Serbien: Lithium-Abbau im Jadar-Tal bedroht eine ganze Region

In Berlin protestierten AktivistInnen aus Serbien und Deutschland gegen Rohstoff-Imperialismus

Von Elisabeth Voss

Bild: Elisabeth Voss

Anfang des Jahres berichtete der Rabe Ralf über den geplanten Lithium-Abbau im serbischen Jadar-Tal durch Rio Tinto.

Die Menschen dort setzen sich zur Wehr, denn sie wollen sich nicht vertreiben lassen und befürchten schwere Umweltschäden durch die riesigen Mengen an Schwefelsäure, die bei der Lithium-Gewinnung eingesetzt werden. . Rio Tinto ist einer der grössten Bergbaukonzerne der Welt. In den 150 Jahren seines Bestehens hat er weltweit Spuren der Verwüstung hinterlassen.

Im Sommer reisten der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und EU-Kommissions-Vizepräsident Maroš Šefčovič nach Belgrad. Sie unterzeichneten mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić ein europäisches Abkommen über die Lithium-Förderung.

Als grünes Aushängeschild diente die von Vučić auf einer Pressekonferenz hoch gelobte Franziska Brantner, Parlamentarische Staatssekretärin im deutschen Wirtschaftsministerium und mittlerweile auch Vorsitzende der Grünen. Denn der Lithium-Abbau soll umweltfreundlich erfolgen, dafür sollen auch deutsche Unternehmen sorgen, die in den Deal einbezogen sind, wie beispielsweise Mercedes. Das klingt, als wäre der Bergbau neuerdings eine Öko-Branche.

Protest gegen Greenwashing durch den BDI

Gegen die Pläne von Rio Tinto protestierten am 15. Oktober UmweltaktivistInnen aus Serbien und Deutschland in Berlin. Anlass war der „Klimakongress“ des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) im Futurium, einem Museum zu den Themen Natur, Mensch und Technik, in der Nähe des Hauptbahnhofs. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite der Spree, versammelten sich etwa 120 Protestierende, um den BDI und dessen industriepolitische Agenda auszubuhen.

UmweltaktivistInnen aus Serbien und Deutschland protestieren am 15. Oktober 2024 in Berlin gegen die Pläne von Rio Tinto.


BDI – Lobby der Klimakiller. Auch grüner Kapitalismus zerstört. Foto: Elisabeth Voss Die AktivistInnen fragten, auf wessen Kosten der ökologisch und menschenrechtlich katastrophale Abbau von Lithium und seltenen Erden geht, und wo und unter welchen Bedingungen der vermeintlich umweltfreundliche Wasserstoff produziert werden soll. Sie stellten grundsätzlich in Frage, ob es „überhaupt sozial- und klimaverträgliches Wachstum geben“ kann.

Grüner Anstrich für handfeste Profitinteressen

Berlinerinnen und Berliner aus Serbien betonten, dass durch den geplanten Lithium-Abbau „nicht nur die Umwelt, sondern vor allem die Existenzgrundlage der betroffenen Bäuerinnen und Bauern sowie die Wasserversorgung ganzer Landstriche und der Hauptstadt Belgrad“ gefährdet seien. Die Region sei traditionell landwirtschaftlich genutzt, und der Widerstand richte sich dagegen, dass dort Lithium abgebaut werden soll, „um den Bedarf der westlichen Industrie, insbesondere der deutschen Autoindustrie nach Lithium-Batterien zu befriedigen“.

Der Regierung sei „jedes Mittel recht, um den Profit der deutschen Automobilindustrie zu sichern und diese Industrie mit dem Label einer ‚grünen Industriepolitik‘ zu schmücken“. Hinter dem grünen Anstrich würden sich jedoch „handfeste Profitinteressen zu Lasten der Umwelt eines kleinen und verarmten europäischen Landes“ verstecken.

Sie protestierten gegen die einträchtige „Kooperation zwischen einer vermeintlich dem Umweltschutz verschriebenen Bundesregierung und dem autokratischen serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vučić, dessen Apparat gegen Kritik und Widerstand mit Repressionen reagiert“. Ihre Forderungen: „Nieder mit Rio Tinto. Nieder mit dem Profit. Es lebe die Umwelt!“

„Schluss damit, es reicht!“

Rede eines Teilnehmers der Kundgebung am 15. Oktober

Ich bin hier, weil ich die Heuchelei der Manager und Funktionäre im BDI da drüben im Futurium unerträglich finde. Mit dem sogenannten Klimakongress möchte sich der Lobbyverein der Klimakiller einen grünen Anstrich geben. Da wird die Illusion verbreitet, es gäbe nachhaltiges grünes Wachstum, wenn die Wirtschaft denn nur liberal über ihre Gewinne verfügen kann und der Staat mit ein bisschen Regulation hier und Fördergeldern oder Infrastruktur da auf Kosten der Allgemeinheit unterstützt.

Wir wissen aber alle, dass Wachstum endlich ist. Ich sehe jeden Tag, dass die Grenze erreicht ist. So geht es nicht weiter! Ich sehe es vor meiner Haustür in Neukölln: das Staatsversagen in der Bildung, das Staatsversagen in der Gesundheitsversorgung, das Staatsversagen bei jedweder Organisation und selbst bei den kleinsten Aufgaben.

Von der Politik und von der Wirtschaft nur hohle Phrasen und leere Versprechungen. Ich erlebe es bei meinen Freundinnen und Freunden: Die verzweifeln in Angst um ihre Familien in Odessa, in Beirut oder in Haifa. Es sind nicht die Menschen, die solche Kriege führen, es sind Apparate. Kapitalistische, imperialistische Machtmaschinen, die gewachsen sind mit dem Ziel, immer weiter zu wachsen. Das ist der Krebs der menschlichen Gesellschaft. Kapitalismus ist eine Seuche, Imperialismus ist eine Seuche, Konsumismus ist eine Seuche und Globalisierung ist die Pandemie.

Es gibt Tage, da frage ich mich, ob das alles wirklich wahr ist. Ich meine, wie kann das sein?

Und wie, um Himmels willen, kann hier irgendjemand irgendwie so etwas wie Alltag hinkriegen? Wie blind, wie leer, wie dumm muss man eigentlich sein, um ausgerechnet vom Bundesverband der Deutschen Industrie, dem Lobbyverein der Klimakiller, irgendwelche Lösungen für die Probleme unserer Welt zu erhoffen. Denen geht es darum, auch noch die letzten Ressourcen aus der Erde zu buddeln. Die suchen nach irgendeiner neuen Möglichkeit zur Externalisierung der Kosten für ein Wachstum, aus dem nur sie weiter Profit schlagen können.

Herr Habeck, machen Sie sich ehrlich: Es gibt keinen Green New Deal, es gibt keine Zukunft mit dieser Industrie.

Schluss damit, bis hierher und nicht weiter. Es reicht.

Und es ist doch genau so: Es reicht, es ist genug. Wir brauchen nicht mehr Zeug. Wir müssen vorhandenen Reichtum gerecht verteilen. Das, worum es wirklich geht, Gerechtigkeit, Sicherheit, Frieden, Glück, entsteht nicht durch materielles Wachstum. Glück entsteht nicht durch Eigentum haben, es entsteht durch gemeinsam machen und gemeinsam sein.

Wenn wir irgendetwas entwickeln müssen, dann ist es eine grüne Demokratie, ein politisches System, das ganz selbstverständlich eine Lobby ist, für alles Leben auf diesem Planeten.

Das Umbruch-Bildarchiv hat die Proteste mit Fotos und Redebeiträgen dokumentiert: www.umbruch-bildarchiv.org/bdi-kongress-der-klimakiller

Die ist eine Vorab-Veröffentlichung, der Beitrag erscheint in der Ausgabe Dez. 2024/Jan. 2025 der Berliner Umweltzeitung „Der Rabe Ralf“. Um weiter erscheinen zu können, braucht die Zeitung dringend Unterstützung: https://www.grueneliga-berlin.de/publikationen/der-rabe-ralf/aktuelle-ausgabe/brandbrief/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Das Übel der kleineren Übel

Die US-Wahlen zeigen, dass mit einer Verteidigung des »liberalen« Status quo die Faschisierung nicht zu stoppen ist, glaubt Raul Zelik

Obwohl in meinem Bekanntenkreis nur eine einzige Person in den USA abstimmen durfte (die Kamala Harris am Ende übrigens auch als kleineres Übel nicht gewählt hat), habe ich in den vergangenen Wochen viel über die Präsidentschaftswahlen diskutiert. Das ist alle vier Jahre so und letztlich ziemlich absurd, denn ob wir uns in Deutschland zu dieser oder jener Kandidat*in bekennen, ist für die dortige politische Entwicklung völlig irrelevant.

Wenn ich trotzdem noch einmal Argumente zu der Frage aufschreibe, warum Linke Politiker*innen wie Kamala Harris nicht unterstützen sollten, dann deshalb, weil diese Debatte auch für die politischen Konflikte Bedeutung besitzt, die bei uns anstehen und in denen wir, anders als im US-Wahlkampf, sehr wohl eine Rolle spielen.

»Schicksalswahl«?

Nicht wenige in meinem Bekanntenkreis, aber auch in der Redaktion des »nd« haben den vergangenen Dienstag als »Schicksalswahl« bezeichnet. Aus ihrer Sicht trafen bei der Wahl zwei große Alternativen aufeinander: eine schwarze Frau, die angeblich gleiche Rechte für alle verteidigte, und ein weißer Milliardär, der Rassismus und Misogynie normalisiert. Ein Sieg von Trump werde die autoritäre Rechte weltweit stärken, während »Kamala« – viele wechselten bei der Debatte gleich zum vertraulichen Du – für ein progressives Amerika stehe. Wenn ich daraufhin einwandte, dass die demokratische Präsidentschaftskandidatin eben gerade nicht für ein progressives Projekt, sondern wie Trump für Konzernpolitik, polizeiliche Repression, Masseninhaftierung und die Bereitschaft zum imperialistischen Krieg stehe, warf man mir vor, den Faschismus zu verharmlosen. Selbst wenn wahr sei, was ich behauptete, und es sich bei Harris tatsächlich um eine bürgerliche Neoliberale à la Christian Lindner handele, müsse man sie unterstützen, weil grundsätzlich ein Wahlsieg von Rechtsextremen zu verhindern sei. Auch gemeinsam mit Neoliberalen und Konservativen.

Für dieses Argument spricht aus meiner Sicht einiges. So hat mir in Frankreich immer eingeleuchtet, dass die Linke bei Stichwahlen zu einer Stimmabgabe »gegen Le Pen« aufgerufen hat. Allerdings ist kaum davon auszugehen, dass wir in Anbetracht eines drohenden AfD-Wahlsiegs in Deutschland die Vorzüge von »Friedrich«, »Olaf« oder »Robert« feiern würden. Der Aufruf für »eine Stimme gegen den Faschismus« sieht anders aus als die Unterordnung unter eine bürgerliche Politik.

Im Zusammenhang mit den US-Wahlen stellt sich allerdings zunehmend die Frage, ob das Argument des kleineren Übels, mit dem man regelmäßig aufgerufen wird, das Schlimmste zu verhindern, nicht allmählich erschöpft ist. Der Fall Kamala Harris zeigt vielleicht ganz gut, worin das Problem dabei besteht.

Wenn man sich die Ergebnisse der US-Wahlen anschaut, stellt man fest, dass Donald Trump im Vergleich zu 2020, als er die Wahlen verlor, keine Stimmen hinzugewann. Die krachende Niederlage der Demokraten hat allein damit zun tun, dass die Demokraten massiv verloren: Etwa 10 Millionen Wähler*innen, die 2020 – viele von ihnen wohl schon damals zähneknirschend – für Joe Biden als das kleinere Übel stimmten, sind diesmal zu Hause geblieben.

Junge, Niedrigverdiener, Hispanics

Auch wenn Wähleranalysen in den USA interessanterweise schlechter zu bekommen sind als in Deutschland, weiß man, wo Harris besonders klar an Boden verloren hat: bei jungen Wähler*innen, Niedrigverdienern und Hispanics. Das hat viele Ursachen, aber zwei stechen hervor: Zum einen hat sich die wirtschaftliche Lage gerade für Niedrigverdiener seit 2021 weiter verschlechtert. Bei einer Umfrage des Fernsehsenders NBC äußerten 45 Prozent der Befragten, es gehe ihnen schlechter als vor vier Jahren – nicht zuletzt wegen der galoppierenden Inflation. Zum anderen hat die Unterstützung von Israels Krieg in Gaza, den viele progressive oder nichtweiße Nordamerikaner*innen als rassistischen Feldzug gegen den globalen Süden lesen, Millionen von der Demokratischen Partei entfremdet. Außenpolitik spielt in der US-Politik zwar nur eine kleine Rolle, doch in den aktivistischen Teilen der Bevölkerung, die sich selbst in Wahlkämpfen engagieren, hat das Thema eine große Rolle gespielt.

»Während die demokratische Parteiführung den Status quo verteidigt, ist das amerikanische Volk wütend und möchte Veränderung.«Bernie Sanders

Mir ist klar, welches Argument jetzt folgt: »Aber das alles wird unter Trump jetzt doch noch viel schlimmer.« Das stimmt – die soziale Lage der Armen wird sich durch die Steuererleichterungen für Reiche weiter verschlechtern, Netanjahu hat freie Hand, um einen Regionalkrieg gegen den Iran vom Zaun zu brechen und die Region in Absprache mit den korrupten Öl-Autokratien neu zu ordnen, und in den USA wird das Bekenntnis zum Rassismus jetzt zur Staatsräson.

Nichtsdestotrotz stimmt umgekehrt aber eben auch: Unter der Demokratischen Partei hat sich in den vergangenen vier Jahren in den entscheidenden Fragen nichts zum Besseren verändert. Zwar hat Biden ein gewaltiges Infrastrukturprojekt in Höhe von 550 Milliarden US-Dollar auf den Weg gebracht. Doch von den Staatsausgaben haben die Ärmeren offenbar nicht profitiert. Der links-sozialdemokratische Senator Bernie Sanders, der im Wahlkampf loyal für Harris warb, benannte das Problem nach der Wahlniederlage sehr klar: »Es sollte nicht besonders überraschen, dass eine Demokratische Partei, die die Arbeiterklasse im Stich gelassen hat, jetzt feststellen muss, von der Arbeiterklasse verlassen worden zu sein. Während die demokratische Parteiführung den Status quo verteidigt, ist das amerikanische Volk wütend und möchte Veränderung.«

Der Status Quo als Treiber der Faschismus

Offenbar besteht das Problem darin, dass der liberal-kapitalistische Normalzustand, für den die Demokratische Partei steht, selbst jene faschistoide Entwicklung produziert, die es zu bekämpfen gilt. Ein paar Beispiele: Unter Biden sind die Vorbereitungen für die – auch militärische – Konfrontation mit China weitergegangen. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat diese Woche im »Politics Theory Other«-Podcast berichtet, dass in Washington mittlerweile mit größter Selbstverständlichkeit Szenarien eines Zwei-Fronten-Kriegs in Korea und Taiwan durchgespielt werden. Gleichzeitig praktiziert Israel, wichtigster US-Verbündeter in Nahost, mit Rückendeckung aus Washington einen Staatsterrorismus, der dem Putins im Tschetschenien-Krieg der 2000er Jahre in nichts nachsteht.

Innenpolitisch ist die Zahl der Polizeimorde unter Präsident Biden nicht nur weiter gestiegen, sondern sogar etwas schneller, als es unter Trump der Fall war, wie die Initiative »Mapping Police Violence« feststellte. Ähnlich verhält es sich mit der Kriminalisierung von Migrant*innen: Das »Migration Policy Institute«, das die Zahl der landesweiten Abschiebungen erfasst, stellte in einem Bericht vor wenigen Monaten fest, dass unter der Biden-Administration genauso viele Einwanderer deportiert wurden wie zuvor unter Trump – nämlich etwa 1,5 Millionen Menschen in vier Jahren. Gleichzeitig ist der Mindestlohn von sieben Dollar die Stunde seit 2009 nicht angehoben worden, obwohl die Demokraten in dieser Zeit mit einer einzigen Unterbrechung durchgängig regierten. Inflationsbereinigt liegt der Mindestlohn damit um 45 Prozent niedriger als Ende der 60er Jahre.

Was ich sagen will: Was Rhetorik, Diversität und symbolische Anerkennung angeht, liegen zweifelsohne Welten zwischen Kamala Harris und Donald Trump. Doch gleichzeitig zeigt sich eben auch, dass die Wahl des kleineren Übels die strukturellen und materialistischen Probleme nicht löst. Die Wahl von Präsidenten der Demokratischen Partei hat sich in den vergangenen 16 Jahren als ungeeignet erwiesen, die faschistoide Entwicklung zu stoppen, weil diese von den sozialen und ökonomischen Verhältnissen (und nicht von den Wahlen) in Gang gesetzt und vorangetrieben wird.

Wen ich an Theoretiker*innen in den letzten Monaten für das »nd« auch gesprochen habe – die Albanerin Lea Ypi, die US-Amerikaner*innen Ruth Wilson Gilmore und Natasha Lennard, den Jenaer Soziologen Klaus Dörre oder die Italiener Alberto Toscano und Enzo Traverso –, sie alle haben betont, dass es einer Alternative von links bedarf, um den Faschismus zu stoppen. Wer sich hinter eine Politik des bürgerlichen »Weiter so« schart und die sozialen Ungleichheits- und Ausgrenzungsverhältnisse nicht als Motor der Faschisierung begreift, kann nur scheitern.

Wie gesagt: Es ist wenig relevant, ob uns in Deutschland Kamala Harris und die Demokratische Partei gefallen. Aber es nicht egal, wie wir uns im eigenen Land positionieren. Und hier sollten wir erkennen, dass die »Verteidigung von Rechtsstaat, Demokratie und offener Gesellschaft« (womit in der Regel die Bewahrung von Status quo und Eigentumsverhältnissen gemeint ist), als antifaschistische Strategie ungeeignet ist.

Bernie Sanders hat recht: »Die Leute sind wütend und sie wollen Veränderung.« Solange von links keine glaubwürdige Alternative von Gleichheit, Internationalismus und Solidarität aufgezeigt wird, die im Leben der Menschen einen echten Unterschied macht, wird es die extreme Rechte sein, die vom rasanten Zerfall der herrschenden Weltordnung profitiert.

Erstveröffentlicht im nd v. 11.11. 2024
https://www.nd-aktuell.de/profile/ (Abo)

Wir danken für das Publikationsrecht.

FIR in großer Besorgnis über die Eskalation im Nahen Osten


DIE INTERNATIONALE FÖDERATION DER WIDERSTANDSKÄMPFER – BUND DER ANTIFASCHISTEN (FIR) hat sich in einer Erklärung zur kritischen Lage im Nahen Osten an die Öffentlichkeit gewandt. Diese Erklärung hebt sich sehr wohltuend von der Medienarbeit ab, die in der deutschen Sektion der FIR, der VVN BdA, zu diesem Thema betrieben wird. Hier gewinnt man stark den Eindruck, die Organisation interessiere sich nur für die Bedrohung jüdischen Lebens, während der Genozid an den Palästinenser:innen nicht zu existieren und wie selbst verschuldet erscheint. Auch der mit dem angeblichen Kampf gegen den Antisemitismus legitimierte Diskurs einer deutschen Staatssräson“ wird eher geteilt denn als Bedohung der Demokratie wahrgenommen. Darin sehen wir einen gefährlichen Anpassungsprozess. Wir dokumentieren im Folgenden die Erklärung der FIR.(Jochen Gester)

„Vor über einem Jahr begann mit dem Überfall der Hamas auf israelische Siedlungen und ein Jugendfestival und die Geiselnahme von mehreren hundert Israelis eine erneute Verschärfung des Krieges im Nahen Osten. Die Bilanz des Hamas-Angriffes war für die israelischen Zivilisten verheerend. Etwa 1200 Menschen, Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche und Greise wurden Opfer des Angriffes. Dass es darauf eine militärische Reaktion der israelischen Streitkräfte geben würde, konnte niemanden überraschen. Die Kalkulation der Hamas, durch israelische Geiseln im Austausch eigene Kämpfer aus israelischen Gefängnissen freizupressen, ging nicht auf, weil sich die israelische Regierung bis heute weigert, solche Austauschverhandlungen zu führen. Gespräche, die unter Vermittlung der arabischen Emirate stattfanden, blieben ergebnislos, wobei sich die jeweiligen Seiten die Verantwortung dafür gegenseitig zuschieben.

Stattdessen begann eine militärische Reaktion der israelischen Streitkräfte auf Gaza und die dortige Zivilbevölkerung, die nach einer Bilanz der Vereinten Nationen bis heute etwa 100.000 getötete oder verletzte Palästinenser brachte. Angeblich seien die Angriffe gegen Hamas-Kämpfer und ihre Infrastruktur gerichtet. Im Ergebnis sind alle im nördlichen Teil von Gaza gelegenen Krankenhäuser durch Bombardements komplett zerstört worden. Die Wasser- und Energieversorgung ist so beschädigt, dass an ein normales Leben in dieser Region auf absehbare Zeit nicht mehr zu denken ist. Wochenlang wurde selbst die Versorgung Gazas mit Grundnahrungsmitteln und anderen dringend benötigten Hilfsgütern durch die israelischen Streitkräfte blockiert, so dass für die Familien und Kinder keine ausreichende Ernährung bereit gestellt werden konnte. Als wäre das noch nicht schlimm genug, hat diese Woche das israelische Parlament die Arbeit des UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) in Israel verboten.

Alle Appelle der Vereinten Nationen, der Generalversammlung und des Sicherheitsrates, das militärische Vorgehen gegen Gaza einzustellen und zum Verhandlungsweg zurückzukehren, wurden seitens der israelischen Regierung, unterstützt von der Regierung der USA und vielen europäischen Staaten, zurückgewiesen. Derart gestärkt, ging die gegenwärtige israelische Regierung an allen Fronten in die Offensive. Gemeinsam mit der rechtsextremen Siedlerbewegung verstärkten die Besatzungskräfte seit Beginn des Jahres die gewalttätigen Übergriffe gegen Palästinenser auch in der Westbank. Häuser wurden niedergebrannt, Bewohner gewalttätig vertrieben, angeblich „ungesetzliche Siedlungen“ zerstört, um anschließend israelischen Siedlern das Gebiet zur eigenen Nutzung zu überlassen.

Um einer „Bedrohung durch die Hisbollah“ vom Libanon aus zuvorzukommen, wurden mit einer Geheimdienstoperation im Libanon über 150 Menschen getötet und mehrere tausend schwer verletzt, als manipulierte elektronische Geräte zur Explosion gebracht wurden. Der israelische Geheimdienst nahm bei dieser Aktion die Tötung von unbeteiligten Zivilisten billigend in Kauf. Erschreckend an dieser Geheimdienstoperation ist einerseits die Bereitschaft, ohne Rücksicht auf das Leben von Unbeteiligten eigene Ziele durchzusetzen, andererseits das unmenschliche Schweigen der politischen Unterstützer der israelischen Regierung zu dieser verbrecherischen Aktion.

Eine neue Eskalationsstufe wurde seitens der israelischen Regierung und deren Streitkräfte eingeläutet, als in der vergangenen Woche ein Raketenangriff auf den Iran durchgeführt wurde. Man konnte den Eindruck gewinnen, die gegenwärtige israelische Regierung versuche mit dieser Eskalation des Krieges nicht nur die Nachbarstaaten zu provozieren, sondern die USA und ihre europäischen Verbündeten in diesen Krieg aktiv hineinzuziehen. Und die deutsche Bundesregierung hat keine Hemmungen, weitere Waffenlieferungen an Israel freizugeben. Gleichzeitig sehen wir, dass es in der weltweiten Friedensbewegung hoffnungsvolle Signale gibt. In Griechenland weigerten sich Hafenarbeiter, Schiffe, die Rüstungsgüter für Israel geladen hatten, abzufertigen. In vielen Ländern – von Portugal über Spanien und Italien – gibt es breite Demonstrationen und politische Signale, die einen sofortigen Waffenstillstand fordern. Und selbst in Israel zeigen Organisationen der Zivilgesellschaft mit Kundgebungen und anderen demonstrativen Aktionen, dass sie die Politik der Netanjahu- Regierung und ihren verschärften Kriegskurs nicht mehr bereit sind mitzutragen.

Die FIR steht an der Seite aller Friedenskräfte in Israel und Palästina, die für einen gerechten Frieden eintreten. Frieden im Nahen Osten ist nicht mit der Vertreibung der palästinensische  Bevölkerung im Gaza, wie es Politiker der Regierungsparteien fantasieren, zu erreichen, sondern nur durch friedliche Lösungen auf der Grundlage der Beschlüsse der Vereinten Nationen. Diese Beschlüsse muss die gegenwärtige israelische Regierung endlich anerkennen.“

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