Stellungnahmen zur Polizeigewalt gegen Demonstrierende auf der „INTERNATIONALIST QUEER PRIDE“-Demonstration in Berlin

Zur Polizeigewalt am 26 Juli auf dem Berliner alternativen CSD „Internationalist Queer Pride“ haben ALLIANCE OF INTERNATIONALIST FEMINISTS, PA-ALLIES und Arrest Press Unit eine Erklärung verfasst, die wir hier neben weiteren Kommentaren veröffentlichen:

Am 26. Juli 2025 gingen etwa fünfzehntausend Menschen in Berlin auf die Straẞe, um am Internationalist Queer Pride teilzunehmen – einer Demonstration, die auf dem Erbe des Widerstands gegen Polizeigewalt in Stonewall basiert.

Einige fragen, warum ist die Palästinenserfrage auch für Queers so wichtig? Die Antwort ist ganz einfach. Beide werden ganz besonders unterdrückt. Besonders Unterdrückte müssen sich auf der ganzen Welt zusammenschließen! Nur zusammen können sie etwas verändern! 

Organisiert von einer breiten Koalition – von Queer- und Trans-Communities bis hin zu palästinensischen und internationalistischen Communities – hatte die diesjährige Demonstration einen groẞen und starken Palästina-Block mit dem klaren Verständnis, dass ,,die Befreiung der Queers grundlegend mit dem Traum von der Befreiung Palästinas verbunden ist: Selbstbestimmung, Würde und das Ende der Besatzung und aller Unterdrückungssysteme.
Der Protest wendete sich gegen Kriegspropaganda und das Pinkwashing der israelischen Besatzungsmacht, einschlieẞlich ihrer anhaltenden Kampagne des Völkermords und der Zwangaushungerung in Gaza, der ethnischen Säuberung, des Landraubs und der Besetzung des gesamten historischen Palästinas. Der Protest prangerte auch die tiefe Komplizenschaft und aktive Beteiligung Deutschlands am Genozid an. Die Botschaft war klar: Keine Feierlichkeiten für Völkermord und Zwangsaushungerung, kein Stolz auf Besatzung, ethnische Säuberung und Apartheid.

Von Beginn der Demonstration an wurde der Palästina-Block kriminalisiert. Der erste Fall von Polizeigewalt ereignete sich noch bevor der Marsch überhaupt begonnen hatte: Polizisten stürmten den Bereich um den Protestwagen und nahmen Menschen ins Visier. Die Demonstranten ketteten sich aneinander und widersetzten sich erfolgreich dem Angriff, sodass die Polizei vorübergehend zurückweichen musste.

Während der gesamten Demo setzte die Polizei verschiedene Taktiken der Unterdrückung gegenüber den Versammlungsteilnehmenden ein, darunter gewaltsame Stürme auf die Menge, wiederholte Schläge gegen die Demonstranten, oft absichtlich auf Kopf und Brust, die zu schweren Verletzungen führten, sowie brutale und willkürliche und gezielte Verhaftungen.

Nachdem die Polizei die Demonstration verboten und verhindert hatte, dass sie ihr vereinbartes Ziel erreichte, umzingelte sie die Menge und griff sie erneut brutal an, insbesondere den palästinensischen Block. Die Polizei hielt die Demonstranten mit gewaltsamen Taktiken fest, verwehrte ihnen die Möglichkeit, friedlich zu gehen, und schlug und verhaftete sie brutal auf den Straẞen und in der U-Bahn-Station.

Infolgedessen wurden zahlreiche Demonstranten verletzt, und mehrere Krankenwagen mussten von den Rettungssanitäterinnen vor Ort gerufen werden, um Erste Hilfe zu leisten. Trotz dieser gewaltsamen Unterdrückung gelang es den Demonstranten, ihre schutzbedürftigsten Teilnehmerinnen, darunter viele Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, erfolgreich zu schützen. Die Demonstranten schützten sich gegenseitig mit Transparenten, Menschenketten und kollektiver Fürsorge- wodurch sie die Polizei mehrfach zum Rückzug zwangen und noch gröẞeren Schaden verhinderten.

Kommentar einer Teilnehmerin: „Bei solchem Polizeischutz bedarf es keiner Nazis mehr, die Queer und Trans Mensch angreifen.“ ( Foto eines Demobeteiligten)

Die Arrest Documentation Unit sammelte umfangreiches Bildmaterial und Augenzeugenberichte über illegale Polizeieinsätze. Aufgrund des Ausmaẞes der Repressionen konnte die Gesamtzahl der Festnahmen nicht bestätigt werden; die Einheit dokumentierte jedoch mindestens 65 Personen, die aus absurden oder unrechtmäẞigen Gründen brutal festgenommen wurden, beispielsweise weil sie zuvor von Gerichten als legal eingestufte Sprechchöre sangen oder wegen angeblichen ,,Widerstands gegen die Festnahme“, der nie stattgefunden hatte.

Medizinische und Rettungskräfte meldeten eine erhebliche Anzahl von Verletzungen, die durch Polizeigewalt verursacht wurden. Zahlreiche Demonstranten wurden am Kopf, im Gesicht, am Rücken und am Bauch getroffen, viele davon wiederholt. Mehrere Personen wurden zu Boden gestoẞen, und die Rettungskräfte meldeten, dass mehrere Personen das Bewusstsein verloren hatten. Die Rettungskräfte behandelten mehrere Demonstranten wegen stumpfer Gewalteinwirkung, Gesichtsschwellungen, Blutergüssen, leichten Blutungen und Anzeichen leichter Kopfverletzungen. Eine Person erlitt eine schwere Verletzung, als ihr eine Polizeikamera ins Gesicht geschlagen wurde.

Die Festgenommenen berichteten auch von transphober Belästigung durch Polizeibeamte. Eine Person sagte aus: ,In jeder Phase verspotteten und belachten mich verschiedene Beamte. Besonders schlimm war es in der GESA.“

Israelischer Kulturminister Amichai Eliyahu: „Die Armee muss für die Zivilisten in Gaza schmerzhaftere Mittel finden als den Tod. Sie zu töten, reicht nicht.“ In letzter Konsequenz verteidigen der Berliner Regierende Bürgermeister Wegner und seine Polizeibrigaden solche Leute, wenn sie systematisch die Menschen verfolgen und diffamieren, die diese israelische Politik kritisieren!

Wir haben ein hohes Maẞ an Polizeigewalt beobachtet. Die meisten Verletzungen wurden durch wiederholte Schläge auf den Kopf verursacht, einige führten zu Symptomen einer Gehirnerschütterung und Platzwunden am Kopf. Es gab auch Prellungen, Blutungen, stumpfe Traumata im Nierenbereich und Ohnmachtsanfälle.
„Die Rettungssanitäter wurden wiederholt von der Polizei misshandelt und gestoẞen“, erklärte eine Rettungssanitäterin vor Ort.

Wir bekräftigen, dass die Menschen sich gegenseitig schützen können und müssen, wenn der Staat das Recht auf Versammlung und Meinungsäuẞerung nicht gewährleistet. Die weit verbreitete öffentliche Verurteilung des anhaltenden Völkermords durch die israelische Besatzung und der Komplizenschaft Deutschlands darf nicht durch Einschüchterung, Kriminalisierung, Gewalt oder Massenverhaftungen zum Schweigen gebracht werden.
Anstatt uns entmutigen zu lassen, erleben wir eine wachsende Welle der Solidarität. Während der Polizeigewalt bei den Protesten haben sich viele Umstehende gegen die Gewalt und für die Befreiung Palästinas ausgesprochen. Dieses wachsende zivile Bewusstsein zeigt, dass die Menschen nicht länger bereit sind, wegzuschauen.
Niemand ist frei, solange Palästina nicht frei ist. Gemeinsam sind wir stärker – und wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen
.

Unter den Festgenommenen befanden sich Minderjährige (darunter ein 14-Jähriger und mehrere palästinensische Jugendliche), ältere Menschen und fünf Mitglieder des Sensibilisierungs- und Sicherheitsteams der Demonstration. Sechs Personen wurden in die zentrale Haftanstalt (Gefangenensammelstelle) gebracht. Alle Festgenommenen wurden nach brutaler und erniedrigender Behandlung während und nach der Festnahme wieder freigelassen. Die Polizei wandte Schmerzgriffe und Würgegriffe an, bedeckte gewaltsam die Augen und Münder der Inhaftierten, einige wurden an den Haaren gezogen, wodurch sie ernsthaften Verletzungen ausgesetzt waren und eine grausame und unmenschliche Behandlung erlitten, die einer Folter gleichkam.

Wir fordern:

  • Die sofortige Beendigung der militärischen, finanziellen und politischen Unterstützung Deutschlands für den Völkermord und die Besatzung durch Israel.
  • Die sofortige Beendigung des Völkermords, der ethnischen Säuberungen und der Besatzung Palästinas.
  • Die Beendigung der Belagerung des Gazastreifens, der Politik der Aushungerung und der unerbittlichen Bombardierung palästinensischer Leben.
  • Die Beendigung der Polizeigewalt und Kriminalisierung von Solidarität mit Palästina in Deutschland.
  • Die strafrechtliche Verfolgung von Polizisten, die für rechtswidrige Verhaftungen, übermäẞige Gewaltanwendung, Verweigerung medizinischer Versorgung und Angriffe auf Journalisten verantwortlich sind.
  • Strafverfolgung von Politikern, die die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit der israelischen Besatzung bewaffnen, finanzieren und politisch ermöglichen.
Wir rufen Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und internationale Beobachter dazu auf, die Rolle Deutschlands beim Völkermord in Palästina und die Unterdrückung derjenigen, die sich
dagegen aussprechen, aufzudecken und anzufechten. Die Verteidigung des Völkerrechts und der Bürgerrechte beginnt hier.

Es lebe die Befreiung Palästinas

Kontakt:
palestiniansandallies@proton.me aif_ 1312 @riseup.net arrestunits-berlin@proton.me

Die Volksbühne erinnert an den Arbeitskampf im Berliner Kino »Babylon« vor 15 Jahren

Berlin: Streik im Kino, Punk im Theater

Von Peter Nowak

Ein Arbeitskampf in dem Berliner Kino »Babylon« am Rosa-Luxemburg-Platz mit nicht einmal drei Dutzend Beschäftigten schlug 2009/10 ungewöhnlich hohe Wellen. Das lag auch daran, dass damals die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter*innen-Union (FAU) die Beschäftigten vertrat. 15 Jahre später ist dieser Arbeitskampf nicht mehr so bekannt. Am Donnerstagabend wurde im Roten Salon der Volksbühne im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Vergessene Arbeitskämpfe – Ein Punk-Abend« daran erinnert.

»Es ist faszinierend zu sehen, wie gut das Konzept ›Punk trifft auf Arbeitskampf‹ funktioniert«, sagt Martin, einer der Gäste, der die im Saal angebrachte Wandzeitung ausführlich studierte. Er habe vom »Babylon«-Kampf gehört, sei damals noch Schüler gewesen und habe gerade begonnen, sich für linke Politik zu interessieren. »Mir ist aber nicht klar gewesen, dass durch den Arbeitskampf die Basisgewerkschaft FAU sogar in ihrer Existenz bedroht war.« Er habe erst während der Veranstaltung erfahren, dass der FAU damals die Gewerkschaftsfähigkeit aberkannt wurde. »Ich hätte gar nicht gedacht, dass eine solche Maßnahme in Deutschland möglich ist«, sagt Martin.

Der Rote Salon ist ein gleich in mehrfacher Hinsicht passender Ort für die Veranstaltung. Die Volksbühne befindet sich in unmittelbarer Nähe des Kinos »Babylon«. Zudem fand genau in diesem Saal am 30. Januar 2010, also vor mehr als 15 Jahren, eine Diskussionsveranstaltung über »Neue Formen von Arbeitskampf und kollektiver Organisierung« im Rahmen des Arbeitskampfes statt. Ein Mitschnitt der Debatte war am Donnerstagabend auf einem Bildschirm zu sehen. Auf einem zweiten Monitor lief ein weiterer fast einstündiger Dokumentarfilm, der von Streikenden und Unterstützer*innen vor 15 Jahren gedreht wurde.

Die Filme stießen beim Publikum auf großes Interesse. Selbst während die beiden Berliner Punkbands »Batterrrii« und »Zwang« auf der Bühne standen, widmeten sich einige den Dokumentarfilmen oder der dreiseitigen Wandzeitung, die sämtliche Stationen des fast zweijährigen Arbeitskampfes im »Babylon« auflistete.

»Es war der Mut der Belegschaft, die sich gegen die miserablen Arbeitsbedingungen in dem Kino wehrten und einen Tarifvertrag forderten«, sagt Hansi Oostinga von der FAU. Er war vor 15 Jahren als Mitglied der Basisgewerkschaft in dem Arbeitskampf aktiv. Er schildert, wie die Kinoleitung auf die Forderungen von Belegschaft und Gewerkschaft mit Ablehnung reagierte. Nur einmal sei es zu einem Treffen zwischen FAU und der Leitung bekommen, sagt Oostinga. Danach sei die Kinoleitung immer auf Konfrontationskurs gegangen. FAU-Mitglieder wurden mithilfe der Polizei aus dem Kino geworfen.

»Mir ist nicht klar gewesen, dass durch den Arbeitskampf die Basisgewerkschaft FAU sogar in ihrer Existenz bedroht war.« Martin Besucher

Am 16. Juni 2009 begann der Streik der »Babylon«-Beschäftigen, der knapp einen Monat später mit einem Boykottaufruf verschärft wurde: Solidarische Kinobesucher*innen wurden aufgerufen, das Kino zu meiden, bis die Forderungen der Beschäftigten nach besseren Arbeitsbedingungen und einem Tarifvertrag umgesetzt sind. Solche Boykottaufrufe gehören seit vielen Jahren zu den Instrumentarien von Gewerkschaften im Arbeitskampf. Die Leitung des »Babylon« reagierte mit juristischen Mitteln und beantragte, der FAU ihre Gewerkschaftsfähigkeit abzusprechen.

Nachdem das Arbeitsgericht dem Antrag stattgegeben hatte, sei für die FAU eine »gefährliche Situation« entstanden, erinnert sich ein Mitglied der Basisgewerkschaft. »Die FAU musste zunächst jede gewerkschaftliche Aktivität einstellen, weil sonst hohe Strafzahlungen gedroht hätten.« Sofort setzte eine länderübergreifende Solidaritätskampagne ein, bis das Verbot aufgehoben wurde. Die dokumentierte Diskussionsveranstaltung war ein Höhepunkt dieser Arbeit. Dort sprachen neben Holger Marcks für die FAU auch Jochen Gester von der IG Metall und Renate Hürtgen, die 1989 als linke DDR-Oppositionelle die Initiative für eine unabhängige Gewerkschaft mitgegründet hatte. Dort hatte seinerzeit die FAU mitgearbeitet, die Hürtgen damals kennenlernte.

»Es ist nach 15 Jahren immer noch höchst interessant nachzuhören, auf welch hohem Niveau damals auf der Veranstaltung über die Notwendigkeit basisdemokratischer Strukturen in der Gewerkschaftsbewegung gesprochen wurde. Das ist heute noch genauso aktuell, aber leider wird weniger darüber geredet«, sagt Konzertbesucherin Miriam zu »nd«. Sie hat bereits zum dritten Mal eine Veranstaltung der Reihe »Vergessene Arbeitskämpfe« im Roten Salon der Volksbühne besucht. »Mich überzeugt das Konzept, neben Punkmusik noch mehr über einen Arbeitskampf zu erfahren«, so die junge Besucherin.

Bei den mittlerweile fast 50 Punk-Abenden wurden in der Reihe »Vergessene Arbeitskämpfe« unterschiedliche Streiks in aller Welt thematisiert. Der Ausstand der überwiegend migrantischen Frauen beim Autozulieferer Pierburg im Jahr 1973 stand ebenso im Mittelpunkt eines Abends wie der Arbeitskampf der Minenarbeiter*innen in Südafrika 2012 und der Streik der Streichholzfrauen in Norwegen im Jahr 1898.

Der »Babylon«-Arbeitskampf ist leider keine Erfolgsgeschichte. 2015 startete die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi dort noch einmal einen Arbeitskampf und war ebenso wie fünf Jahre zuvor die FAU mit dem Konfrontationskurs der Kinoleitung konfrontiert. Verdi konnte schließlich nur Abfindungen für ihre Mitglieder aushandeln. Heute ist das Kino wieder gewerkschaftsfrei.

Hansi Oostinga sieht schwere Fehler bei Verdi: »Die Gewerkschaft wollte vor 15 Jahren nicht akzeptieren, dass die FAU in dem Kino die größte Gewerkschaft war, und nahm Verhandlungen mit der Kinoleitung gegen den Willen der Mehrheit der Belegschaft auf.« Als die FAU im Kino kein Faktor mehr war, war auch für Verdi dort kein Platz mehr. Oostinga ist überzeugt: »Hätten wir vor 15 Jahren im «Babylon» alle an einem Strang gezogen, sähe es heute vielleicht anders aus mit der gewerkschaftlichen Organisierung in dem Kino.«

Erstveröffentlicht im nd v. 7.7. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192430.arbeitskampf-berlin-streik-im-kino-punk-im-theater.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

Klassenkampf statt Denkmal

Eine Sammlung mit Briefen, Reden und Interviews erinnert an den Widerstandskämpfer und Gewerkschafter Willi Bleicher

Von Peter Nowak

Zum 80. Jahrestag der Zerschlagung des Nationalsozialismus wurde dieses Jahr einmal mehr deutlich, wie sehr die Antifaschist*innen heute fehlen, die im Widerstand waren und über ihre Zeit in der Illegalität, im Exil und meistens in den faschistischen Konzentrationslagern berichten konnten. Es war nur eine kleine Zahl von Männern und Frauen, die aber in der BRD zahlreiche junge Menschen beeindruckten und mit dazu beigetragen hatten, dass diese selbst Antifaschist*innen wurden. Zu diesen inspirierenden Personen gehörte auch Willi Bleicher. Dass er heute fast vergessen ist, liegt auch daran, weil er schon 1981 mit 74 Jahren verstorben ist. Es ist daher überaus verdienstvoll, dass der Historiker Hermann G. Abmayr im Schmetterling-Verlag unter dem Titel »Texte eines Widerständigen« auf über 450 Seiten nun Schriften von Bleicher veröffentlicht und politisch eingeordnet hat.

Vom Hilfsarbeiter zum Widerstand

Abmayr hatte sich bereits vor 40 Jahren mit der Biografie von Willi Bleicher beschäftigt und 1992 das Buch »Wir brauchen kein Denkmal – Willi Bleicher: Der Arbeiterführer und seine Erben« herausgegeben, das lange Zeit vergriffen war und nun als E-Book neu aufgelegt wurde. Schon der Titel macht deutlich, was sich in den letzten 30 Jahren verändert hat: Bleichers Erben und Schüler, wie Eugen Loderer und Franz Steinkühler, sind heute schon vergessen oder haben – wie der Erfinder der kapitalgetriebenen Rente, Walter Riester – einen politischen Weg genommen, den der lebenslange Marxist Bleicher nicht verteidigen würde. Bleicher war vor 30 Jahren noch mit jenem Ausspruch bekannt, der auch zum Titel des Filmporträts über ihn wurde: »Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken«.

In »Texte eines Widerständigen« ist eine Rede Bleichers zur Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises im Jahr 1978 abgedruckt, in der er auf die Hintergründe dieses Satzes einging: »Ich liebte sie nicht, meine Schullehrer, die mir als siebenjährigen Jungen befahlen, mich zu bücken, damit der Rohrstock nicht nur meinem Hinterteil Schmerzen bereitete, sondern auch meinem kindlichen Gemüt. So lernte ich beizeiten die Erkenntnis, mit welchen Mitteln und Methoden die Menschen kleingemacht werden.«

Bleicher, geboren 1907, war kein Intellektueller gewesen. Er war zunächst Hilfsarbeiter, erst im Bäcker- dann im Metallgewerbe. Nach 1945 war er Funktionär der IG Metall in Baden-Württemberg und gehörte dort zu den linken Gewerkschafter*innen mit einem kommunistischen Hintergrund. Und auch für ihn gilt, dass Arbeiter*innen tendenziell wenige schriftliche Zeugnisse hinterlassen: Auf den ersten 100 Seiten sind die Briefe abgedruckt, die Bleicher aus den verschiedenen NS-Gefängnissen und dann dem KZ-Buchenwald an unterschiedliche Familienmitglieder geschrieben hat. Es wird deutlich, dass er sich zu politischen Fragen nicht äußern durfte. Vielmehr bittet er um etwas zu essen oder um »die Wasch«, was schwäbisch saubere Wäsche bedeutet. Fast in allen Briefen betont er, dass es ihm gut gehe und sich die Adressat*innen keine Sorgen machen sollten.

Wie es ihm wirklich ging, zeigt sich schon darin, dass Bleicher 1936 die Geburtstagsgrüße an seine Mutter mit der Hoffnung beendete, er würde im nächsten Jahr wieder zu Hause sein. 1939 konnte er nur noch schreiben, dass er diesen Wunsch jetzt schon so oft geäußert hätte und er bisher nicht in Erfüllung gegangen sei. Dabei sollte die schlimmste Zeit seiner Gefangenschaft erst noch kommen. In den gesammelten Texten veröffentlicht Abmayr ein Interview, das Bleicher 1973 mit dem Fernsehjournalisten Klaus Ullrich führte. Dieser plante eine Bleicher-Biografie, zu der es nie gekommen ist. Das im Nachlass von Ullrich gefundene Tonband mit dem Gespräch ist hier erstmals publiziert. Bleicher schildert darin, wie er nach der Verbüßung seiner Haftstrafe in das KZ Buchenwald deportiert und dort Teil der kommunistischen Widerstandsbewegung wurde. Ihm blieben auch die mit schwerer Folter verbundene Verschleppung in den Bunker und die Todesmärsche in den letzten Wochen des NS nicht erspart.

Enttäuschung und Einheit

Das Interview beeindruckt jedoch auch, weil Bleicher tiefe Einblicke in das Leben einer Arbeiter*innenfamilie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gibt. Die Schule erlebte der junge Bleicher als autoritäre Drillanstalt. »Was waren die Lehrer? Das waren Unteroffiziere«, heißt es in einem seiner Texte. Doch es wird auch deutlich, wie wichtig Bleicher schon in jungen Jahren die Aneignung von Bildung war. Im kommunistischen Jugendverband verschaffte er sich Bücher und gründete einen Lesekreis zum Thema Geschichte der Arbeiter*innenbewegung. Bleicher beschreibt, wie er in Opposition zum Kurs der KPD unter Thälmann geriet und sich in der Kommunistischen Opposition organisierte, die schon früh für ein großes Bündnis der Arbeiter*innenparteien gegen den wachsenden NS eintrat und sich auch in der Gewerkschaftspolitik am Einheitsgedanken orientierte.

Doch auch mit der KPO machte Bleicher nicht nur positive Erfahrungen. So berichtet er, dass er auf der Flucht vor der Verfolgung ohne Geld und Kontakte in einer französischen Stadt von Genoss*innen abgewiesen wurde. Später erfuhr er, dass er aufgrund einer innerparteilichen Intrige für einen Spitzel des NS gehalten wurde – ein einschneidendes Erlebnis, das Bleicher noch 50 Jahre später in Erinnerung bleibt: »Das war am Pfingstmontag 1934. Das war das Schlimmste, was ich in all den Jahren mitgemacht habe. Ich kann mich sehr wohl daran erinnern, dass ich zum ersten Mal mit dem Gedanken des Selbstmords spielte.«

Gegen jeden Nazismus

Trotz einer drohenden Verhaftung entschied sich Bleicher, zurück nach Deutschland zu gehen. Seine Arbeit in der illegalen KPO setzte er entgegen der Enttäuschungen bis zu seiner Verhaftung 1936 fort. Erst im April 1945 wird er von der US-Armee befreit. Er kehrt zurück nach Stuttgart und stürzt sich wie viele Widerstandskämpfer*innen sofort wieder in die politische Arbeit in der IG Metall und der KPD, aus der er 1950 austrat. Dabei ist ihm aus den Erfahrungen mit dem Aufstieg der Nazibewegung die Einheit der Arbeiter*innenbewegung ein besonderes Anliegen.

In der zweiten Hälfte des Buches sind neben einem Interview mit Erasmus Schöfer und Erhard Korn verschiedene Reden von Bleicher auf Gewerkschaftskongressen veröffentlicht. Oft sind es nur kurze Berichte, in denen er zitiert wird. Hier äußert er auch gelegentlich Selbstkritik über eine Gewerkschaftsbürokratie, die sich zunehmend in den Kapitalismus integriert. Nach seinem Ausscheiden aus allen Gewerkschaftsfunktionen beim Erreichen des Rentenalters hatte Bleicher noch einige Jahre Gelegenheit, auf antifaschistischen Demonstrationen oder Preisverleihungen aufzutreten. Auch diese Reden sind dokumentiert. Er meldete sich zu Wort, wenn alte SS-Männer sich zu Kameradschaftstreffen versammelten, und er warnte vor allen Formen des Neonazismus. Dabei sah er die Gefahr nicht nur am rechten Rand. Besonders die Kanzlerkandidatur des CSU-Rechtsaußen Franz Josef Strauß, der bekanntlich beste Kontakte zu Faschisten im In- und Ausland hatte, war für Bleicher Anlass zu Warnungen vor einer neuen Form des Faschismus.

Hier nahm er den Standpunkt als Marxist ein, der in der NS-Bewegung wie in allen Faschismen eine Herrschaftsform des Kapitals sah und der die Überzeugung hatte, dass nur eine auf dem Boden des Klassenkampfs stehende Arbeiter*innenbewegung den Faschismus verhindern könne. Dabei sprach er auch deutlich vom historischen Versagen der Arbeiter*innenbewegung in Deutschland. Er forderte sogar ein Schuldbekenntnis der Arbeiter*innenklasse in Deutschland, dass sie, anders als in Österreich und Spanien, kampflos vor dem Faschismus kapituliert habe.

Früh äußerte er sich auch zum wiedererstarkenden Antisemitismus. Weil er im KZ Buchenwald den jüdischen Jungen Jerzy Zweig vor der Deportation versteckt hatte, wurde Bleicher 1965 in der israelischen Gedenkstätte Yad Vaschem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. Es ist gut, dass Abmayr mit dem Buch an einen antifaschistischen Gewerkschafter erinnert, der kein Denkmal braucht – die Arbeit an einer zeitgemäßen linken Arbeiter*innenorganisierung wäre die größte Ehrung für ihn.

Hermann G. Abmayr (Hrsg.): Willi Bleicher. Texte eines Widerständigen. Briefe aus dem KZ, Reden und Interviews. Schmetterling-Verlag 2025, 460 S., br., 24,80 €.
Erstveröffentlicht im nd v. 29.5. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191556.willi-bleicher-klassenkampf-statt-denkmal.html?sstr=Willi|Bleicher

Wir danken für das Publikationsrecht.

Link zum Verlag
https://schmetterling-verlag.de/produkt/willi-bleicher-texte-eines-widerstaendigen/

Diese Seite verwendet u. a. Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung