krieg die EU von ihrem unabhängigen Status weg in die feste Kontrolle der USA getrieben. Im Gegenzug steuert die EU auf einen industriellen Niedergang zu, weil ihre natürlichen Handelspartner wegbrechen, z. B. ist Russland voller natürlicher Ressourcen, die der EU fehlen, was Ökonomen immer als eine „Ehe, die im Himmel geschlossen wurde“ bezeichnet haben, eine natürliche Handelsbeziehung, die nun zerbrochen ist.
Anmerkung Hunziker: (Fußnote: EU-Industrieproduktion in den letzten 12 Monaten um 3,9 % gesunken)
Und das ukrainische Durcheinander schneidet der EU den Zugang zu den Märkten in China ab, das z.B. ein enormer Markt für deutsche Industrieprodukte ist. Unterdessen bestehen die USA auf einem unipolaren Rahmen der Weltordnung, der nicht nur die EU, sondern die ganze Welt in eine Art NATO-System einbinden soll. Unter dem Druck der USA hat die NATO ihren Aktionsradius auf den indopazifischen Raum ausgedehnt, was bedeutet, dass die NATO nun verpflichtet ist, sich an dem Konflikt der USA mit China zu beteiligen.
In der Zwischenzeit versucht der Rest der Welt, eine multipolare Welt mit mehreren unabhängigen Machtzentren aufzubauen. Die BRICS-Länder Brasilien, Russland, Indien, China, Indonesien und Südafrika wollen eine eigene, unabhängige Machtquelle. Sie machen 40 % der Weltwirtschaft aus, die unabhängig von US-Sanktionen und vom US-Dollar ist
Es sind ausgeprägte Konflikte um ein brennendes Thema und um ein sich entwickelndes Thema. Die Ukraine ist das brennende Thema; das sich entwickelnde Thema ist der Konflikt der USA mit China, das seine eigenen Projekte in Eurasien, Afrika, dem Nahen Osten, Südafrika, Südasien und Lateinamerika verwirklicht.
Die USA sind entschlossen, Chinas wirtschaftliche Entwicklung in der ganzen Welt zu verhindern. Die Regierung Biden hat China „praktisch den Krieg erklärt“, indem sie von den westlichen Verbündeten verlangte, China die technologische Entwicklung zu verweigern.
Die USA bestehen zum Beispiel darauf, dass China keinen Zugang zu Technologien erhält, in denen US-Teile enthalten sind. Das schließt alles ein, denn die Niederlande haben beispielsweise eine Lithographie-Industrie von Weltrang, die wichtige Teile für Halbleiter für die moderne High-Tech-Wirtschaft herstellt. Jetzt müssen die Niederlande entscheiden, ob sie einen unabhängigen Kurs einschlagen, um nach China zu verkaufen, oder nicht… das gleiche gilt für Samsung, Südkorea und Japan.
Die Welt ist auf absehbare Zeit auf diese Weise zersplittert.
Frage: Werden multinationale Konzerne zu viel Macht und Einfluss gewinnen?
Chomsky schlägt vor, sie jetzt zu betrachten… Multinationale Unternehmen mit Sitz in den USA kontrollieren etwa die Hälfte des weltweiten Reichtums. Sie sind in jedem Bereich wie Produktion und Einzelhandel an erster oder zweiter Stelle; niemand sonst kommt ihnen nahe. Das ist eine außergewöhnliche Macht. Gemessen am BIP haben die USA einen Anteil von 20 % am Welt-BIP, aber wenn man die multinationalen US-Konzerne betrachtet, sind es eher 50 %. Multinationale Unternehmen haben sowohl in den USA als auch in anderen kapitalistischen Ländern außerordentlichen Einfluss auf die Innenpolitik. Wie werden multinationale Unternehmen also reagieren, wenn man ihnen sagt, dass sie mit einem wichtigen Markt wie China nicht verhandeln können?
Wie wird sich das in den nächsten Jahren entwickeln? Die EU befindet sich in einer Phase des Niedergangs, weil die Beziehungen im Handel und im Wirtschaftsgeschäft mit dem Osten wegbrechen. Es ist jedoch nicht sicher, ob die EU weiterhin den USA untergeordnet bleibt und freiwillig in den Niedergang geht, oder ob sie sich dem Rest der Welt anschließt und sich in eine komplexere multipolare Welt bewegt und sich mit den Ländern im Osten integriert? Dies wird sich erst noch zeigen. So wurde beispielsweise Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (2017) für seine Äußerung, dass nach der Vertreibung Russlands aus der Ukraine ein Weg gefunden werden müsse, Russland in einem internationalen System unterzubringen, verunglimpft und verurteilt.
Russland in einem internationalen System unterzubringen: ein erster Riss in den Beziehungen zwischen den USA und der EU.
Frage zur Bedrohung durch einen Atomkrieg: Russland hat den START-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty = Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen) mit den USA ausgesetzt. Wie wichtig ist dies für die Gefahr eines Atomkriegs?
Chomsky: Er ist sehr bedeutsam. Es handelt sich um den letzten verbleibenden Waffenkontrollvertrag, den neuen START-Vertrag, den Trump beinahe gekündigt hätte. Der Vertrag sollte im Februar auslaufen, als Biden das Amt noch rechtzeitig übernahm, um ihn zu verlängern, was er auch tat.
Denkt daran, dass die USA maßgeblich an der Schaffung eines Systems beteiligt waren, das die Gefahr eines Atomkriegs, d.h. eines „Endkriegs“, etwas abschwächt. Wir sprechen viel zu lässig über den Atomkrieg. Es darf keinen Atomkrieg geben. Wenn es dazu kommt, sind wir erledigt. Deshalb ist die Weltuntergangsuhr auf 90 Sekunden vor Mitternacht eingestellt, so nah wie nie zuvor.
Unter George W. Bush begannen die USA mit dem Abbau der Rüstungskontrolle. Bush löste den ABM-Vertrag auf, einen Raketenvertrag, der ein wichtiger Bestandteil des Rüstungskontrollsystems und eine enorme Bedrohung für Russland war. Die Aufhebung ermöglichte es den USA, Anlagen direkt an der Grenze zu Russland zu errichten. Das ist eine ernsthafte Bedrohung für Russland. Und Russland hat darauf reagiert.
Die Trump-Administration hat den INF-Vertrag gekündigt, den Vertrag zwischen Reagan und Gorbatschow von 1987, mit dem Kurzstreckenraketen in Europa verboten wurden. Diese Raketen sind nun wieder an den Grenzen Russlands stationiert. Um deutlich zu machen, dass wir es ernst meinen, hat Trump sofort nach dem Bruch des Vertrages Raketenstarts angeordnet.
Trump hat den Treaty on Open Skies (Vertrag über den Offenen Himmel) zerstört, der auf Eisenhower zurückgeht und besagt, dass beide Seiten Informationen über die Aktivitäten der anderen Seite austauschen sollten, um die Gefahr von Missverständnissen zu verringern.
Es bleibt nur der neue START-Vertrag. Und Russland hat ihn ausgesetzt. START beschränkt die Anzahl der strategischen Waffen für jede Seite. Der Vertrag läuft 2026 aus, wird aber von Russland trotzdem ausgesetzt. Es gibt also faktisch keine vereinbarten Beschränkungen für die Aufstockung der Atomwaffen.
Beide Seiten verfügen bereits über weit mehr Atomwaffen als nötig; ein einziges Trident-Atom-U-Boot könnte einige hundert Städte in der ganzen Welt zerstören. Und die Standorte der landgestützten Atomraketen sind beiden Seiten bekannt. Wenn es also eine Bedrohung gibt, würden diese sofort angegriffen werden. Das heißt, wenn es eine Bedrohung gibt, „schickt ihr sie besser los, benutzt sie oder verliert sie“. Dies ist natürlich eine sehr heikle, außerordentlich riskante Situation, denn ein Fehler könnte sich sehr schnell ausweiten.
Der neue START-Vertrag, der von Russland ausgesetzt wurde, hat die enorme übermäßige Anzahl strategischer Waffen eingeschränkt. Deshalb sollten wir jetzt Verhandlungen führen, um ihn zu erweitern, ihn wiederherzustellen und die Verträge, die die USA demontiert haben, wieder in Kraft zu setzen. Der INF-Vertrag, der Reagan-Gorbatschow-Vertrag, der ABM-Vertrag und der Vertrag über den Offenen Himmel sollten alle wieder in Kraft gesetzt werden.
Frage: Wird die Gesellschaft den Willen zum Wandel für Gerechtigkeit, Wohlstand und Nachhaltigkeit aufbringen?
Chomsky: Es gibt keine Antwort. Es liegt an der Bevölkerung, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen und zu sagen, dass wir nicht an den Abgrund marschieren und über ihn stürzen werden. Aber das ist genau das, was unsere Anführer uns sagen, dass wir tun sollen. Sehen Sie sich die Umweltkrise an. Es ist klar, dass wir vielleicht genug Zeit haben, um die Erhitzung der Umwelt, die Zerstörung des Lebensraums und die Zerstörung der Ozeane, die zu einer totalen Katastrophe führen wird, zu kontrollieren. Es ist nicht so, dass alle auf einmal sterben werden, aber wir werden irreversible Kipppunkte erreichen, die zu einem stetigen Rückgang führen. Um zu wissen, wie ernst die Lage ist, sollten Sie sich bestimmte Regionen der Welt ansehen.
Die Region des Nahen Ostens ist eine der sich am schnellsten erwärmenden Regionen der Welt: sie erwärmt sich doppelt so schnell wie der Rest der Welt. Nach den derzeitigen Prognosen wird der Meeresspiegel im Mittelmeerraum bis zum Ende des Jahrhunderts um etwa drei Meter ansteigen.
Schauen Sie sich auf einer Karte an, wo Menschen leben, es ist unbeschreiblich. Die Menschen in Südostasien und die Bauern in Indien versuchen, Temperaturen von über 48 Grad Celsius zu überleben, und weniger als 10 % der Bevölkerung haben eine Klimaanlage. Dies wird zu riesigen Migrationsbewegungen aus Gebieten der Welt führen, in denen das Leben unerträglich wird.
Die Unternehmen für fossile Brennstoffe sind so profitabel, dass sie beschlossen haben, alle Bemühungen um Nachhaltigkeit aufzugeben und stattdessen die Gewinne so schnell und so weit wie möglich zu steigern. Sie erschließen neue Öl- und Gasfelder, die noch 30-40 Jahre fördern können, aber danach ist es mit uns allen vorbei.
Mit den Atomwaffen haben wir das gleiche Problem wie mit der Umwelt. Wenn diese beiden Probleme nicht angegangen werden, wird in nicht allzu ferner Zukunft alles vorbei sein. Die Bevölkerung muss den „Willen“ haben, das zu verhindern.
Frage: Wie können wir diesen Willen aufbringen?
Chomsky: Sprechen Sie mit Ihren Nachbarn, schließen Sie sich Gemeindeorganisationen an, treten Sie Aktivistengruppen bei, üben Sie Druck auf den Kongress aus, gehen Sie auf die Straße, wenn nötig. Wie sind die Dinge in der Vergangenheit gelaufen? Zum Beispiel haben sich in den 1960er Jahren kleine Gruppen von Frauen zusammengetan und Sensibilisierungsgruppen gebildet, und erst 1975 (Sex Discrimination Act) wurde den Frauen das Recht auf Gleichberechtigung nach US-amerikanischem Recht zugestanden, davor befanden wir uns noch im Zeitalter der Gründerväter, als Frauen als Eigentum angesehen wurden. Schauen Sie auf die Bürgerrechtsbewegung. Gehen Sie zurück in die 1950er Jahre: Rosa Parks weigerte sich, ihren Sitzplatz in einem Bus zu räumen, was von einer organisierten Gruppe von Aktivisten geplant war und zum Montgomery Bus Boykott führte, eine große Veränderung… 1960 beschlossen ein paar schwarze Studenten in North Carolina einen Sitzstreik in einem nach Hautfarbe getrennten Restaurant zu veranstalteten. Sie wurden sofort verhaftet, und am nächsten Tag kam eine weitere Gruppe… später organisierten sie sich als SNCC, Student Nonviolent Coordinated Committee. Junge Leute aus dem Norden schlossen sich an. Die nächsten Freiheitsbusse fuhren nach Alabama, um schwarze Farmer zu überzeugen, ihre Stimme abzugeben. So ging es weiter, bis die Bürgerrechtsgesetze in Washington verabschiedet wurden.
Was geschieht jetzt gerade, um ein Beispiel dafür zu geben, was die Menschen tun können? Die Regierung Biden hat den Inflation Reduction Act, IRA, verabschiedet. Es ist hauptsächlich ein Gesetz zum Klimawandel. Die einzige Möglichkeit, Banken und Unternehmen für fossile Brennstoffe dazu zu bringen, die Zerstörung der Welt zu stoppen, ist, sie zu bestechen. Das ist im Grunde unser System. Aber IRA ist nicht das umfangreiche Programm, das Biden vorgestellt hat. Es ist verwässert. Das Original stammt aus dem Büro von Bernie Sander. Was den Hintergrund betrifft, so waren junge Leute aus der Sunrise-Bewegung aktiv und organisierten sich in den Büros des Kongresses. Alexandria Ocasio-Cortez schloss sich ihnen an. Daraus entstand ein Gesetzesentwurf, aber die republikanische Opposition kürzte den ursprünglichen Entwurf um fast 100%. Sie wollen die Welt im Interesse des privaten Profits zerstören. Der endgültige IRA-Gesetzentwurf ist bei weitem nicht ausreichend.
Resümee Hunziker: Chomsky sieht eine Welt in Aufruhr, in der versucht wird, herauszufinden, ob unipolar oder multipolar die Oberhand gewinnt, wobei der Krieg in der Ukraine als Katalysator für Veränderungen dient. Unterdessen trägt die EU die Hauptlast der Auswirkungen. In der Zwischenzeit haben sich die Atomwaffenverträge buchstäblich in Luft aufgelöst, da die Lage an den Grenzen zwischen Russland und der EU angespannt ist und neu aufgerüstete Raketen auf Russlands Kernland gerichtet sind. Angesichts dieses potenziell explosiven Szenarios zwischen Russland und dem Westen, das auf Messers Schneide steht, wird das globale Klimasystem durch die übermäßigen Emissionen fossiler Brennstoffe angegriffen, die die globalen Temperaturen über das hinaus ansteigen lassen, was 195 Länder als Gefahrenzone vereinbart haben.
Chomsky sieht eine nervöse mit Atomwaffen klirrende, risikoreiche Welt, flankiert von einer unaufhaltsamen Verschlechterung der Ökosysteme, die durch die globale Erwärmung stetig und mit Sicherheit zunichte gemacht wird, während die globalen Temperaturen neue Rekorde erreichen. Er ruft den Einzelnen dazu auf, aktiv zu werden und alles Notwendige zu tun, um die Entwicklung der Atomwaffen und des Klimawandels zu ändern und die Gesellschaft zu retten. Chomsky nannte mehrere Beispiele dafür, wie kleine Gruppen von Menschen gemeinsam handeln und sich im Laufe der Zeit zu ernsthaften Protesten und schließlich zu einer positiven Gesetzgebung entwickelten.
„Zweifel nie daran, dass eine kleine Gruppe aufmerksamer und engagierter Menschen die Welt verändern kann. Das ist in der Tat das Einzige, was jemals geschehen ist.“ (Margaret Mead, Anthropologe)
Der Beitrag ist (bei uns leicht gekürzt) erschienen am 1.9.2024 bei Pressenza . Wir danken für die Publikationsrechte.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Anja Schlegel vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt.
Titelbild: März 2015: Noam Chomsky spricht auf dem Internationalen Forum für Emanzipation und Gleichheit in Buenos Aires, Argentinien. Die Konferenz wurde vom argentinischen Kultusministerium über das Sekretariat für die strategische Koordinierung des nationalen Gedankens organisiert. Wikimedia Commons