Arbeitsplätze schaffen, statt vernichten! Wehren, Arbeitszeit verkürzen und investieren!

Ein Beitrag aus der SONDERAUSGABE ZUR BUNDESTAGSWAHL der SOL (Sozialistische Organisation Solidarität). Lösungen und ein Zukunftsbild aus Sicht der Beschäftigten. Konträr zum kapitalistischen Einheitsbrei der bürgerlichen Parteien im Wahlzirkus. Klingt einfach, ist aber gar nicht so leicht umzusetzen! Die Kapitalmächte werden ihre Pfründe und geopolitischen Interessen mit Zähnen und Klauen verteidigen. Ehe sie einen Cent mehr für Gesundheit rausrücken, wird der Militärhaushalt um weitere 100 Milliarden Euro erhöht. (Peter Vlatten)

Arbeitsplätze schaffen, statt vernichten! Gegenwehr, Arbeitszeitverkürzung und Investitionen nötig!

von Angelika Teweleit [1] Angelika Teweleit ist Mitglied der Bundesleitung der Sol und Mitglied im Sprecher*innenrat der „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG) Sol-Bundesleitung

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist verrückt. In den Krankenhäusern ist die Arbeit kaum zu schaffen und Pflegekräfte werfen verzweifelt das Handtuch. Bahnen und Busse fallen aus, weil es nicht genügend Fahrer*innen gibt. Gleichzeitig kündigen immer mehr Unternehmen Stellenabbau, aber auch Entlassungen und Werkschließungen an. In den nächsten Jahren wird ein deutlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit erwartet. Keine der bürgerlichen Parteien hat eine Lösung anzubieten, außer mehr Druck auf Erwerbslose auszuüben und gegebenenfalls eine Ausweitung des Kurzarbeitergeldes zu verfügen. Keines dieser Instrumente wird eine Lösung für die Masse der arbeitenden Bevölkerung bringen. Dringend nötig ist ein Programm für den Erhalt und Ausbau von sicheren, gut bezahlten und gesellschaftlich sinnvollen Arbeitsplätzen.

Dafür braucht es auch einen Kurswechsel der Gewerkschaften, die bislang auf der Linie von Co-Management und Sozialpartnerschaft bereit sind, Lohnverzicht zu akzeptieren, um vermeintliche Beschäftigungsgarantien zu erreichen. Doch Lohnverzicht rettet keine Arbeitsplätze. Anstatt solcher Zugeständnisse an die Konzernspitzen für ihre Profitmaximierung braucht es einen konsequenten Kampf für den Erhalt der Arbeitsplätze. Dazu ist eine wichtige Forderung die nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Jeder Produktivitätszuwachs sollte im Interesse der Beschäftigten in freie Zeit umgewandelt werden. In Unternehmen, die entlassen wollen, sollte die unmittelbare Forderung lauten: Verteilung der vorhandenen Arbeit auf alle durch entsprechende Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.


Gemeineigentum

Allerdings ist der Kapitalismus ein krisengeschütteltes System. Aktuell gibt es in der Autoindustrie eine Überproduktionskrise. Das heißt, die Produktionskapazitäten sind nicht ausreichend ausgelastet und zwecks Profitabilität werden Produktionsanlagen abgebaut oder verlagert. Außerdem fallen viele Arbeitsplätze der völlig ungeordneten „Transformation“ zum Opfer. Unter den jetzigen Bedingungen, in denen nach der Logik von Profitmaximierung und Konkurrenzfähigkeit produziert wird, gibt es weder Arbeitsplatzsicherheit noch wird die Produktion im Interesse der Umwelt und gesellschaftlich sinnvoll umgestaltet. Daraus ergibt sich eine weitere, zentrale Forderung: die nach der Überführung der großen Banken und Konzerne in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung.

Investitionsprogramm und mehr Personal


Außerdem muss in den Bereichen, wo sich die Arbeit auftürmt und nicht mehr geleistet werden kann, endlich mehr Personal aufgebaut werden. Das betrifft zum Beispiel das Gesundheitswesen, Pflege, Bildung, Soziales, das öffentliche Verkehrswesen. Hier drohen sogar weitere Kürzungen, angefangen bei den Kommunen! Dem muss entschiedener Widerstand entgegengesetzt werden. Anstatt Kürzungen müsste es massive Investitionsprogramme geben, finanziert aus höheren Steuern auf die Profite von Konzernen und Banken, sowie einer Millionärssteuer und zusätzlich einer Sonderabgabe auf das Geldvermögen ab der ersten Million. Darüber würden hunderte Milliarden von Euro sichergestellt und in die Bereiche investiert, die es dringend nötig haben. Außerdem könnten mit einer entsprechenden Aufwertung der Berufe wie beispielsweise in Krankenhäusern oder Kitas Personal zurückgewonnen werden. Zudem sollte es eine Aus- und Weiterbildungsoffensive in diesen Bereichen mit sicherer Arbeitsplatzperspektive unter guten Bedingungen geben. Privatisierte Bereiche, die zur Lohndrückerei und Profitmacherei auf Kosten der Allgemeinheit führen, gehören zurück in öffentliche Hand. Es muss auch insgesamt Schluss gemacht werden mit der Superausbeutung, wie sie durch die Einführung von prekären Beschäftigungsverhältnissen unter der Agenda 2010 stattgefunden haben.

Demokratische Planwirtschaft


In einer demokratisch geplanten Wirtschaft, die auf Gemeineigentum basiert, würden sich Produktion und Dienstleistungen am gesellschaftlichen Bedarf orientieren anstatt an den Profitinteressen Weniger. Die gesellschaftlich sinnvolle und notwendige Arbeit könnte gerecht verteilt werden. Werbung oder das unnötige Transportieren von Rohstoffen und Produkten rund um den Globus für maximalen Profit bei maximaler Ausbeutung könnten beispielsweise ein Ende haben. Statt mehr Autos könnten bevorzugt Busse und Bahnen produziert und eingesetzt werden. Energie würde möglichst umweltfreundlich produziert und gleichzeitig gäbe es große Einspareffekte. All das würde auch eine radikale Arbeitszeitverkürzung für alle bedeuten. Der Erhalt von Arbeitsplätzen bei kürzeren Arbeitszeiten, guten Löhnen und Arbeitsbedingungen ist keine Utopie, sondern das, was in einer sozialistischen Demokratie möglich gemacht würde. Deshalb ist es wichtig, den Kampf für den Erhalt aller Arbeitsplätze und bessere Arbeitsbedingungen mit einer sozialistischen Perspektive zu verbinden.

Die von der SOL aufgestellten Kernforderungen lauten:
  • Entlassungen, Arbeitsplatzabbau und Werksschließungenverhindern!
  • „ Erhalt aller Arbeitsplätze ohne Lohnverzicht! Wenn nötig: Umstellung auf gesellschaftlich sinnvolle und umweltfreundliche Produktion!
  • „ 30-Stundenwoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
  • „ Nein zu ungesicherten und prekären Beschäftigungsverhältnissen!
  • „ Hunderte Milliarden für ein öffentliches Investitionsprogramm und Personalaufbaubin den Bereichen Gesundheit, Bildung, Soziales, Umwelt, öffentlicher Verkehr – finanziert durch die Profite der Banken und Konzernen und Vermögen der Super-Reichen!
  • „ Nein zu Privatisierungen! Rekommunalisierung privatisierter Bereiche!
  • „ Überführung der Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung!

Wir danken für das Publikationsrecht.

Titelbild: Collage Peter Vlatten

References

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1 Angelika Teweleit ist Mitglied der Bundesleitung der Sol und Mitglied im Sprecher*innenrat der „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG)

Wahlprogramm der Linken: Besser keine Antworten als falsche?

Die Linke darf sich im Wahlkampf nicht um drängende Themen drücken, meint Michael Ferschke

Bild: Die LINKE Berlin-Reinickendorf

Die Auswahl der Themen, mit denen die Linke in den Wahlkampf geht, ist nicht zufällig und liegt aufgrund der sozialen Spaltung nahe. Die Umsetzung ihrer Forderungen würde Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen spürbar entlasten. Sie entspringen zudem Befragungen der Partei durch tausende Haustürgespräche im Vorwahlkampf.

Warum sollen jedoch andere als im engeren Sinne soziale Fragen nicht prominent genannt werden? Aufschluss gibt hierzu eine Studie von Carsten Braband für die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung zu »Linken Triggerpunkten« unter potenziellen Linke-Wählern. Derzufolge sind einige Forderungen aus dem Grundsatzprogramm der Partei »Verlustpositionen«. Dazu zählen zum Beispiel das Plädoyer nach offenen Grenzen und ein Bleiberecht für alle oder unilaterale Abrüstungsforderungen. Sie können eine potentielle Wählerschaft spalten und gar verschrecken. In der Studie wird aufgrund der emotional aufgeladenen Debatten um solche Triggerpunkte vorgeschlagen, mit einem weniger polarisierenden Profil aufzutreten – etwa mit einem Plädoyer für einen leichteren Arbeitsmarktzugang von Geflüchteten oder in der Außenpolitik für mehr Diplomatie anstelle einer Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine.

Es gibt in der Partei eine Tendenz, diese kontroversen Themen im Wahlkampf außen vor zu lassen. Die Linke will mit einer Stimme sprechen anstelle von Vielstimmigkeit und Streit in der Vergangenheit. Die zermürbende Auseinandersetzung mit Sahra Wagenknecht, die jahrelang in Fragen zu Migration, Klima und Genderpolitik gegen den Kurs der Partei polarisiert hatte, wirkt nach. Die Forderungen der Partei zu Mieten, Renten, Inflation oder Mindestlohn sind hingegen unter Mitgliedern und potentieller Wählerschaft nicht strittig. Ob eine Reduktion des Wahlkampfs auf diese Forderungen jedoch auf die Gewinnerspur führt, ist aus drei Gründen zweifelhaft.

Erstens sind die sozialen Forderungen kein Alleinstellungsmerkmal. So setzt auch die SPD auf die soziale Karte, will die Vermögenssteuer wieder einführen und spricht sich in ihrem Wahlprogramm für einen »höheren Mindestlohn, weniger Mehrwertsteuer auf Lebensmittel sowie wirksamen Regeln für bezahlbares Wohnen« aus. Dass die Linkspartei an diesen sozialen Fragen mehr bewirken kann als die SPD, ist wenig greifbar. Die geringere parlamentarische Durchsetzungsperspektive der Linken als Oppositionspartei kann sie durch Glaubwürdigkeit ausgleichen. Diese muss aber erarbeitet werden. Die österreichische Schwesterpartei KPÖ hat sich die Glaubwürdigkeit im Bereich der Mietenpolitik beispielsweise erst über jahrelange Fokussierung auf das Thema mit unzähligen parlamentarischen und außerparlamentarischen Initiativen in enger Tuchfühlung mit Betroffenen erstritten.

Das ist für die deutschen Genossen in der Kürze der Zeit bis zur Wahl schwerlich machbar – erst recht nicht in der Fläche. Trotz aller Bauchschmerzen mit der SPD: Die Erhöhung des Mindestlohnes etwa könnte eher durch ihre Beteiligung an einer künftigen Bundesregierung durchgesetzt werden als durch die Linke. Zumal ihr Einzug in den Bundestag zum jetzigen Zeitpunkt fragwürdig ist.

Zweitens sieht es danach aus, dass die soziale Frage im Wahlkampf von anderen Themen überlagert wird. Da wäre beispielsweise die Migrationsdebatte, die insbesondere AfD und CDU ins Zentrum ihres Wahlkampfes stellen. Ein Schweigen der Linken dazu oder zu anderen Fragen, die die Rechten vereinnahmt haben (Gender, Klima), würde den Grünen in die Hände spielen, die sich dann als einzige wahrnehmbare Stimme gegen den reaktionären Diskurs positionierte. Trotz der konzernfreundlichen Politik des Wirtschaftsministers und Kanzlerkandidaten Robert Habek werden die Grünen in aktuellen Wahlumfragen weiterhin als Partei links der SPD angesehen. Es war ein Problem, dass Sahra Wagenknecht als Linksparteimitglied zu diesen Fragen die falschen Antworten gegeben hatte. Es wäre aber ebenso ein Problem, wenn die Partei nun durch die Fokussierung auf soziale Themen keine sichtbare Antwort auch darauf gäbe.

Und drittens steht die Wagenknecht-Partei aktuell in außenpolitischen Fragen als einzige oppositionelle Kraft gegen Aufrüstung oder Waffenlieferungen an die Ukraine und Israel. Frieden ist ein Thema, das auch viele potentielle Wähler der Linken umtreibt. Es wäre kein Kunststück, sich mit einer internationalistischen Position besser als das national-souveränistische BSW in der Außenpolitik zu positionieren.

Die Verengung des Wahlkampfes auf wenige soziale Forderungen könnte somit im schlimmsten Fall eher SPD, Grünen und BSW zugutekommen. Die Schwerpunktsetzung auf die sogenannten Brot- und Butter-Fragen sollte daher nicht dazu führen, dass die Partei zu anderen brisanten Debatten schweigt – schon aus eigenem Interesse. Denn Antimilitarismus, Humanismus und internationale Solidarität gehören zur DNA einer sozialistischen Partei.

Michael Ferschke ist Büroleiter im »nd« und war jahrelang Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten der Linken.

Erstveröffentlicht im nd v. 15.1. 2024
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188250.wahlkampf-wahlprogramm-der-linken-besser-keine-antworten-als-falsche.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

Amazon-Tower in Friedrichshain: Schrecklichster Neubau Berlins

Der Amazon-Tower steht für den Sieg des Kapitalismus über die Stadt, meint Gastautor Amadeus Marzai

Von Amadeus Marzai

Bild: Jochen Gester

Nicht nur wer über die Elsenbrücke – vor ein paar Jahren fast eingestürzt – oder die benachbarte S-Bahnbrücke nach Friedrichshain fährt und links aus dem Fenster schaut, dürfte Notiz davon nehmen, dass die Berliner Skyline mittlerweile einen unübersehbaren Neuzugang präsentieren kann: Direkt an der Warschauer Brücke, über dem trubeligen Gewühl aus Touristen, Partyvolk, Zugezogenen mit Main-Character-Syndrom, den letzten Drogendealern und gestressten Pendlern ragt der Amazon-Tower empor – benannt nach dem US-Internetgiganten und Onlinehändler, der hier als Hauptmieter residiert.

Der Amazon-Tower (offizielle Bezeichnung: Edge East Side Tower) wird seit 2019 gebaut, in diesem Jahr soll der Innenausbau fertiggestellt werden. Bauherr ist der Projektentwickler Edge, Besitzer des Hochhauses ist die Immobilienfirma Pimco Prime Real Estate. Die Kosten für den von einem dänischen Architektenbüro entworfenen Bau belaufen sich auf etwa 400 Millionen Euro.

142 Metern reckt sich der Klotz gen Himmel, ohne aber die vertikale Vormachtstellung des eleganten und tatsächlich avantgardistischen Fernsehturms am Horizont ernsthaft zu gefährden. Einem gläserneren Pflock gleichend, bohrt sich der Neubau ins Herz des einst so unangepassten Friedrichshain, als wolle man verkünden: »Wir haben gewonnen, ihr habt verloren.« Hofiert von einer vor geistiger Provinzialität miefenden Stadtregierung feiert sich der globale Turbokapitalismus ausgerechnet in einer Gegend, die einmal als Vorreiterin progressiver und antikapitalistischer Experimente menschlichen Zusammenlebens galt.

Autor

Privat

Amadeus Marzai arbeitet als freier Journalist und beschäftigt sich mit stadtpolitischen Fragen seiner Heimat Berlin. Der Historiker und Politikwissenschaftler hat Internationale Beziehungen an der Universität Leiden studiert.

Selbstbeweihräuchernd bewerben die Projektentwickler ihren Bau als »Mittler« zwischen »zwei der lebendigsten und künstlerischsten Vororte Berlins: Friedrichshain und Kreuzberg«. Die Vielfalt und Andersartigkeit der Besiegten zelebriert man und heftet sie sich stolz ans Revers. Das erinnert an US-amerikanische Städte, die nach den Ortsnamen der Ureinwohner benannt wurden, die zuvor vertrieben oder ausgerottet wurden.

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Aber auch das Umfeld des Beinahe-Wolkenkratzers erinnert an Chicago, Manhattan oder Milwaukee. So ist das einstmals heiß umkämpfte Spreeufer-Filetstück nördlich des Amazon-Towers inzwischen zu einer seelenlosen Betonwüste aus Konsum, Unterhaltungskommerz und luxuriösen Eigentumswohnungen verkommen, die man in dieser Kombination eher in einer beliebigen US-Großstadt mittlerer Größe vermuten würde. Die verzweifelte Berliner Großmannssucht verkommt an der East Side Gallery ungewollt zu einer billigen Persiflage längst aus der Zeit gefallener Stadtbauideen.

Aber zurück zum Amazon-Tower. Natürlich haben die Architekten der Macht ihre neueste Kathedrale des Kapitals hübsch verpackt: grüne Energie, Recycling, urbaner Gartenbau! Von einem der »gesündesten Hochhäuser Deutschlands« ist verdächtig vielsagend die Rede. Doch hinter der Fassade aus Glas und Stahl gedeiht weder Hoffnung noch bunte Berliner Vielfalt, sondern die konformistische Monokultur des Großkapitals. Die vielen Menschen, die der Gegend ihren rauen Charme verliehen haben, dürfen derweil aus sicherer Entfernung bestaunen, wie es sich die neuen digitalen Feudalherren in ihrem Prachtbau gemütlich machen.

Denn im Schatten des Turmbaus werden gewachsene Sozialstrukturen unter dem Druck des immer weiter entfesselten Marktes regelrecht zermalmt: Mieten explodieren, tausende Friedrichshainer Wohnungen fallen aus der Sozialbindung, wertvolle Orte des Miteinanders wie Buchhandlungen oder Clubs sind von Schließung bedroht und die Partyszene wird immer mehr verdrängt nach Schöneweide – früher als »Schweineöde« verfemt. Auch die gutbürgerliche Prenzlbergisierung des nahegelegenen Samariterviertels stellt den Charakter des Ortsteils infrage. Friedrichshain ist die neueste und härteste Front im Kampf um die Seele Berlins.

Während Bauarbeiter aktuell mit den letzten Etappen des Innenausbaus beschäftigt sind, erinnern Farbbeutelkleckse an der Fassade des Hochhauses an hilflosen Widerstand. Cineasten könnten sich ungut erinnert fühlen an die Eröffnungssequenz von »Avatar« und die Jagdpfeile der Na’vi-Ureinwohner, die sich zweck- wie hilflos in die riesigen Räder der menschlichen, der Rohstoffausbeutung dienenden Sattelkipper bohren.

Während die städtische Lebensqualität einem weitreichenden Spardiktat des Senats anheimfällt, wächst mit dem Estrel-Tower nur wenige Kilometer entfernt der nächste private Hochhausprotzbau. Estrel und Amazon – die zwei Türme – werfen ähnlich wie in »Der Herr der Ringe« dunkle Schatten voraus und verkünden den Stadtteilen zu ihren Füßen gnadenlose Gentrifizierung im glänzenden Fortschrittsgewand.

Aber während Berlins nutzlose Türme wachsen, schrumpft die zunehmend marode Stadt als Zuhause der vielen Menschen. So ist auch der Amazon-Tower weniger ein »architektonisches Wahrzeichen« als ein Symbol für den Ausverkauf Berlins. Er ist aber auch ein unmissverständlicher Denkzettel für jene, die hofften, das wiedervereinte Berlin würde ihnen jemals selbst gehören.

Erstveröffentlich im nd v. 9.1. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188022.edge-east-side-tower-amazon-tower-in-friedrichshain-schrecklichster-neubau-berlins.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

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