Fehlanzeige Tempolimit – nichts bewegt sich in Deutschland jenseits vom Profit!

Deutschland ist inzwischen das einzige Land der EU, wo es noch kein Tempolimit gibt (siehe Grafik). Dabei ließe sich doch vollkommen kostenlos eine Menge CO2 einsparen, nicht weltbewegend viel, aber immerhin zählbar. Eigentlich müssten Finanzminister Lindner, aber auch seine Ampelpartner angesichts der sonst dicken Haushaltslöcher wahre Luftsprünge machen. Wo sonst gibt es sonst, und erst recht beim Co2, schon was umsonst ?

Stattdessen wird um die Finanzierbarkeit teuerster Maßnahmen für CO2 Einsparungen auf anderen Wegen, seien es zum Beispiel Wärmepumpen oder Wärmedämmung, regelrecht ein Kampf ausgefochten . Manch einer versteht die Welt nicht mehr. Warum greift der Finazminister nicht einfach zu beim Tempolimit, das so wohlfeil zu haben ist? Gerade jetzt wo nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Haushaltslöcher so groß sind wie nie zuvor.

Ist es die große Freiheit? Sicher auch. Aber nur für die, die genug Power unter der Haube und in der Tasche haben. Wir kommen der Wahrheit schon näher, wenn wir die Wirkung der CO2 Bespreisung, die ja als Wunderwaffe zur Verringerung von CO2 gepriesen wird, betrachten. Denn durch den fossilen Mehrverbauch ohne Tempolimit kann Lindner hier mit mehr Steuereinnahmen rechnen. Die können dann wieder ausgegeben werden zum Beispiel fürs Militär, wo keine CO2 Bespreisung stattfindet.

Tempolimit kostet nicht nur nichts, sondern würde ja auch den Energiemarkt, auf dem ordentlich verdient wird, entspannen helfen. Das wiederum würde die Kosten – ja sicher nur ein kleines bischen- für die Allgemeinheit dämpfen. Aber wer verkämpft sich denn von den Verantwortlichen dieser Republick für sowas, wenn gleichzeitig ein kleines bischen Gewinne und umleitbare Staatseinnahmen für Aufrüstung verloren gehen?

All diese Wahrheiten reichen nicht aus, um zu erklären, warum ausgerechnet in Deutschland die Einführung des Tempolimits immer wieder ausgebremst wird. Die eigentliche Wahrheit ist in diesem System ganz einfach. Die Perlen der deutschen Autoindustrie, eine übermächtige ökonomische und politische Größe in diesem Land, fahren mit ihren hochkarätigen Kraftpaketen und Luxusfahrzeugen als besonderen Fokus die dicksten Profite ein. Die “grosse Freiheit” hat also ihre materielle Basis.

Und kostet ein Tempolimit Arbeitsplätze? Wohl kaum. In die aufgemotzten Maschinen und Karossen fließt nur unwesentlich mehr Arbeit ein als in die Herstellung normaler Autos. Der größte Unterschied ist, daß sie unverhältnismäßig mehr Sonderprofit abwerfen. Ganz abgesehen davon, dass die Zukunft der Arbeitsplätze jenseits des Individualverkehrs liegen wird.

Noch Fragen, warum es so unglaublich schwierig ist , diese ganz einfache kostenlose Maßnahme “Tempolimit” in Deutschland umzusetzen?

Lieber steckt man da junge Menschen, die sich dagegen mit verzweifelten Mitteln wehren, schon mal in Sicherheitsverwahrung. Erst Klimkanzlerin, jetzt Klimaregierung. Autokapital und Individualverkehr bleiben King. Deutschland 2023!

Brief aus Moskau: 1993 und der Preis der „Demokratie“


Bild: You Tube Screeshot

Von Stefano di Lorenzo

(Red.) Die Geschichte befasst sich meistens mit politischen und/oder militärischen Auseinandersetzungen zweier verfeindeter Seiten. Und – leider – meistens wird sie so geschrieben, dass die eine Seite positiver und die andere Seite negativer beschrieben wird. Das trifft auch auf die 1990er Jahre in Russland zu. Boris Jelzin, der damalige russische Präsident, war mit Bill Clinton befreundet und wird im Westen deshalb als jener gefeiert, der Russland die Demokratie brachte, in Russland selbst erinnert man sich aber vor allem daran, dass er mit der Privatisierung der Wirtschaft einer kleinen – „cleveren“ – Minderheit die Chance zum Reichwerden brachte, die große Mehrheit aber in die Armut führte. Jetzt gibt es zu diesem Thema auch einen russischen Film. (cm)

Einer der am meisten diskutierten Filme der letzten Wochen in Russland heißt schlicht „1993“. Es ist die Geschichte einer Familie, die während der blutigen Ereignisse vom Oktober 1993 gespalten ist und eine Krise erlebt. Oktober 1993 gilt allgemein als eines der vielen schicksalhaften Daten in der jüngeren russischen Geschichte. Der Film löste viele Diskussionen aus, die russische Zeitung «Kommersant» nannte ihn „vielleicht den bedeutendsten russischen Film der letzten Jahre“.

Die Ereignisse vom Oktober 1993 sind einfach als „Verfassungskrise von 1993“ in die allgemeine Geschichte eingegangen. Aber die Bedeutung dieser Tage geht weit über das hinaus, was wie eine trockene, legalistische Formel erscheinen mag. Dreißig Jahre sind seit dem Ereignis vergangen. In den westlichen Medien blieb dieser Jahrestag bis auf wenige Ausnahmen unbeachtet. So fasste beispielsweise die deutsche „Die Welt“ die Ereignisse zusammen: „Er [Jelzin] ließ ein Parlament zusammenschießen, um die Demokratie zu retten“. Ein Titel, der am Anfang als Ironie daherzukommen scheint, aber wenn man den Artikel liest, stellt man fest, dass es keine Ironie ist, es ist alles ernst gemeint.

Die Ereignisse vom Oktober 1993 in Moskau sind Tatsachen, die nicht allzu gut in das einfache Interpretations-Schema der sowjetischen und russischen Geschichte passen, wie diese normalerweise der europäischen und westlichen Öffentlichkeit dargestellt wird. Zuerst die schreckliche sowjetische Diktatur, dann der Beginn der Perestroika mit Gorbatschow (im Westen sprach man von „Gorbymania“), dann der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, endlich die Demokratie und die Liberalisierung der 90er Jahre, symbolisiert durch die herzliche Freundschaft zwischen Jelzin und dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Eine Demokratie notabene, die, wie da im Westen erzählt wird, durch die Rückkehr der Diktatur unter Putin leider wieder verloren ging. Aber wie lässt sich dann erklären, dass Jelzin, der Held, der Befreier von Russland und Verteidiger der Demokratie, 1993 beschloss, auf das Parlament (sic!) schießen zu lassen, um „die Demokratie zu retten“?

Nach dem Ende der Sowjetunion am 25. Dezember 1991 hatte das neue Russland unter der Leitung renommierter westlicher Wirtschaftsexperten ein sehr ehrgeiziges Programm radikaler Wirtschaftsreformen gestartet. Auch der amerikanische Professor Jeffrey Sachs war mit von der Partie, der bereits am Übergang von der Planwirtschaft zum kapitalistischen Modell in Polen mitgearbeitet hatte. 

Wirtschaftliche Therapie als Schock

Aber in Russland hatten die wirtschaftlichen Liberalisierungsreformen, die sogenannte «Schocktherapie», verheerende Auswirkungen auf den gigantischen Industriekomplex sowjetischer Herkunft und auf große Teile der Bevölkerung durch die Hyperinflation. «Schocktherapie» war kein zufällig gewählter Name. Für viele Menschen, die an das Sowjetsystem und die Vorhersehbarkeit der von oben gesteuerten Wirtschaft gewohnt waren, erwiesen sich die neuen Lebensbedingungen, in denen alles von dem eisernen Gesetz des freien Markts entschieden wurde, als fatal. Die organisierte Kriminalität dagegen zeigte sich bei der Anpassung an das neue System als wesentlich agiler und flexibler als der durchschnittliche russische Bürger.

Ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfreuten sich Jelzin und Jegor Gaidar, ehemaliger Finanzminister und Interims-Premierminister, der als Hauptverantwortlicher radikaler Wirtschaftsreformen galt, keiner großen Popularität. Gaidar, gestorben im Jahr 2009 im Alter von 53 Jahren, gilt bis heute für die meisten Russen als Hassfigur. Jelzin, der Held des August 1991, der sich dem Putschversuch der kommunistischen Hardliner gegen Gorbatschow widersetzen konnte, schien bis 1993 bereits in Ungnade gefallen zu sein.

Die Wurzel des Konflikts

Der Oberste Sowjet, das russische Parlament, war im März 1990 gewählt worden, noch in der Zeit der Perestroika, als niemand wirklich glauben konnte, dass die Sowjetunion innerhalb von 21 Monaten zu existieren aufhören würde. Der Oberste Sowjet, voll gepackt mit ehemaligen und weniger ehemaligen Kommunisten, schien nur noch ein Überbleibsel einer anderen Ära zu sein. Ironischerweise war es der Oberste Sowjet gewesen, der Jelzin im Mai 1990 zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets wählte, praktisch zum mächtigsten Mann in der russischen Republik, damals noch innerhalb der UdSSR. Jetzt aber stand dieser selbe Oberste Sowjet Jelzins Reformen oft im Wege. 

Am 20. September 1993 unterzeichnete Präsident Jelzin ein Dekret zur Auflösung des russischen Parlaments. Die Abgeordneten reagierten, indem sie das Dekret auf der Grundlage der Verfassung für ungültig erklärten. Sie beschlossen, Jelzin vom Amt des Präsidenten zu entfernen und den damaligen Vizepräsidenten Alexander Ruzkoi zum Staatsoberhaupt zu ernennen. In dieser Situation wurde ein offener Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem Parlament unvermeidlich.

Im Regierungsgebäude der Russischen Föderation, auch bekannt als «Weißes Haus», dem damaligen Sitz des russischen Parlaments, wurden Strom und Wasser abgeschaltet. Früher oder später würden die Parlamentarier das Gebäude verlassen und die Krise würde enden, so das Kalkül. Doch die parlamentarische Jelzin-Opposition schien entschlossen, in der Duma – im Parlament – Widerstand zu leisten. Auch auf den Straßen Moskaus wurde die Lage mittlerweile unruhig.

Der Showdown

Nach zwei Wochen, am 3. Oktober, durchbrachen pro-parlamentarische Demonstranten die Polizeiabsperrungen rund um das Weiße Haus. Einigen Quellen zufolge befahl Ruzkoi den Demonstranten damals, das Moskauer Rathaus und das Fernsehzentrum Ostankino zu besetzen. Beide Angriffe wurden aber abgewehrt. Die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten der parlamentarischen Opposition und Jelzin-treuen Regierungstruppen verliefen blutig. Am nächsten Tag beschossen acht Panzer, die von der Jelzin-treuen Armee geschickt wurden, das Weiße Haus. Gegen 17 Uhr verließen 300 Menschen im Gänsemarsch das Gebäude, die Hände über dem Kopf. Das Parlament wurde aufgelöst. Damit endete das, was beschönigend als „Verfassungskrise von 1993“ in die Geschichte einging.

„Wir haben uns nicht auf den Krieg vorbereitet. Wir hielten es für möglich, einen Deal zu machen und den Frieden in der Hauptstadt zu wahren. […] Alles, was in Moskau geschah und geschieht, war ein im Voraus geplanter bewaffneter Aufstand“, sagte Jelzin. „Dieser wurde von rachsüchtigen Kommunisten, faschistischen Führern und einigen ehemaligen Parlamentariern organisiert. Es kann deshalb keine Vergebung geben, weil sie ihre Hand gegen friedliche Menschen erhoben haben.“

Die Zahl der damals bei den Protesten getöteten Menschen bleibt unklar. Offizielle Quellen nennen eine Zahl von etwa 200, andere sprachen sogar von 2000 Opfern. Dazu muss gesagt werden, dass von den Abgeordneten keiner getötet wurde. Ruzkoi und die Oppositionsführer wurden festgenommen und inhaftiert, überraschenderweise erhielten sie aber bereits ein Jahr später eine Amnestie.

Und der Westen?

Westliche Politiker wurden damals vor dem Angriff auf das Weiße Haus gewarnt. Sie erklärten umgehend ihre Unterstützung.

„Es ist klar, dass die Oppositionskräfte den Konflikt begonnen haben und Präsident Jelzin keine andere Wahl hatte, als zu versuchen, die Ordnung wiederherzustellen“, erklärte der damalige US-Präsident Bill Clinton unmissverständlich. „Die USA haben Jelzin unterstützt, weil er Russlands demokratisch gewählter Führer ist“, sagte er. „Ich habe keinen Grund, an der persönlichen Verpflichtung von Präsident Jelzin zu zweifeln, das russische Volk in Wahlen über seine eigene Zukunft entscheiden zu lassen.“

Die Regierungen westlicher Länder, die stets auf die Menschenrechte bedacht sind und die demokratische Souveränität gegen tyrannische Usurpatoren verteidigen, unterstützten also Jelzin während der sogenannten Verfassungskrise von 1993 klar. Als der russische Präsident auf das Parlament schießen ließ, wurden keine Sanktionen gegen Russland verhängt. Auch große Reden und Predigten zur Meinungs- und Pressefreiheit in Russland blieben aus, sogar nachdem Jelzin mehrere Zeitungen geschlossen und ganze Parteien verboten hatte.

Die Auferstehung Jelzins und sein Untergang

Tatsächlich war drei Jahre später eine Gruppe amerikanischer Politikberater, die dem Weißen Haus in Washinton nahe standen, maßgeblich an Jelzins Wiederwahl 1996 beteiligt. Nach vier Jahren Schocktherapie lag Jelzins Zustimmungsrate bei nur noch etwa 5%. Die Zauberkunst amerikanischer Wahlberater ermöglichte Jelzin aber ein wundersames Comeback. Während des Wahlkampfs agierten die Amerikaner im Verborgenen, um den Kommunisten, Jelzins Hauptgegner, keinen Vorwand zu geben, den Präsidenten zu beschuldigen, eine Marionette in den Händen der USA zu sein. (Siehe dazu die Anmerkung am Ende dieses Artikels.)

Und wie sehen die Russen heute die Ereignisse vom Oktober 1993? Während vor 30 Jahren die Mehrheit der Russen trotz allem die entschlossene Geste des Präsidenten zur Liquidierung der letzten Reste der Sowjetmacht zu rechtfertigen schien, sind die Meinungen derjenigen, die sich an die Ereignisse erinnern, heute viel kritischer. Jeder zweite informierte Russe glaubt, dass die gewalttätigen Methoden zur Kontrolle der Lage damals ungerechtfertigt waren. Der Anteil der Unterstützer von Boris Jelzin im Vergleich zum Parlament ist zurückgegangen: 18% der „Informierten“ antworteten, dass sie auf der Seite des ersten Präsidenten Russlands stehen würden, während es vor zehn Jahren noch 26% waren.

Dies hängt möglicherweise mit einem natürlichen Gefühl von kritischer Distanz zusammen. Heute ist der Konflikt zwischen der neuen, chaotischen, oft brutalen Welt des Kapitalismus und der „Demokratie“, einerseits, und der alten Welt der Planwirtschaft, der „Welt der Sicherheit“, andererseits, nicht mehr so direkt auf der Haut spürbar wie gerade nach dem Zerfall der UdSSR. Russland überlebte die Zeit der Schocktherapie. Die nostalgischen „stalinistischen“ Kommunisten der Sowjetunion kehrten nicht an die Macht zurück. Doch die Ereignisse von 1993 waren kein einfacher Konflikt zwischen Anhängern der Demokratie und ihren Feinden. Aber die Russen sahen mit eigenen Augen und erlebten am eigenen Leib die Art von Jelzinscher „Demokratie“, die im Westen so hochgepriesen wurde. Und am Ende waren sie davon nicht ganz überzeugt.

Der Film „1993“ wurde mit großer Spannung erwartet und viel diskutiert. Doch kann man nicht sagen, dass er beim Publikum wirklich ein großer Erfolg war, ein Blockbuster wurde er nicht. Dreißig Jahre später wollen die Leute offenbar lieber an etwas anderes denken: Verdrängung als der beste natürliche Schutzmechanismus also.

Anmerkung der Redaktion Globalbridge.ch:

In der «Süddeutschen Zeitung» vom 23.2.2017 findet sich ein Interview mit zwei Wissenschaftlern, die Einmischungen einzelner Länder in die Wahlen anderer Länder erforschen. Zur Unterstützung Präsident Boris Jelzins durch US-Präsident Bill Clinton bei den Wahlen in Russland im Jahr 1996 kann man dort die folgenden Aussagen lesen:

„Die Amerikaner mischten sich 1996 intensiv bei den Wahlen in Russland ein. Sie waren besorgt, dass Gennadi Sjuganow, der Kandidat der Kommunistischen Partei, Präsident werden könnte. Sie unterstützten die Wiederwahl von Boris Jelzin. Das Problem war nur, dass Jelzin keine gute Figur abgab: In einigen Umfragen lag er bei gerade mal acht Prozent.

Frage: Wie haben die USA das geändert?

„Sie schickten Wahlkampfberater und konzipierten für Jelzin eine neue Kampagne. Außerdem überredeten die USA den Internationalen Währungsfonds (IWF), Russland – und damit dem amtierenden Präsidenten Jelzin – eine Anleihe von zehn Milliarden Dollar zu gewähren, obwohl das Land die ökonomischen Kriterien nicht erfüllte. Wir reden hier vom zweithöchsten Betrag, den der IWF bis dahin je vergeben hatte. Etwa zwei Milliarden erreichten Russland noch vor der Wahl.“

Frage: Das geschah doch ganz offen, oder?

„Ja, die Unterstützung war sehr offensichtlich. Jelzin erschien sogar im russischen Fernsehen und bedankte sich bei seinem guten Freund Bill Clinton. Außerdem drohte der Chef des IWF: Falls die Kommunisten gewinnen und die Reformen Jelzins rückgängig machen, würde der Geldfluss versiegen. Das gab Jelzin großen Aufwind.“

(cm, Christian Müller)

Erstveröffentlicht bei GlonalBridge
https://globalbridge.ch/brief-aus-moskau-1993-und-der-preis-der-demokratie/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Über die alten und die neuen Bosse des ukrainischen Präsidenten Selenskyj


Von: Maxim Goldarb

(Red.) Wer die Ukraine schon vor dem Kriegsausbruch kannte, der wusste es: Die Politik in der Ukraine wurde von einer Handvoll Oligarchen gesteuert – und von eben diesen Oligarchen auch ausgebeutet. Einer der ganz großen Player dabei war Igor Kolomoisky, der bei den letzten Präsidentschaftswahlen mit seiner Medienmacht der Ziehvater von Wolodymyr Selenskyj war. Doch jetzt, wo Selenskyj nach der Geige der USA tanzt – tanzen muss –, ist Kolomoichsky zum Hindernis geworden und sitzt im Gefängnis. Der Ukrainer Maxim Goldarb schildert diesen Wandel in fünf Abschnitten. (cm)

In der Ukraine wurde kürzlich einer der bekanntesten Oligarchen, Igor Kolomoisky, verhaftet. Hierfür gab es fünf Gründe:

Erstens: Vor etwa zehn Jahren war Igor Kolomoisky einer der reichsten und einflussreichsten Menschen in der Ukraine. Damals war er Eigentümer der größten Privatbank und der Unternehmensgruppe «Privat», zu der das Agrargeschäft, das Ölgeschäft, der Metallhandel, der Bergbau und die Verarbeitung von Metallen, die Treibstoffversorgung und weitere Bereiche gehörten. Die «Privatbank» war in jeder Hinsicht die größte Bank der Ukraine, die meisten ukrainischen Einlagen (Stand: 2015) wurden dort angelegt. Die Hälfte der ukrainischen Unternehmen war bei dieser Bank und 80 Prozent der ukrainischen Bürger legten dort ihr Geld an. Sie war das wichtigste Bindeglied im Finanzsystem der Ukraine und darüber hinaus das stärkste Argument für den einen oder anderen politischen Einfluss.

Im Jahr 2014, als der Euromaidan stattfand, brach die ukrainische Wirtschaft zusammen, Unternehmen verloren Hunderte von Millionen Dollar auf ihren Bankkonten, viele Banken kollabierten daraufhin und ihr Eigentum wurde für so gut wie nichts veräußert. Und zu dieser Zeit gab die «Privatbank» verrückte Zinssätze auf alle Einlagen, 19% p.a. (per annum, pro Jahr), 20% p.a., 25% p.a.! Denken Sie darüber nach: Das Land steht Kopf, fliegt in den Abgrund, die Landeswährung ist um das Vierfache eingebrochen, die Feindseligkeiten haben begonnen, und die «Privatbank» gibt riesige Zinsen auf Dividenden. Warum eigentlich?

In welches Geschäft hätten die Privatbanker das von den Menschen erhaltene Geld investieren sollen, um den Menschen ihre Einlagen zu verzinsen und erst noch daran zu verdienen? Antwort: In keines! «Privat» war zu diesem Zeitpunkt bereits ein finanzielles Schneeballsystem. Das heißt, sie zogen, zogen, zogen, zogen Geld in Form von Einlagen ab und überwiesen es dann auf die Konten von Unternehmen und Firmen, die mit ihnen verbunden waren. Die Ermittler nennen jetzt den Betrag von 5 Milliarden Dollar, der von der «Privatbank» abgehoben beziehungsweise gestohlen wurde.

Worum geht es in dieser Geschichte? Es geht um die Tatsache, dass sich «Privat» in der Tat in ein Schneeballsystem verwandelt hatte und seine wichtigsten Chefs das Geld aus ihr herausgesaugt haben. Die heutigen Ermittler sagen, dass 97% des von den Einlegern erhaltenen Geldes in Form von Krediten und anderen Zahlungen an die Unternehmen von Kolomoisky und Partnern geflossen sind. Daher glaube ich der Version der vorgerichtlichen Untersuchung, dass es Folgendes gab: 1.) Betrug; 2.) Amtsmissbrauch; 3.) monopolinterne Korruption; 4.) Beschlagnahme fremden Eigentums in besonders großen Mengen; 5.) amtliche Fälschung, um schwere Straftaten zu begehen; 6.) Schaffung einer organisierten kriminellen Gruppe, zu der die Spitze der Gruppe «Privat» gehörte. Plus die „Legalisierung“ von Erträgen aus Straftaten.

Dazu kommen noch die Ermittlungen gegen Kolomoisky, die in den USA geführt wurden. Und diese Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Sie wurden unter Trump und vor Trump durchgeführt, und sie werden auch jetzt noch durchgeführt. Amerikanische Staatsanwälte haben den Grundbesitz von Kolomoisky und Bogolyubov, seinem Partner, beschlagnahmt: Geschäftszentren und Häuser. Der offizielle Vorwurf lautet Legalisierung von Diebesgut. Dies ist die erste Komponente, nennen wir sie mal „offiziell-legal“.

Zweitens: Ich schlage vor, die zweite Komponente der frühen Ereignisse als „politisch“ zu bezeichnen. Sie ergibt sich aus der Rolle von Kolomoisky in den Jahren 2014-2016, als er ein sehr einflussreicher ukrainischer Politiker war, offizieller Leiter der Region Dnipropetrowsk wurde (wo Kolomoisky selbst herkommt), eine direkte, führende Rolle bei der Unterdrückung der oppositionellen Anti-Maidan-Bewegung in der Region Dnipropetrowsk spielte, bei der Vertreibung von Menschen, bei der Bewaffnung, bei der Verteilung von Waffen und bei der Entwicklung von Geld mit dabei war. Dies trug dazu bei, seine geschäftlichen und politischen Positionen zu stärken – wenn auch nicht für lange.

Dann kam es zu einem Konflikt mit einem anderen Oligarchen, dem damaligen Präsidenten der Ukraine, Petro Poroschenko. Der Konflikt mit Poroschenko führte zu dem Versuch, Kolomoiskys Geschäftsinteressen aus dem ukrainischen Staatsunternehmen «Ukrnafta» herauszulösen und die «Privatbank» zu verstaatlichen, sowie zu Kolomoiskys Absetzung als Chef der Region Dnipropetrowsk. Das ist also der frühpolitische Kolomoisky.

Drittens: Kolomoisky erkannte, dass er eine schwere Niederlage erlitt. Er sah, dass Amerika nicht sein Freund, sondern sein Feind war. Präsident Poroschenko wurde zu seinem Feind. Er erkannte, dass sie ihn früher oder später „fressen“ und ihm sein gesamtes Milliardenvermögen wegnehmen würden, das er auf sehr zweifelhafte Weise (wie alle anderen ukrainischen Oligarchen auch) erworben hatte. Also begann er, sich in eine ganz andere Richtung zu bewegen, in den Norden, und versuchte, sich zu entschuldigen, zu erklären und zu verhandeln. Am Ende hat es nicht geklappt, einfach weil es dort genug eigene Oligarchen gibt, ukrainische Oligarchen werden überhaupt nicht gebraucht (das hat übrigens der größte ukrainische Oligarch Rinat Achmetow, der auf die USA gesetzt hat, schon vor langer Zeit erkannt).

Viertens: Hier beginnt die nächste, die „modern-politische“ Komponente, die stärker mit Selenskyjs Persönlichkeit verwoben ist. In der Ukraine ist es kein Geheimnis, dass Selenskyj, gelinde gesagt, ein Schüler von Kolomoisky ist, sein Protegé. Kolomoisky war es, der ihn großzog, ihn finanzierte, ihn bei großen Fernsehsendern unterbrachte und ihn in der ganzen Ukraine als Comédie-Schauspieler bekannt machte. Auf Kolomoiskys Fernsehsender «1+1» wurden alle Episoden von Selenskyjs Show «95 Viertel» und seine Filme ausgestrahlt. Dort wurde auch die Serie «Diener des Volkes» mit Selenskyj in der Hauptrolle ausgestrahlt, in der er einen ehrlichen Politiker aus dem einfachen Volk darstellte, dessen Lügen später von so vielen Ukrainern „gekauft“ wurden. Es waren Kolomoiskys Medien, die maximal für Selenskyjs Sieg im Präsidentschaftsrennen gearbeitet haben.

Es ist klar, dass es eine Hinterbühne gibt und dass Selenskyjs langjähriger Gönner in Wirklichkeit ein sehr harter Mann ist. Nicht nur hart, sondern knallhart, unhöflich, rüpelhaft, rachsüchtig und unverschämt. Und viele seiner Kumpane, Partner und Gefolgsleute mussten Beleidigungen, Demütigungen und Täuschungen ertragen.

Man kann sich nur vorstellen, was die Künstler aus dem «95er Viertel» zu ihrer Zeit erlebt haben. Und mir scheint, dass der jetzige Präsident schon lange einen sehr ernsten, bitteren Groll gegen seinen Chef hegt.Selenskyj ist ein extrem nachtragender, verletzlicher und rachsüchtiger Mensch. Aber als talentierter Schauspieler ist er in der Lage zu manövrieren, sich auf das Publikum, den Zuschauer und seinen Chef einzustellen – unter anderem. Er passte sich an, zeigte wahrscheinlich nicht, was er wirklich dachte, versteckte und verbarg Kränkungen und Demütigungen. Aber er wollte sich unbedingt von der Unterdrückung durch seinen „Mentor“ befreien und, da bin ich mir sicher, irgendwo ganz tief drin sich für seine Beleidigungen rächen.

Nachdem Selenskyj zum Präsidenten gewählt worden war, fühlte sich Kolomoisky zunächst sehr gut. Er versuchte, seine Leute (Abgeordnete der Präsidentenpartei «Diener des Volkes», Minister, Leiter des Präsidialamtes und so weiter) unter seine Fittiche zu nehmen, um das ganze Projekt „Präsident“ unter seine Kontrolle zu bringen. Die Frage der Rückgabe der «Privatbank» an ihn kam auf, seinen Leuten wurde ein Teil des Energiesektors übertragen.

Vom Freund zum Feind – den neuen Chefs im Westen zuliebe

Fünftens: Aber in diesem Moment kollidierten die privaten, eng begrenzten Interessen von Kolomoisky mit den Interessen der Global Players, die die Ukraine als Werkzeug und Mechanismus in geopolitischen Auseinandersetzungen benötigten. Der Schlüssel dazu war der unerfahrene, aber extrem selbstverliebte und perfekt zu managende Präsident, aber der arrogante lokale Oligarch war definitiv nicht mehr nötig. Die Interessen der großen Politiker und Konzerne in Übersee, die persönlichen Bestrebungen, Beschwerden und Launen des Präsidenten und die geopolitischen Umstände als solche (Verschärfung des Kampfes zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen) stießen hier aufeinander.

Als der Krieg ausbrach, setzten die USA auf den von der Ukraine gewählten Präsidenten und nicht auf einen arroganten und äußerst skrupellosen Oligarchen. Die Supermacht unterstützte Selenskyj, einschließlich seiner Haltung gegenüber seinen Gegnern, seines Wunsches, ein autoritärer Herrscher zu sein, und seiner übermäßigen Einkünfte. Amerika und der Krieg haben ihm gegenüber seinen Gegnern, einschließlich Kolomoisky, die Hände gebunden. Der Präsident wurde zu einem allmächtigen Diktator im Lande. Er unterwarf die Strafverfolgungsstrukturen, die Reste des Strafverfolgungssystems wurden in ein System der Verfolgung umgewandelt. Die Gerichte wurden „ans Bein genagelt“. Politische Gegner, die keine Zeit hatten, das Land zu verlassen, starben entweder oder wurden in Gefängnisse geworfen.

Kolomoisky wurde still und leise die ukrainische Staatsbürgerschaft aberkannt, was es ihm – hypothetisch – ermöglichte, auf Antrag der Justiz- und Strafverfolgungsbehörden anderer Länder ausgeliefert zu werden. Seine Leute wurden so weit wie möglich aus allen Positionen entfernt, die sie zuvor innehatten (z.B. der kürzlich entlassene Kulturminister Tkachenko, ein ehemaliger Produzent von Kolomoiskys Fernsehsender «1+1», derselbe Minister, dessen schmutzige Hände die orthodoxe Kirche und die Orthodoxie in der Ukraine zerstört und ihre Werte beschlagnahmt haben). Kolomoisky wurde aus dem Staatshaushalt verdrängt, dem einzigen „Fresstrog“ in der Ukraine heute, einfach weil die Wirtschaft de facto bereits zerstört ist.

Daher halte ich es für naiv zu glauben, dass Selenskyj immer noch Kolomoiskys Assistent und Beschützer ist, wie einige Leute in der Ukraine immer noch glauben. Selenskyj ist vielmehr ein Katalysator für die Probleme des Oligarchen, und das Szenario, in dem diese Probleme immer weiter verschärft werden, und zwar bereits durch die Hände der amerikanischen Justiz, ist heute ein sehr wünschenswertes und passendes Szenario für den Präsidenten der Ukraine.

Und hier decken sich seine Interessen voll und ganz mit den Interessen der derzeitigen Chefs des ukrainischen Präsidenten – den westlichen Spitzenpolitikern und Geschäftsleuten, die daran interessiert sind, dass die ukrainische Politik und Wirtschaft nur von ihnen, den Westlern, und durch ihre gehorsamen Marionetten in der Ukraine gesteuert werden und die lokalen Oligarchen nicht in die Quere kommen und nicht mehr versuchen, ihr eigenes Spielchen zu spielen.

Erstveröffentlicht bei GlobalBridge v. 22.10.23
https://globalbridge.ch/ueber-die-alten-und-die-neuen-bosse-des-ukrainischen-praesidenten-selenskyj/

Wir danken dem Autor für das Publikationsrecht.