Antifaschistischer Protest in Giessen: Alle zusammen gegen den Faschismus! Aber wie?

„Wenn man in einen falschen Zug einsteigt, nützt es nichts, wenn man im Gang gegen die Fahrtrichtung läuft.“ (Dietrich Bonhoeffer, Gedanken zum antifaschistischen Protest in Giessen, 29.11.2025 [1])

Von Hans Christoph Stoodt

Um die Frage, wie der drohende Faschismus mit Aussicht auf Erfolg bekämpft werden kann, gibt es in der antifaschistischen Bewegung verschiedene Vorsstellungen. Die beiden entgegengesetzten sind: Die erste sagt: Man muss Druck auf die bürgerliche Mitte ausüben, damit sie die Brandmauer nach rechts aufrechterhält. Die zweite hält dagegen: Man muss sich auf ein antikapitalistisches Projekt schützen, das eine wirkliche Alternative formuliert, die andere Antworten gibt als die Rechten. Der Autor formuliert Argumente für die zweite Strategie. (Jochern Gester)

Demo gegen die AfD in Giessen am 29. November 2025. Foto: ‪Black Mosquito

Die Aktionen gegen die Gründung des AfD-Jugendverbands „Generation Deutschland“ sind zuende. Sie waren von einer beispiellos breiten und vielfältigen Mobilisierung und Bandbreite der Aktionsformen gekennzeichnet: von der Protestkundgebung der staatstragenden, bürgerlich-demokratischen Parteien (mit selbst so entschiedener Ausnahme der CDU) auf dem Berliner Platz, kilometerweit vom Ort des Geschehens entfernt, bis hin zu der in dieser Form neuen Kooperation des Aktionsbündnis „widersetzen!“ mit dem DGB, die bis zur absoluten Erschöpfung alles dafür gaben, den Gründungskongress der Jungnazis erfolgreich zu verhindern.

Schon im Vorfeld hatten Staat und Kommune das ihre getan, um sich von jedem effektiven Protest, jeder noch so friedlichen Sitzblockade, jeder Form von effektivem Protest gegen die Gründung der AfD-Jugend zu distanzieren. Der Oberbürgermeister Giessens beteuert mehrmals, leider, leider könne er gegen die Vermietung der „Hessenhallen“ auf dem Giessener Messegelände nichts tun. Der hessische Innenminister versicherte, die Polizei sei im Konflikt mit dem Faschismus „neutral“ (was in sich bereits eine pro-faschistische Äusserung darstellt), während er gleichzeitig eine Armada von hochgerüsteten riot-cops, Drohnen, Hubschraubern, Reiter- und Hundestaffeln, Wasserwerfern und Räumpanzern gegen die bedrohlichen Antifaschist:innen von der Kette liess.

Gegen die angelaufene bundesweite Mobilisierung wurden grossräumige Demonstrationsverbote verhängt und juristisch gegen alle Einsprüche bis zur letzten Instanz der bürgerlichen Justiz durchgesetzt, damit niemand auf den Gedanken kommen sollte, daran zu zweifeln, wo Kommune Giessen, Land Hessen und die Polizei stehen: auf der Seite der Jugendorganisation, deren designierter Vorsitzender Hohm wenige Tage zuvor in social media – Kanälen damit aufgefallen war, die ersten Worte des „SS-Treuelieds“ zu posten – man tut ihm also nicht Unrecht, sondern dürfte, falls er nicht bewusstseinsgespalten ist, auf seine zumindest innere Zustimmung treffen, wenn man ihn als Nazi einstuft.

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Was tun gegen den Rechtsruck! Aber wie?

Die aus fünfzehn Bundesländern zusammengezogene Polizei belohnte diese „Ehre und Treue“ der AfD-Jungnazis, indem sie zunächst die auf den Strassen rund um Giessen blockierenden Antifaschist:innen beiseite boxte, trat, schlug und 26 von ihnen verletzte, die aus der Innenstadt die Lahn zu überschreiten dohenden Antifas auf den Brücken blockierte, mit Wasserwerfern bedrohte.

Hierbei forderten die Träger:innen des Gewaltmonopols blechern tönend wieder und wieder, wir sollten uns „friedlich und gewaltfrei“ gegen die zu allem bereiten Nachahmungswilligen der Täter von Buchenwald und Auschwitz verhalten, wobei die Hüter:innen der „öffentlichen Ordnung“ ein martialisches Auftreten zur Schau trug, das wohl sagen sollte: „Glaubt bloss nicht, wir wüssten nicht, auf welcher Seite wir stehen!“ – nämlich mit den Rücken zu den Nazis.

Am Verhalten von Nazis, Staat und Polizei können wir wenig oder nichts ändern. Wir kennen es genauso seit Jahrzehnten. Aber wir können die Gelegenheit nutzen, uns jetzt ernsthaft zu fragen: was können, was müssen wir tun, damit Antifaschismus endlich erfolgreich wird? Denn natürlich, trotz aller Mobilisierungserfolge, trotz des riesigen und höchst anerkennens- und dankenswerten Einsatzes vor allem von „Widersetzen!“ ist dies eine weitere Niederlage und nicht ein Erfolg.

„Wenn man in einen falschen Zug einsteigt …“ wir haben es vor den Wasserwerfern stehend gesungen.

Der Zug, in dem sich (nicht nur) die deutsche Gesellschaft bewegt, braust auf den Abgrund zu, in dem Klimakatastrophe, Weltkrieg und Faschismus schon auf ihn warten. Eigentümer des Zuges ist der Zusammenhang, der diesen Abgrund und die in ihm wartenden Höllengestalten drohen: der Kapitalismus, dessen Ausgeburten sie sind.

Wir können im Zug stehen oder sitzen, toben, schreien, brüllen, gegen die Fahrtrichtung demonstrieren, von innen an die Türen treten, gegen die Fenster hämmern, uns betrinken oder die Situation zu ignorieren versuchen, wir können die Kontrolleure im Zug beleidigen oder in Wahlen beschliessen, dass der Zug künftig von Heidi Reichinnek statt von Friedrich Merz als Lokomotivführer:in gefahren wird – das wird nichts wesentliches ändern. Der Zug wird weiter in Richtung Abgrund brausen. Wir können, so schnell wir wollen, im Richtung Abgrund fahrenden Zug gegen die Fahrtrichtung rennen – es hilft nichts.

Das Einzige was hilft ist: die Notbremse ziehen, aussteigen, den Zug verlassen, das Gleisbett verlassen. Den Kapitalismus verlassen, was sicher nicht „friedlich und gewaltfrei“ möglich sein wird – nicht weil wir Gewalt toll finden, sondern weil die Herren und Damen des bisherigen ancien régime wie schon tausendmal bewiesen alles, buchstäblich alles tun werden, um uns in den Abgrund zu befördern.
Das ist keine Verleumdung: sie tun schliesslich weltweit, in aller Öffentlichkeit und tagtäglich Schritte in Richtung Klimakatastrophe, Krieg und Faschismus, und sie ermorden seit Jahrzehnten, ohne mit der Wimper zu zucken, alle und jeden, der es wagt, von innen an der Tür zu rütteln.

Die bisherige antifaschistische Politik „breiter Bündnisse“ ist gescheitert, weil sie es versäumt, die gesellschaftliche Machtfrage so unauflöslich mit der Frage des Antifaschismus zu verbinden, wie es die Gegenseite seit je tut und damit mal um Mal siegt. Gegen uns, gegen die riesige Mehrheit der Gesellschaft, gegen die Zukunft der menschlichen Zivilisation.

„Alle zusammen gegen den Faschismus“ – das funktioniert, es muss funktionieren: aber nur auf der Basis des Kampfs gegen ihn „und seine gesellschaftlichen Wurzeln“. Alles unterhalb dieser Herausforderung ist verkürzt und lässt uns wie im Hamsterrad das ewig und immer selbe erleben, während der Zug dem Abgrund entgegendonnert.

Was können wir, müssen wir besser machen?

Wir brauchen Bündnisse und eine antifaschistische Einheit, die wirklich von unten aufbauen. Wir sollten eine einzige Vorbedingung für die Mitarbeit in diesen Bündnissen machen: den ehrlichen Willen, Faschismus, Krieg und Klimakatastrophe, soziale Ungleichheit in allen Formen, Nationalismus und Rassismus mit ihrer gemeinsamen gesellschaftlichen Wurzel kompromisslos zu bekämpfen – so, wie es die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald schworen: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“[2]

Zu meinen, es können Antifaschismus ohne Kampf gegen den Kapitalismus geben – das ist die heutige Form selbst vieler Antifaschist:innen, „im Gang gegen die Fahrtrichtung zu laufen“.

An solchen Bündnissen sollten sich unabhängig von jeglicher Partei-, Gewerkschafts- oder sonstigen Mitgliedschaft alle beteiligen: in Initiativen, Bündnissen, Komitees zu allen speziellen Fragen, um die sie sich gerade kümmern wollen oder müssen. Und nie, ohne die grosse, alles entscheidende Frage aus den Augen zu verlieren: dass wir uns dem Abgrund Tag für Tag nähern. Organisationen sein, die sich – als Organisationen – nicht klar gegen den Faschismus, den Krieg, die Klimakatastrophe „mit ihren gesellschaftlichen Wurzeln“ wenden – die brauchen wir nicht. Denn sie haben seit Jahren und Jahrzehnten bewiesen, dass sie den Zug, in dem wir alle zum Abgrund rasen, entweder nicht stoppen wollen oder es nicht können – und dass sie erwiesenerermassen bereit sind, uns gewaltsam entgegenzutreten, wenn wir den Zug stoppen wollen.

Solche Bündnisse von unten und für ein Leben gegen den Abgrund hätten sicher auch Dietrich Bonhoeffers Beifall und Mitdenken gefunden.

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Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten an einer Demonstration in Frankfurt am Main, 11. April 2021.

Eine Polemik von links gegen Lucius Teidelbaums […]

Der Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten auf dem Weg in die […]

Auch Bertolt Brecht würde zustimmen. In seinem Text „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ aus der Jahreswende 1934/35 schrieb er:

„Die Wahrheit muss der Folgerungen wegen gesagt werden, die sich aus ihr für das Verhalten ergeben. Als Beispiel für eine Wahrheit, aus der keine Folgerungen oder falsche Folgerungen gezogen werden können, soll uns die weitverbreitete Auffassung dienen, dass in einigen Ländern schlimme Zustände herrschen, die von der Barbarei herrühren. Nach dieser Auffassung ist der Faschismus eine Welle von Barbarei, die mit Naturgewalt über einige Länder hereingebrochen ist.

Nach dieser Auffassung ist der Faschismus eine neue dritte Macht neben (und über) Kapitalismus und Sozialismus; nicht nur die sozialistische Bewegung, sondern auch der Kapitalismus hätte nach ihr ohne den Faschismus weiter bestehen können usw. Das ist natürlich eine faschistische Behauptung, eine Kapitulation vor dem Faschismus. Der Faschismus ist eine historische Phase, in die der Kapitalismus eingetreten ist, insofern etwas neues und zugleich altes. Der Kapitalismus existiert in den faschistischen Ländern nur noch als Faschismus und der Faschismus kann nur bekämpft werden als Kapitalismus, als nacktester, frechster, erdrückendster und betrügerischster Kapitalismus.

Wie will nun jemand die Wahrheit über den Faschismus sagen, gegen den er ist, wenn er nichts gegen den Kapitalismus sagen will, der ihn hervorbringt? Wie soll da seine Wahrheit praktikabel ausfallen?

Die gegen den Faschismus sind, ohne gegen den Kapitalismus zu sein, die über die Barbarei jammern, die von der Barbarei kommt, gleichen Leuten, die ihren Anteil vom Kalb essen wollen, aber das Kalb soll nicht geschlachtet werden. Sie wollen das Kalb essen, aber das Blut nicht sehen. Sie sind zufriedenzustellen, wenn der Metzger die Hände wäscht, bevor er das Fleisch aufträgt. Sie sind nicht gegen die Besitzverhältnisse, welche die Barbarei erzeugen, nur gegen die Barbarei. Sie erheben ihre Stimme gegen die Barbarei und sie tun das in Ländern, in denen die gleichen Besitzverhältnisse herrschen, wo aber die Metzger noch die Hände waschen, bevor sie das Fleisch auftragen.“[3]

Wir sollten aufhören, es uns selbst leichter zu machen, als es ist.

Ja – wir brauchen dringend breitestmögliche antifaschistische Bündnisse – aber es sollten Bündnisse im Sinn von Bonhoeffer und Brecht, Bündnisse gegen den Faschismus „und seine gesellschaftlichen Wurzeln“ sein. Es wird Zeit, dass wir in unseren eigenen Reihen diskutieren, wie wir die bisherigen Pfade der trotz solch grossen Enthusiasmus immer wieder erfolglosen Pfade verlassen, endlich den Zug stoppen, dem Abgrund den Rücken und uns dem Leben zuwenden.

Fussnoten:

[1] Der zitierte Satz wird immer wieder Dietrich Bonhoeffer zugeschrieben, ohne dass sich das so eindeutig verifizieren liesse wie jener andere des Theologen und kurz vor der Befreiung 1945 vom Staat ermordeten antifaschistischen Widerstandskämpfers. Angesichts des ersten staatlich angeordneten Boykotts jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 forderte Bonhoeffer, man müsse „dem Rad in die Speichen fallen“ anstatt sich nur unter die unter Räder Gekommenen zu kümmern.

[2] Ansprache in französischer, russischer, polnischer, englischer und deutscher Sprache auf der Trauerkundgebung des Lagers Buchenwald am 19. April 1945“, Buchenwaldarchiv Sign. NZ 488, hier ziziert nach: Carlebach, Emil; Schmidet, Willy, Schneider, Ulrich: Buchenwald. Ein Konzentrationslager. Berichte – Bilder – Dokumente, herausgegeben im Auftrag der Lagergemeinschaft Buchenwald-Dora, Köln 2000, Faksimile des Textes der Ansprache auf der inneren hinteren Umschlagseite.

[3] Brecht, Bertolt, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit (1934/35), Online: http://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/brecht2.html.

Erstveröffentlicht im Untergrundblättle v. 1.12. 2025
antifaschistischer-protest-in-giessen-alle-zusammen-gegen-den-faschismus-aber-wie?

Wir danken für das Publikationsrecht.

Kein Raum für Faschismus – Nicht heute, nicht morgen, nie wieder!

Warum die Proteste gegen die Gründung einer neuen AFD-Jugendorganisation Hoffnung machen

Die massiven Proteste in Gießen am 29.11.25 mit über 25.000 Demonstrierenden, die sich aus dem gesamten Bundesgebiet in der Stadt zusammengefunden haben sowie die zeitgleich stattfindende Gegendemonstration mit rund 1.200 Protestierenden in Berlin (1) hatten eines gemeinsam: den entschlossenen Widerstand gegen die Organisation rechtsextremer und faschistischer Strukturen. Das Engagement und der Mut dieser Menschen ist überwältigend und macht Hoffnung. Denn es geht um nicht weniger als um die Verteidigung der Demokratie in diesem Land.

Warum der Widerstand so wichtig ist!

Man muss nur kurz in die Redebeiträge der Mitglieder der „Generation Deutschland“ an ihrem Gründungstag reinhorchen. Wenn ausschließlich von millionenfacher Remigration die Rede ist, die nötig sei um „unsere Frauen und Kinder zu schützen“ (2), von der „nationale(n) Pflicht, die deutsche Kultur vor Fremdeinflüssen zu schützen“, die im Hitler-Stil dargeboten wird (3) …. dann ist klar: in der ideologischen Blase dieser jungen Rechtsextremisten ist nur Platz für einige Wenige und die Liste der auszugrenzenden Bevölkerungsgruppen lang. Diese als junge Kaderschmiede für die AFD bezeichnete Organisation ist weder gemäßigt noch bürgerlich, auch wenn sie versucht sich so zu inszenieren. Sie ist durch und durch von rechtsextremer und faschistischer Ideologie und einem verfassungs- und menschenfeindlichen Weltbild geprägt. Diese Redebeiträge zeigen deutlich, was auf dem Spiel steht, wenn wir uns nicht widersetzen: fundamentale Menschenrechte, die jahrhundertelang durch die Zivilgesellschaft erkämpft wurden sowie das demokratische Zusammenleben unserer Gesellschaft. Sie stehen unter massivem Angriff durch die extreme Rechte. Noch gefährlicher ist aber die Komplizenschaft der politischen Mitte, die bereits in ihrer Rhetorik, vor allem aber auch im politischen Agieren zeigt, dass sie längst scharf nach rechts abgebogen ist.

Diffamierung statt Differenzierung

Statt das Engagement der Demonstrierenden, sich gegen den Faschismus zu stellen, zumindest anzuerkennen, zumal die Vorgängerorganisation bereits als gesichert rechtsextrem eingestuft und aufgelöst wurde, kommt von den Regierenden nur Kritik, die sich ausschließlich gegen die Demonstrant:innen richtet. So sagte der Ministerpräsident Hessens Boris Rhein „Die Gewaltmärsche von Gießen waren ein linker Tiefpunkt“ (4). Hessens Innenminister Roman Poseck behauptete in einem Interview mit der WELT „Ich danke den Polizisten für ihren wirklich aufopferungsvollen Einsatz (…) wenn die Polizei nicht so stark aufgetreten wäre (…) wäre es zu schwersten Gewalt- und Straftaten und zu erheblichen Beeinträchtigungen von Leib und Leben gekommen.“ (5). Verkehrte Welt könnte man bei diesen überspitzten Kommentaren also meinen. Obwohl die Verbindungen der „Generation Deutschland“ zu rechtsextremen Netzwerken offenkundig sind, wird ihr Versammlungsrecht energisch verteidigt, der Protest dagegen jedoch kritisiert und die Polizeigewalt verharmlost. Unterschlagen wird zudem, dass ziviler Ungehorsam in Form von Blockaden juristisch legitimierte demokratische Widerstandsformen sind und nich pauschal zu Straftaten erklärt werden können. Keine Differenzierung, keine gleichberechtigte Gegenüberstellung. Nur Spaltung und Diffamierung des antifaschistischen Protests. Allenfalls kleinlaut wird überhaupt erwähnt, dass es sich in Gießen zu einem überaus großen Teil um eine friedliche Demonstration handelte; und eben nicht um eine im Kern gewaltbereite Meute. Fast könnte man meinen, Einschüchterung von nicht weniger als der Mitte der Gesellschaft sei hier das Ziel. Es zeigt offenbar auch Wirkung. Von vielen Menschen hörte ich, sie hätten Angst sich der Demonstration anzuschließen, da sie sich vor gewalttätigen Ausschreitungen fürchten. Das Bild einer krawallgebürsteten Kampfeinheit namens „Antifa“ ist perfekt in den Köpfen verbaut. Aufgrund tendenziöser Berichterstattung und der permanenten Gleichsetzung von links und rechts – obwohl beide grundverschieden sind – wird oft verkannt, dass links die Demokratie erweitern möchte, während rechts darauf abzielt, sie zu schwächen oder abzuschaffen. Ebenso verzerrend wird die Antifa als eine Art linksextremistisch geprägte Organisation dargestellt. Dabei existiert eine Institution oder Organisation namens „Antifa“ nicht, sondern eine Vielzahl von Gruppen, die „in Zweck und Ausrichtung ihrer Aktionen nicht homogen sind.“ (6) Umso wünschenswerter wäre eine Berichterstattung und Kommentierung, die das berücksichtigt, anstatt dem berechtigtem Anliegen einer Vielzahl von Menschen mit Ignoranz und Ablehnung zu begegnen.

Nie wieder ist jetzt! Warum es jetzt auf die Zivilgesellschaft ankommt.

Trotz all der Diffamierung zeigte der Protest vor allem, dass es eine sehr große Mehrheit gibt, die sich laut gegen einen erstarkenden Faschismus in Deutschland ausspricht und den Mut hat den rechten Kräften entgegen zu treten. Er zeigte, dass die Menschen in einer demokratischen, solidarischen und friedlichen Welt leben möchten und dieser Wunsch alle, die nach Gießen kamen verbindet. Und auch die Zahlen sprechen für sich: lediglich ca. 1000 AFD-Mitglieder waren im Vergleich zu zehntausenden Demonstrierenden in Gießen versammelt. Das macht Hoffnung. Und dennoch bleibt es erst der Anfang. Denn er zeigte auch deutlich, auf wessen Seite sich Regierungsverantwortliche und Behörden stellen, wenn es drauf ankommt. Die berühmte KZ-Überlebende Esther Bejarano mahnte einst: „Wer gegen Nazis kämpft, der kann sich auf den Staat nicht verlassen.“ (7) Es kommt also auf uns alle im Kampf gegen den Faschismus an. Gießen hat eben auch gezeigt: wir müssen uns weiter widersetzen; gegen die AFD und die reale Gefahr einer Regierungsbeteiligung, gegen die erstarkende Rechte weltweit und gegen eine Politik, die die Brandmauer längst eingerissen hat. Die Geschichte hat gezeigt, dass es für den Protest irgendwann zu spät sein kann. Daher müssen wir uns Jetzt verbinden, uns gegenseitig stärken und uns gemeinsam widersetzen. Jede/r kann einen Beitrag leisten. Ob auf der Straße, als Unterstützer:innen der antifaschistischen Aktionsbündnisse und deren Organisationen, im Gespräch mit Freunden und Familien oder in Diskussionsforen, als Spender:innen und ehrenamtlich Helfende. Ob in Schulen, Institutionen und Betrieben. Gießen hat mir eines gezeigt: ich bin nicht allein. Zehntausende Menschen sind für den Erhalt der Demokratie und eine lebenswerte Zukunft! Wir sind VIELE! Und das macht ungemein Mut. Mut weiterzumachen und dagegen zu halten. Mit vereinten Kräften.

(1) https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2025/11/polizisten-rechtsextreme-demo-einsatz-neonazis-berlin-mitte-gegner-demonstranten.html

(2) https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/afd-parteijugend-100.html

(3) https://www.focus.de/politik/deutschland/fuchtelnder-zeigefinger-und-hitler-ton-hohm-reagiert-auf-skurrile-rede-bei-afd-jugendkongress_9191e59d-05ee-4adc-867e-6264ca257423.html

(4) https://www.tagesschau.de/inland/regional/hessen/demo-giessen-polizeieinsatz-100.html

(5) https://www.welt.de/politik/deutschland/video692d707feb716dafb494b7e8/proteste-gegen-afd-jugend-in-giessen-massive-gewaltausbrueche-seitens-der-linksextremen-szene.html

(6) https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/hintergruende/DE/linksextremismus/die-antifa-antifaschistischer-kampf-im-linksextremismus.html

(7) https://www.erinnerungskultur-viersen.de/demokratie-und-demokratiebewusstsein

Zum Aktionsbündnis Widersetzen: https://widersetzen.com/

Hasbara für Lehrkräfte: Mit dem Beutelsbacher Konsens das Image Israels an unseren Schulen retten?

Bild: Montecruz Foto, CC BY-SA 3.0.

Am Mittwoch 03. Dezember stellt die Deutsch-Israelische Gesellschaft Berlin Brandenburg im jüdischen Gemeindehaus in Charlottenburg die Broschüre „Fakten statt Fake – Was ist los im Nahen Osten?“ vor.

Anders als der Titel vemuten lassen könnte, geht es den Herausgebenden allerdings nicht um Aufklärung, sondern um Hasbara. Also um so genannte „Öffentlichkeitsarbeit“ im Sinne des israelischen Staates, kurz Staatspropaganda. Gegen die Instrumentalisierung des Antisemitismusbegriffs für diesen Zweck, welche die Broschüre durchzieht, organisieren antizionistische Aktivist:innen einen Protest.

Protestkundgebung:

Beginn: 18:00 Uhr
Ort: Kurfürstendamm/Fasanenstraße (neu)

Die Broschüre wurde gemeinsam mit der Leo Trepp Stiftung und mit freundlicher Unterstützung durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin und in Kooperation mit dem „Israelsolidarischen Lehrernetzwerk (ISLN)“ umgesetzt. Ziel der Broschüre sei verunsicherten Lehrkräften eine Unterstützung zu bieten „beim Einordnen und zum eigenständigen Handeln in der Unterrichtspraxis“.

Die Herausgebenden erwecken den Eindruck, dass Lehrkräfte durch die Lektüre befähigt werden sollen einen kritischen Diskurs mit Schüler:innen zum Themenkomplex „Nahost“ zu führen. Doch diesem Anspruch wird die Broschüre an keine Stelle gerecht.

Analyse der Broschüre

Die Autor:innen stellen in ihrem Vorwort richtigerweise fest, dass viele Schüler:innen ihre Hauptinformationen zu politischen Themen zunehmend über die Sozialen Medien beziehen. Ihre Schlussfolgerung lautet:

Diese Plattformen mischen Fakten mit Mutmaßungen, historischen Verzerrungen und antisemitischen Narrativen. Der algorithmisch gesteuerte Medienkonsum verstärkt diese einseitigen Bilder und fördert ein Weltbild, das mit der Realität oft wenig gemein hat. Inhalte, die den Staat Israel delegitimieren oder antisemitische Stereotype bedienen, prägen so zunehmend die Wahrnehmung junger Menschen.1

In Gesprächen mit Lehrkräften wurden elf Aussagen von Schüler:innen identifiziert, mit denen Lehrkräfte laut den Autor:innen „häufig konfrontiert“ sind:

Hier nachzulesen.

Sicherlich gibt es viele Gefahren, die aus dem Algorithmus und der Marktmacht der großen Plattformen erwachsen. Definitiv gehört auch die Verbreitung von diskriminierenden und menschenfeindlichen Ideologien dazu, die einige Plattformbetreiber gezielt fördern. Elon Musk ist für seine antisemitischen Ansichten und Programmcodes bekannt.2 Was den regierenden Bürgermeister nicht davon abhielt ihn im März 2024 noch persönlich zu treffen.3 Wobei Musk auch nicht der erste Antisemit ist, der Wegner in seiner politischen Karriere nahe stand.4

Doch zurück zur – von Wegner geförderten – Broschüre. Die Autor:innen machen es sich zur Aufgabe die 11 gesammelten Behauptungen in einen Kontext zu setzen und aufzuzeigen, warum „einige von ihnen als judenfeindlich einzuordnen sind“. Die jeweiligen Antworten der Broschüre auf die vermeintlichen Aussagen der Schüler:innen wollen sie „im Sinne des Beutelsbacher Konsens“ formuliert haben. Es werde keine „einseitige Sichtweise“ vertreten. „historische und soziologische Kontexte sowie völkerrechtliche Bewertungen“ würden in der Argumentation berücksichtigt.

Überfliegt man die gesammelten Aussagen der Schüler:innen, so stellt man schnell fest, dass einige der Aussagen äußerst kontrovers erscheinen, manche in dieser Form zugespitzt bis abwegig daher kommen, Teilaspekte jedoch durchaus diskutierenswert wären. Andere Aussagen werden so nicht nur von Schüler:innen, sondern auch von namhaften Menschenrechtsorganisationen und Völkerrechtsexpert:innen vertreten. Zum Beispiel die Aussage „Israel begeht einen Genozid an den Palästinensern“. Es stellt sich also die Frage, welche der elf ausgewählten Aussagen der Schüler:innen von den Autor:innen nun als per se „judenfeindlich“ eingeordnet werden.

Was bedeutet Beutelsbacher Konsens?

Bevor man sich genauer den Antworten der Broschüre widmet, muss allerdings auch die Frage geklärt werden was der Begriff „Beutelsbacher Konsens“5 eigentlich genau meint. Der Begriff stammt aus den 1970er Jahren und verdankt seinen Namen einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg in Beutelsbach. Dort verständigte man sich auf drei Punkte, die unter Fachleuten konsensfähig waren und die es bei der Vermittlung von politischer Bildung zu beachten gelte.

Die drei Grundprinzipien des Beutelsbacher Konsens:


1. Überwältigungsverbot (auch Indoktrinationsverbot)

Lernenden sollen nicht im Sinne "erwünschter Meinungen" überrumpelt oder manipuliert werden, sondern sollen sich ihr eigenes Urteil bilden können.

2. Kontroversitätsgebot

Was in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen und behandelt werden.

3. Schüler:innen bzw. Lernorientierung/Interessenorientierung

Lernende sollen in die Lage versetzt werden eine politische Situation und ihre eigene Interessenlage zu analysieren,

sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen.

Wird die Broschüre dem Beutelsbacher Konsens gerecht?

Wenn die Broschüre nun also im „Sinne des Beutelsbacher Konsens“ konzipiert wurde, wie die Autor:innen im Vorwort behaupten, so müssten diese drei Grundprinzipien beherzigt worden sein. Für die Erkenntis, dass davon allerdings keine Rede sein kann, muss man jedoch nicht lange in den Antworten suchen. Alleine das Vorwort gibt schon Hinweise darauf, dass einige berechtigte Fragen überhaupt nicht kontrovers behandelt werden sollen. Dabei könnten diese die Schüler:innen meiner Erfahrung nach durchaus interessieren und sie könnten teilweise auch einiges aus ihrer Lebenswelt, fernab der gescholtenen Sozialen Netzwerke beitragen. Doch darum geht es wohl nicht. Ziel der Broschüre ist schließlich „Lehrkräfte zu stärken, zu informieren und sie in ihrer wichtigen Rolle als Multiplikator:innen für eine israelsolidarische Bildungsarbeit zu unterstützen.“

Wo eine Lehrkraft aber von vornherein ihre primäre Aufgabe darin sieht junge Menschen von der Notwendigkeit der Solidarität gegenüber einem Nationalstaat zu überzeugen, da ist nicht mehr viel Platz für „unerwünschte Meinungen“ und Kontroversität. Auch ist stark in Frage zu stellen, ob mit dieser Grundhaltung allen Schüler:innen genug Raum gegeben wird, ihre eigene Interessenlage zu analysieren und diese im Sinne ihrer Interessen zu beinflussen. Das gilt umso mehr, wenn gegen den entsprechenden Staat parallel Ermittlungen des Internationalen Gerichtshofs wegen dem dringenden Tatverdacht des Völkermords laufen und Expert:innen vier von fünf Kriterien für einen Völkermord als erfüllt ansehen.6

Die politische Schlagrichtung und Einseitigkeit der Broschüre wird also sehr schnell deutlich. Auch an der Art und Weise wie bestimmte Aussagen der Schüler:innen (um)gedeutet werden, wird das klar. Man kann in den 83 Seiten viele Beispiele herausgreifen, an denen zu erkennen ist, dass die Herausgebenden keinesfalls einen kritischen Diskurs zum Ziel haben. Vielmehr scheinen die Strategien erneut darauf abzuzielen palästinasolidarische Positionen aus der Schule zu verdrängen. Im Folgenden begrenze ich mich auf wichtige Phänomene und einzelne Textbeispiele, die diese Strategien deutlich machen. Doch vorab gilt es noch einen Begriff zu klären: Hasbara. Der eigentliche Zweck der Broschüre.

Was bedeutet Hasbara?


Der Begriff Hasbara (hebräisch הַסְבָּרָה hasbará, deutsch ‚Erklärung‘ oder englisch „Public Diplomacy“) beschreibt ein Instrument der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung Israels, um international eine positive Berichterstattung über Israel und seine politischen Anliegen zu fördern. Der Begriff wird von der israelischen Regierung und ihren Anhängern verwendet, um die Bemühungen zu beschreiben, die Regierungspolitik zu erklären und Israel angesichts der negativen Presse zu fördern und gegen das zu kämpfen, was sie als Versuche der Delegitimierung Israels betrachten. Hasbara ist auch ein Euphemismus für Propaganda.7

Quelle: wikipedia


Der Begriff «Hasbara» und seine heutige Verwendung, insbesondere durch die Armee, tauchte erstmals im Jahr 2000 auf. Am 30. September jenes Jahres war der 12-jährige Muhammad al-Durrah bei einem Schusswechsel zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Sicherheitskräften durch das israelische Militär erschossen worden. Der Moment von Muhammads Tod wurde gefilmt, und da die israelischen Propagandist: innen nicht in der Lage waren, den Mord kategorisch zu leugnen, griffen sie auf die schlichte Delegitimierung der Quelle zurück und behaupteten, es habe sich um eine palästinensische Inszenierung gehandelt. Dabei spielte keine Rolle, dass der Mord gefilmt und von Augenzeugen bestätigt wurde. Wichtig war nur, dass alle palästinensischen Behauptungen von nun an mit Zweifeln behaftet waren! Diese zunächst marginale Taktik ist mittlerweile zu einer offiziellen Strategie der israelischen Regierung geworden.8

Quelle: palaestina-info.ch

Kommunikationsstrategien zur Meinungsmanipulation

Auslassung von Fakten

Die weiter oben genannte tendenziöse Grundhaltung der Broschüre zieht sich auch durch die Antworten zu den Aussagen der Schüler:innen. Welche Aussagen genau als „judenfeindlich“ eingestuft werden ist dabei nicht direkt ersichtlich. Lediglich die Aussage zum Boykott und die Parolen auf den Seiten 65-70 werden im Fazit eindeutig als antisemitisch bezeichnet. Allerdings werden die Parolen dafür stark von der Autorin interpretiert. Die anderen Aussagen werden nicht so eindeutig als antisemitisch bezeichnet, wobei in fast allen Antworttexten der Vorwurf eine Rolle spielt, Israel würde ungerecht behandelt und unverhältnismäßig kritisiert. Dass im Vorwort „Inhalte, die den Staat Israel delegitimieren“ in einer Reihe mit antisemitischen Stereotypen genannt wird, legt nahe, dass auch hier pauschal Antisemitismus unterstellt wird. Das ist insofern auch nicht verwunderlich, als dass sämtliche Akteure, die an der Broschüre beteiligt sind, sich positiv auf die IHRA Arbeitsdefinition von Antisemitismus berufen.9 Dass die vorherrschende Auslegung dieser Definition von Antisemitismus wissenschaftlich umstritten ist, wird nicht erwähnt. Ein klarer Vertoß gegen das Kontroversitätsgebot.

Die Broschüre wird dem Beutelsbacher Konsens an keiner Stelle gerecht. Auch an Stellen, an denen durch historische und völkerrechtliche Bewertungen eine „Einordnung“ vorgenommen wird. Denn immer ist klar, es gibt eine erwünschte Meinung. Die erwünschte Meinung ist, dass man die jeweilige israelische Regierung für bestimmte Dinge wenn überhaupt zart kritisieren, aber keinesfalls das vorherrschende System hinter diesem Staat verantwortlich zu machen hat. Macht man dies dennoch, so ist man nicht etwa kritisch gegenüber realen Machtverhältnissen, sondern hängt antisemitischen Erzählungen an. Fakten, die bei dieser Weltsicht stören, werden in der Broschüre vollständig ausgeklammert oder delegitimiert. So bleiben die historischen und völkerrechtlichen Einordnungen sehr selektiv und wenig ausgewogen. Auf die unrühmliche Rolle Israels als Besatzungsmacht wird kaum eingegangen, die Besatzung wird quasi nebenher abgehandelt: Die anhaltende Landnahme und Zwangsräumungen, Vorwürfe eines Ökozids, Berichte über willkürliche Razzien und Inhaftierungen durch die IDF, die vielen politischen Gefangenen – teils minderjährig; ohne Aussicht auf einen fairen Prozess, Berichte über das Foltersystem in israelischen Gefängnissen, willkürliche Übergriffe und Morde samt milder Strafen oder sogar Straffreiheit für die Täter – all das wird komplett ausgespart.

Auch antizionistische Perspektiven innerhalb der jüdischen Community finden keine Erwähnung. Spekulation bleibt somit, ob diese Juden:Jüdinnen, für die Herausgebenden allesamt „selbsthassende Antisemiten“ sind, wie radikale Anhänger des Zionismus häufig argumentieren.

Strategisches Framing


Ein weiteres bekanntes Instrument, um erwünschte Meinungen zu fördern, ist strategisches Framing. In der Broschüre ist es an vielen Stellen zu finden. So wird die Diskriminierung von Palästinenser:innen an mehreren Stellen als bedauerliches aber notwendiges Übel für die Sicherheit der Israelis verharmlost. Womit ihnen eine Mitschuld an ihrer Entrechtung und Diskriminierung zugeschoben wird. Gerade diese Logik offenbart ein Zwei-Klassen-Denken nach rassistischen Kategorien, welches in der Broschüre immer wieder vehement verleugnet wird.

So sehr die Vertreter:innen der IHRA Definiton darauf hinweisen, dass angeblich Doppelstandards gegenüber Israel angewandt würden, so sehr sind sie selbst oft bereit dies zu tun. Die Gewalt der zweiten Intifada und des 07. Oktobers 2023 wird somit ausführlich – anhand von Narrativen der israelischen Regierung – beschrieben, während die gewaltvolle und systematische Vertreibung und Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung in den letzten 75 Jahren eine absolute Randnotiz bleibt. Die Verteibung vor und während der Staatsgründung Israels wird zudem als„arabische Sichtweise“ abgetan. Auch das fügt sich in das Bild von Organisationen um die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG), deren Umfeld immer wieder damit auffällt die Nakba zu relativieren. Auch die Siedlergewalt wird in der Broschüre als Randphänomen verharmlost und keinesfalls als gesellschaftliches Phänomen eines zutiefst siedlerkolonialen und rassistischen Systems anerkannt. Doch wie sollte es auch anders sein, wird dieses System doch in der gesamten Broschüre konsequent geleugnet und die „unterschiedliche Behandlung von Israelis und Palästinensern in den Gebieten“ nüchtern und formalistisch als „Ergebnis des Besatzungsrechts und eines nicht gelösten Konflikts“ normalisiert. Diese Aussage steht in klarem Kontrast zur Emotionalität mit der die Herausgebenden der Opfer und Geiseln des 07. Oktober begegnen.

Die Herausgeber:innen behaupten zudem selbstbewusst „Israel hat Gaza nicht ausgehungert“, die Organisation „Gaza Humanitarian Foundation“, an deren Verteilzentren hunderte Menschen erschossen wurden, nennen sie „eine als neutral angesehene Organisation“ und der Völkermordvorwurf von Amnesty International wäre „unbegründet und haltlos“. Außerdem wird noch die – vor dem Hintergrund der seit 2007 andauernden Blockade – äußerst fragwürdige These aufgestellt, Israel habe sich seit 2005 aus dem Gazastreifen zurück gezogen und übe daher „auch keinen Einfluss mehr auf die politische Gestaltung dieser Region aus.“


Der palästinensische Widerstand wird folgerichtig im Sinne der Prämissen der Broschüre als terroristisch eingeordnet und anhand zweifelhafter Kriterien pauschal zum „nicht legitimen Widerstand“ erklärt. Unter anderem wird das damit begründet, dass die Mittel der Hamas nicht verhältnismäßig seien. Zu den schweren Kriegsverbrechen der israelischen Armee im Gazastreifen wie im Westjordanland findet sich kaum ein Wort. Im Gegenteil wird die israelische Gesellschaft als eine hochmoralische geframed, die sich über den hohen Stellenwert des Lebens in der jüdischen Tradition bewusst wäre. Das Framing ist dabei sicher nicht versehentlich so, dass es einen Gegensatz zu vermeintlich anderen Traditionen impliziert. Die Autor:innen gehen so weit, dass sie selbst die isrealische Armee als eine moralisch integere Organisation beschreiben:

Einzelne Soldaten begehen Verbrechen, manchmal schwere. Solche Vorkommnisse werden juristisch verfolgt. Neue Rekruten der IDF setzen sich während ihres Trainings intensiv mit von Israel in der Vergangenheit begangenen Kriegsverbrechen auseinander – um daraus für die Zukunft zu lernen.9

So eine Argumentation ist blanker Hohn für Schüler:innen, die noch um ihre Verwandten in Palästina und im Libanon trauern, während israelische Soldat:innen bereits ihre nächsten Kriegsverbrechen in den Sozialen Medien livestreamen, ohne dafür aktuell ernsthaft zur Verantwortung gezogen zu werden. Der Gipfel der Dreistigkeit ist spätestens erreicht, wenn genozidale Äußerungen hochrangiger Regierungsmitglieder, gezielt als „unreflektierte Äußerungen“ aufgrund der „horrende[n] Bestialität der Hamas Morde“ verharmlost und emotionalisiert werden. Das ist klassische Täter-Opfer-Umkehr, wie sie im Buche steht. Ziel ist hierbei eindeutig, das rechtsextremistische israelische Regime als im Kern menschlich darzustellen, während man die Palästinenser:innen für den Völkermord an ihnen verantwortlich macht.

Das Erscheinungsdatum der Broschüre ist mit April 2025 angegeben. Seitdem kamen eine Reihe weiterer Organisationen hinzu, die Israel Völkermord vorwerfen, unter ihnen die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem und die Internationale Vereinigung von Völkermordforschern (IAGS). Es wird also eigentlich Zeit für eine zweite Auflage der Broschüre, in der auch diesen Institutionen unterstellt wird, dass ihre gut belegten Vorwürfe gegenüber Israel von Antisemitismus zeugen. Die passend tendenziösen deutschsprachigen Artikel dazu liefert TAZ Autor Nicolas Potter oder die Springer Presse.

Lehrer:innen und Pädagog:innen ist dringend zu empfehlen einen großen Bogen um diese Desinformationskampagne zu machen und statt dessen mit Projekten zusammen zu arbeiten, die die Erfahrungen und Meinungen unserer Schüler:innen ernst nehmen, den Lernprozess kritisch begleiten und den gegenseitigen Austausch auf Augenhöhe zum Ziel haben. Es gilt für diese Projekte einzustehen, wenn der selbsternannte Antisemitismusbekämpfer im Roten Rathaus den Versuch unternimmt ihnen die Fördermittel zu entziehen. Denn selbstverständlich haben wir an Berliner Schulen auch ein Antisemitismusproblem. Und zwar nicht erst seit konservative Kräfte wie Kai Wegner entdeckt haben, dass sie den Kampf gegen einen vermeintlich neuen Antisemitismus für ihre reaktionäre Politik instrumentalisieren können.


  1. fakten-statt-fake-was-ist-los-im-nahen-osten.pdf, S. 2 ↩︎
  2. www.volksverpetzer.de/analyse/elon-musk-antisemitismusk/ ↩︎
  3. www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2024/pressemitteilung.1427315.php ↩︎
  4. www.nd-aktuell.de/artikel/1184788.kai-wegner-cdu-berlin-der-buergermeister-und-der-antisemit.html ↩︎
  5. www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51310/beutelsbacher-konsens/ ↩︎
  6. www.deutschlandfunk.de/vorwuerfe-gegen-israel-uno-kommission-sieht-vier-von-fuenf-kriterien-fuer-genozid-im-gazastreifen-er-100.html ↩︎
  7. wikipedia.org/wiki/Hasbara ↩︎
  8. palaestina-info.ch/read/hasbara-desinformation-als-israelische-massenvernichtungswaffe ↩︎
  9. www.disorient.de/magazin/ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-berlin-kultur ↩︎
  10. fakten-statt-fake-was-ist-los-im-nahen-osten.pdf, S. 36 ↩︎

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