Von der Zeitenwende zum Epochenbruch

Der Kriegskurs ist eine Krake, der alle anderen Lebensbereiche frisst. Wer dagegen vorgeht, erhält eine Lektion von der Polizei, siehe Köln. (Peter Vlatten)

Merz kündigt erste dramatische Sozialkürzungen zugunsten der Hochrüstung an und stellt einen „Epochenbruch“ bzw. das Ende der „Bonner Republik“ in Aussicht. Die Armut in Deutschland nimmt schon jetzt deutlich zu.

GERMAN-FOREIGN-POLICY, 4.September 2025

BERLIN (Eigener Bericht) – Bundeskanzler Friedrich Merz startet einen Generalangriff auf das deutsche Sozialsystem und fordert in einem ersten Schritt eine Kürzung der Ausgaben für das Bürgergeld um ein Zehntel: fünf Milliarden Euro. Das sei die „Mindestgrößenordnung“, erklärte Merz am Dienstag. Bereits zuvor hatte er behauptet, Deutschland könne sich sein Sozialsystem „einfach nicht mehr leisten“, und einen „Epochenbruch“ angekündigt: „Die Bonner Republik ist für immer vorbei.“ Merz‘ „Epochenbruch“ folgt auf die „Zeitenwende“, die 2022 von seinem Amtsvorgänger Olaf Scholz ausgerufen wurde und die dramatische Aufstockung der Militärausgaben einleitete, die nun zum Kahlschlag in den Sozialetats führt: Die Verdreifachung des Wehretats wird auf Kosten der Ärmsten finanziert. Dabei verzeichnet Deutschland schon jetzt einen deutlichen Anstieg der Armutsquote. Bei den Kürzungen in den Sozialetats zugunsten der Hochrüstung handelt es sich um einen Prozess, der alle NATO-Staaten Europas erfasst. Der Dreiklang aus Rüstung, Sozialkürzungen und Armut geht mit wachsender Repression gegen Kriegs- und Rüstungsgegner einher, zuletzt mit Polizeigewalt gegen Proteste in Köln gegen die Militarisierung der Bundesrepublik.

Das Ende der „Bonner Republik“

Bundeskanzler Friedrich Merz hat am Wochenende den Generalangriff auf das deutsche Sozialsystem gestartet, der zuvor bereits unter dem PR-Schlagwort „Herbst der Reformen“ angekündigt worden war. Merz hatte dafür das Bürgergeld ausgewählt, für das im Jahr 2024 rund 58,2 Milliarden Euro aufgewandt worden waren. „So wie es jetzt ist, insbesondere im sogenannten Bürgergeld, kann es nicht bleiben und wird es auch nicht bleiben“, kündigte Merz an.[1] „Es ist nicht nur eine Zeitenwende, es ist ein Epochenbruch“, fuhr er fort: „Die Bonner Republik ist für immer vorbei.“ Am Dienstag konkretisierte Merz, er sei „fest überzeugt“, es müssten sich „zehn Prozent in diesem System“, dem Bürgergeld, „einsparen lassen“; er rundete auf fünf Milliarden Euro.[2] Das solle „die Mindestgrößenordnung sein“. Der Kanzler äußerte dies, nachdem kurz zuvor die Bundesagentur für Arbeit gemeldet hatte, die Arbeitslosigkeit habe im August mit rund 3,025 Millionen den höchsten Stand dieses Monats seit 15 Jahren erreicht.[3] Es könne „sogar noch schlimmer werden“, räumte Merz ein und führte zur Begründung für einen möglichen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit „die amerikanische Zollpolitik“ an, durch die viele deutsche Unternehmen „erheblich getroffen“ würden.[4] Steigende Arbeitslosigkeit verlangt eine Aufstockung der Sozialausgaben.

Rüstungslöcher im Haushalt

Die Behauptung, Deutschland könne sich seinen Sozialstaat „nicht mehr leisten“, wird in Politik und Medien zuweilen skurril begründet. So heißt es etwa, „Maßnahmen wie eine höhere Pendlerpauschale und die Förderung für Agrardiesel“ drohten „zusätzliche Löcher in den Etat zu reißen, die man sich eigentlich nicht leisten kann“.[5] In Wirklichkeit werden „Löcher“ zur Zeit besonders durch die beispiellose Steigerung der Rüstungsausgaben in den deutschen Haushalt gerissen. So soll der deutsche Militäretat, der im vergangenen Jahr noch bei rund 52 Milliarden Euro gelegen hatte, bis 2029 auf gut 152,8 Milliarden Euro erhöht werden. Es kommen Ausgaben für militärisch nutzbare Infrastruktur hinzu, für die 2029 fast 70 Milliarden Euro veranschlagt werden (german-foreign-policy.com berichtete [6]). All das läuft auf ein Plus von 170 Milliarden Euro allein aufgrund zusätzlicher Ausgaben für das Militär und militärisch nutzbare Infrastruktur hinaus. Trotz gestiegener Nettokreditaufnahme – ein Plus von rund 40 Milliarden Euro ist geplant – geht die Bundesregierung für 2029 von einer Finanzierungslücke von 74 Milliarden Euro aus. Sie wäre komplett gedeckt, würde Berlin auf die beispiellose Ausweitung der Militärausgaben verzichten.

Wachsende Armut

Die beispiellose Steigerung der Rüstungskosten erfolgt in einer Zeit, in der in Deutschland auf der einen Seite die Armut, auf der anderen Seite die Zahl der Superreichen steigt, was eine weitere Vertiefung der sozialen Spaltung bewirkt. Im April bestätigte eine Studie der Deutschen Bundesbank, dass die reichsten zehn Prozent der deutschen Haushalte zur Zeit 54 Prozent des gesamten deutschen Vermögens besitzen, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade einmal drei Prozent des deutschen Vermögens zur Verfügung hat.[7] Gleichzeitig nimmt die Zahl der Superreichen rasch zu; so stieg die Zahl der Milliardäre in Deutschland allein im Jahr 2023 um 23 Personen bzw. beinahe zehn Prozent auf 249.[8] Die Armut nimmt schon jetzt zu. So waren laut Angaben des Deutschen Paritätischen Wohlstandsverbandes (DPWV) im Jahr 2024 15,5 Prozent aller Menschen in Deutschland von Armut betroffen, 1,1 Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. Rund 5,2 Millionen Menschen litten sogar unter erheblicher materieller Entbehrung, konnten also entweder ihre Wohnung nicht heizen oder keine neue Kleidung kaufen. Das mittlere Einkommen der von Armut betroffenen Menschen lag mit 921 Euro im Monat niedriger als 2020 (981 Euro).[9]

In ganz NATO-Europa

Der Dreiklang aus beispiellos zunehmenden Rüstungsausgaben, ebenso beispiellosen Streichungsplänen in den nationalen Haushalten und einer zunehmenden sozialen Spaltung zeigt sich nicht nur in Deutschland, sondern in allen europäischen NATO-Staaten. Laut Berichten dürften sich deren Militärausgaben bis zum Jahr 2030 mehr als verdoppeln – auf zusammengenommen über 800 Milliarden Euro. Damit zögen Europas NATO-Länder fast mit den Vereinigten Staaten gleich. Allein die Ausgaben, die unmittelbar für Rüstungsgüter getätigt werden, könnten in NATO-Europa Schätzungen zufolge von gut 75 Milliarden Euro im Jahr 2021 über 140 Milliarden Euro im Jahr 2024 auf gut 335 Milliarden Euro 2030 steigen.[10] Wenngleich Deutschland klar als Vorreiter gilt, stehen auch in anderen Ländern Hochrüstung und dramatische Kürzungsmaßnahmen bevor. In Frankreich plant Präsident Emmanuel Macron, den Militärhaushalt im Jahr 2026 um 6,7 Milliarden Euro auf 57,1 Milliarden Euro zu erhöhen und 2027 rund 64 Milliarden Euro auszugeben – doppelt so viel wie 2017.[11] Gleichzeitig hat Frankreichs Ministerpräsident François Bayrou angekündigt, im kommenden Staatshaushalt 44 Milliarden Euro streichen zu wollen, ein Schritt, der drastische Kürzungen in den Sozialetats zur Folge hat. Die Armutsrate hat in Frankreich mit 15,4 Prozent ihren höchsten Wert seit drei Jahrzehnten erreicht.[12]

Kriminalisieren und verhindern

Hochrüstung, Sozialkürzungen und wachsende Armut gehen mit gesteigerter Repression gegen Kriegs- und Rüstungsgegner einher. Am vergangenen Wochenende stoppte die Polizei in Köln eine Demonstration mit rund 3.000 Teilnehmern, die sich gegen die Militarisierung der Bundesrepublik wandte, ging mit Gewalt gegen sie vor, kesselte mehr als tausend Demonstranten ein und hielt sie bis in die frühen Morgenstunden fest, zeitweise ohne Zugang zu Wasser. 147 Demonstranten mussten wegen Verletzungen, die Polizisten ihnen zugefügt hatten, von Sanitätern behandelt werden; 18 mussten ins Krankenhaus gebracht werden. „Die Polizei hat Menschen notärztliche Behandlung verwehrt“, berichtete einer der Organisatoren der Demonstration; auch hätten Polizisten die Anwältin der Organisatoren „körperlich angegriffen, anwesende Presse festgenommen“.[13] „Protest gegen die Militarisierung“ solle offenkundig bekämpft, kriminalisiert und „letztlich verhindert werden“.

[1] Reiner Burger, Paul Gross: Uneinig mit der SPD? „Wird auch in den nächsten Monaten so sein“. faz.net 30.08.2025.

[2] Regierung muss zehn Prozent der Ausgaben beim Bürgergeld einsparen. wiwo.de 03.09.2025.

[3] Zahl der Arbeitslosen so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.08.2025.

[4] Regierung muss zehn Prozent der Ausgaben beim Bürgergeld einsparen. wiwo.de 03.09.2025.

[5] Diese Bomben müssen Union und SPD entschärfen. n-tv.de 03.09.2025.

[6] S. dazu Wohin ein solcher Wahnsinn führt.

[7] Kathrin Müller-Lancé: Verurteilung von Vermögen in Deutschland ist ungleich. sueddeutsche.de 10.04.2025.

[8] Zahl der Milliardäre in Deutschland steigt auf Rekordwert. deutschlandfunk.de 20.11.2024.

[9] Paritätischer Wohlfahrtsverband: Arme werden ärmer. der-paritaetische.de 29.04.2025.

[10] Markus Fasse, Frank Specht, Roman Tyborski: So groß könnte die Rüstungsbeschaffung in Europa werden. handelsblatt.com 02.09.2025.

[11] Denis Cosnard: Projet de budget 2026 : une hausse des crédits militaires, des économies partour ailleurs. lemonde.fr 05.08.2025.

[12] Claire Ané: La pauvreté et les inégalités au plus haut depuis trente ans. lemonde.fr 07.07.2025.

[13] Henning von Stoltzenberg: Amtliche Ausflüchte. junge Welt 03.09.2025.

Der Beigtrag ist ursprünglich erschienen in GERMAN-FOREIGN-POLICY, 4.September 2025. Wir danken für das Publikationsrecht.

Titelbild: Collage Peter Vlatten

»Blockieren wir alles«

In Frankreich will eine Basisbewegung die geplanten Haushaltskürzungen stoppen. Premierminister Bayrou dürfte ihr erstes Opfer werden.

Von Volkmar Wölk

Bild: telegram france

Während die jüngeren Mitglieder der deutschen Industriegewerkschaften schon nicht mehr wissen, was ein Erzwingungsstreik ist und Gewerkschaftspolitik sich in hohem Maße im Lobbyismus erschöpft, zeigen die französischen Schwestergewerkschaften, dass es auch anders geht. Nicht durch Verzicht den Unternehmen die hilfreiche Hand zu reichen, um die Geschäfte wieder zum Florieren zu bringen und auf ein besseres Wahlergebnis zu hoffen ist das Gebot der Stunde sondern Sand im Getriebe zu sein und entschlossen das Erkämpfte zu verteidigen. Der folgende Artikel von Volkmar Wölk gibt einen ersten Eindruck über die bevorstehenden Auseinandersetzungen in unserem Nachbarland. Im Nachspann habe ich den gemeinsamen Aufruf der Gewerkschaften dazu in deutscher Übersetzung hinzugefügt. (Jochen Gester)

Wer mit dem Begriff »la rentrée« (Rückkehr) nichts anzufangen weiß, kennt Frankreich nicht. Am Wochenende davor gibt es noch einmal die berüchtigten Megastaus. Dann ist die Ferienzeit vorbei, die Schule beginnt, Paris schaltet zurück in den Normalbetrieb. Und auch die Politik meldet sich wieder zu Wort. Nach »la rentrée« werden die Weichen gestellt, was in den nächsten Monaten die Hauptthemen der Politik sein werden, welche Strömungen sich Vorteile erarbeiten können.

Die politische »rentrée« hat in der Regel ein Vorspiel. Das Ende der Urlaubszeit wird eingeläutet mit Ankündigungen der Regierenden. Werden diese Ankündigungen umgesetzt, wird in Frankreich der heiße Herbst eingeläutet.

Ein Vorbote dessen, was dieses Jahr zu erwarten ist, dürfte der 4. September gewesen sein. Die Energiesparte der Gewerkschaft CGT hatte angekündigt, mindestens 40 Einrichtungen zu blockieren. Zum ersten Höhepunkt kommt es dann aber am kommenden Montag. Ministerpräsident François Bayrou hat angekündigt, im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen. Nur zwei Tage später tritt ein neuer, völlig unbekannter Akteur ins Rampenlicht: die Basisbewegung »Bloquons Tout« (Blockieren wir alles). Für den 18. September wiederum kündigen die Gewerkschaften einen landesweiten Aktionstag an.

Bloquons Tout meldete sich erstmals im Mai in den sozialen Medien zu Wort – als Reaktion auf die Ankündigung des konservativen Ministerpräsidenten Bayrou. Der plant massive Haushaltskürzungen in Höhe von rund 44 Milliarden Euro, wobei ein großer Teil auf die soziale Infrastruktur, den öffentlichen Dienst und den Sozialbereich entfallen soll. Die Bewegung Bloquons Tout geht – wohl berechtigterweise – davon aus, dass Bayrou die Vertrauensabstimmung verlieren wird, denn dieser besitzt keine Mehrheit im Parlament und hat sich in der Vergangenheit seine Mehrheiten mithilfe des rechtsextremen Rassemblement national (RN) oder der Sozialisten gesucht. Inzwischen hat allerdings die gesamte Opposition angekündigt, ihm das Vertrauen zu verweigern. Bayrou fällt weich. Er ist während seiner Amtszeit als Ministerpräsident zugleich Bürgermeister von Pau geblieben.

Bei einer Umfrage befürworteten 63 Prozent der Befragten den Aufruf zur Blockade. Die drei Losungsworte »Boykott – Ungehorsam – Solidarität« reichen offenbar aus.

Weniger weich werden die Betroffenen der geplanten Kürzungsmaßnahmen fallen. In Planung ist die Streichung von zwei Feiertagen sowie der Karenzzeit ohne Lohnfortzahlung im öffentlichen Dienst bei Krankheit. Der Staatsapparat soll »verschlankt« werden, indem ausscheidende Beamte nicht ersetzt und Behörden abgeschafft werden, die die Regierung als »unproduktiv« ansieht. Vor allem aber sollen 2026 die Sozialleistungen und Renten nicht mehr wie bisher automatisch der Teuerung angepasst, sondern eingefroren werden. Eine Maßnahme, von der besonders die Armen und die unteren Einkommensschichten betroffen sind. Steigen soll lediglich der Militäretat, und zwar um 3,5 Milliarden Euro.

Bayrou hatte es ohnehin geschafft, in seiner achtmonatigen Amtszeit zum unbeliebtesten Ministerpräsidenten der V. Republik, also seit 1958, zu werden. Zuletzt erhielt seine Politik Zustimmungswerte von unter 18 Prozent. Das absehbare Ende seiner Amtszeit stellt Präsident Macron vor ein Dilemma. Denn da sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament nach dem Sturz der durch ihn ernannten Regierung nicht verändern, könnten eigentlich nur Neuwahlen eine Lösung herbeiführen.

Allerdings stellte die Abgeordnete Alma Dufour von der linken La France Insoumise (LFI) im Fernsehen verblüfft fest, dass sie erstmals, am gleichen Tag und an der gleichen Stelle, mit der prominenten konservativen Politikerin Valérie Pécresse einer Meinung war, nämlich dass Neuwahlen keine wesentliche Veränderung zwischen den drei Blöcken im Parlament bringen würden und nur der Rücktritt Macrons und die Neuwahl des Präsidenten einen Ausweg bieten könnten. Eine Ansicht, die bei einer Meinungsumfrage vor einigen Wochen von einer knappen Hälfte der Befragten geteilt wurde und die inzwischen noch deutlich an Zustimmung gewonnen hat.

Letztlich handelt es sich nicht um eine Regierungskrise, sondern um eine veritable Systemkrise, in der neue Akteure den Ausschlag für die künftige Richtung geben können. In dieser Situation taucht Bloquons Tout auf, zunächst als Idee auf einem rechten Telegram-Kanal. Die Idee verbreitete und verselbständigte sich schnell, von rechten Einflüssen ist nichts mehr zu spüren.

Die politische Linke, deren Bündnis Nouveau Front Populaire längst faktisch zerfallen ist, ist mehr als dankbar für den Impuls von außen. Denn die Hoffnung, gemeinsam Druck von links machen zu können, ist gegenwärtig illusorisch. Als erste unterstützte deshalb Jean-Luc Mélenchons France Insoumise das Netzwerk Bloquons Tout; zuletzt aber auch die Sozialisten, die noch immer darauf hoffen, dass Macron ihnen mit ihren lediglich 64 Abgeordneten den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt. Inzwischen gibt es Zustimmung auch von einigen Gewerkschaften, von aktivistischen Umweltorganisationen wie den Soulèvements de la terre und von lokalen Attac-Gruppen.

Das Netzwerk fordert alle Abgeordneten auf, ihre Pflicht zu erfüllen, indem sie der Regierung das Vertrauen verweigern. Ansonsten ist Bloquons Tout diffus, unstrukturiert, hat kein Programm, verfügt über keine autorisierten Sprecher*innen. Trotzdem ist das Netzwerk in aller Munde. Inzwischen befürworten rund 63 Prozent der Befragten bei einer Erhebung des Instituts Toluna-Harris den Aufruf zur Blockade am 10. September. Ein Wert, der gegenwärtig wohl weder von den Parteien der Linken noch von den Gewerkschaften zu erreichen wäre. Die drei Losungsworte »Boykott – Ungehorsam – Solidarität« reichen offenbar aus. Die Bewegung zeigt sich entschlossen: »Sie haben uns ignoriert. Sie werden uns zu hören bekommen!«

Inzwischen gibt es um die 100 lokale und regionale Unterstützergruppen, deren Kommunikation über Telegram- und Signal-Kanäle läuft. Die Mobilisierung lief zunächst über die sozialen Medien, in denen Sharepics wie »Haushalt 2026 – Sie sollen bezahlen« und eine Auflistung der zehn reichsten Familien Frankreichs mit einem Gesamtvermögen von 442 Milliarden Euro zu sehen waren. Inzwischen finden auch lokale Vorbereitungstreffen statt – von Korsika bis Calais, mit zwischen 60 und mehreren hundert Teilnehmenden. Der Inlandsgeheimdienst zeigt sich beunruhigt und geht von 100 000 Teilnehmenden bei den angekündigten mehr als 60 Aktionen aus.

Viel erinnert an die soziale Bewegung der Gelbwesten. Dennoch wäre es wohl verfehlt, einfach von Gelbwesten 2.0 zu sprechen, denn dafür sind die Unterschiede zu deutlich. Nach einer Erhebung der Fondation Jean Jaurès bei 1100 Anhängern der neuen Bewegung speist diese sich größtenteils aus Anhängern der radikalen Linken, während die Gelbwesten weitaus heterogener waren und durchaus auch rechte Anteile hatten. Bei der Präsidentschaftswahl hatten nur zwei Prozent der Bloquons-Tout-Anhänger*innen Macron gewählt, nur drei Prozent die rechte Marine Le Pen. Stark vertreten sind die jüngeren Jahrgänge, deutlich überrepräsentiert die Alterskohorte zwischen 25 und 34 Jahre. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt bei den Bewohner*innen kleiner und mittlerer Städte, während die Großstädte und Paris eher unterrepräsentiert sind.

Letztendlich geben auch nur 27 Prozent der von der Fondation Jean Jaurès Befragten an, bei den Geldwesten aktiv gewesen zu sein. Arbeiter*innen und Rentner*innen, beides zentrale Gruppen für die Gelbwesten, sind bei Bloquons Tout geringer vertreten als in der Gesamtbevölkerung. 28 Prozent, damit deutlich mehr als insgesamt, gehören zu der Gruppe mit einem Netto-Einkommen zwischen 1250 und 2000 Euro, sind also selbst nicht von prekären Bedingungen betroffen, rutschen aber in die Prekarität, wenn ihnen etwas genommen wird. All diese Punkte bringen das Institut zu der Einschätzung, dass sich die neue Bewegung grundlegend von den Gelbwesten unterscheidet. 2025 wird also das Jahr, in dem es eine zweite »Rentrée« gibt. Die Rückkehr der sozialen Bewegungen auf die Straße.

Erstveröffentlicht im nd v. 4.9. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193789.haushaltskuerzungen-in-frankreich-blockieren-wir-alles.html

Wir danken für das Publikationrecht.

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Hier ist der gemeinsame Aufruf der französischen Gewerkschaften


Es reicht mit den Opfern für die Arbeitswelt!

Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die unsere Organisationen vertreten, sind wütend. Die Zunahme der Mobilisierungen in verschiedenen Formen bestätigt dies. Niemand kann die Unzufriedenheit und Erschöpfung der Bevölkerung ignorieren. Vertreter der Gewerkschaften CFDT, CGT, CGT-FO, CFE-CGC, CFTC, UNSA, FSU und SOLIDAIRES haben uns am Freitag, den 29. August 2025, in Paris versammelt. Die am 15. Juli vom Premierminister vorgestellten Haushaltsentwürfe wurden von unseren Organisationen sofort und einstimmig abgelehnt.

Die verschiedenen vorgeschlagenen Haushaltsmaßnahmen sind in der Tat von beispielloser Brutalität. Die Regierung hat sich erneut dafür entschieden, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, Rentnerinnen und Rentner sowie Kranke zur Kasse zu bitten: die Streichung von zwei Feiertagen, Kürzungen im öffentlichen Dienst, die Infragestellung des Arbeitsrechts, eine weitere Reform der Arbeitslosenversicherung, das Einfrieren der Sozialleistungen und der Gehälter von Beamten und Vertragsbediensteten, die Entkopplung der Renten von der Inflation, die Verdopplung der Arzthonorare, die Infragestellung der fünften Woche bezahlten Urlaubs… All dies sind Maßnahmen, die ebenso brutal wie zutiefst ungerecht sind. Was die Verschuldung ebenfalls erhöht, sind die Steuersenkungen für Reiche und die 211 Milliarden Euro an öffentlichen Hilfen, die von den größten Unternehmen Gemeinsam warnen wir eindringlich vor diesem Kontext und der Lage unseres Landes. Seit der Präsident der Republik die Rentenreform durchgesetzt hat, versinkt unser Land in einer tiefen sozialen und demokratischen Krise.

Die Ungleichheiten und die Zahl der Menschen, die unter die Armutsgrenze fallen explodieren, die Folgen des Klimawandels nehmen zu und haben direkte Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Unternehmensschließungen und Stellenstreichungen nehmen zu, die öffentlichen Dienste befinden sich in der Krise, die Löhne reichen nicht aus, um ein würdiges Leben zu führen, und die unverzichtbaren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer warten immer noch auf Anerkennung und Würde am Arbeitsplatz….

Mehr denn je sind die Verteilung von Wert und Reichtum, die Aufwertung der Löhne und die Gleichstellung von Frauen und Männern unerlässlich. Anstatt seinen Haushaltsentwurf anzupassen, um auf die beispiellose Defizitsituation zu reagieren, hat der Premierminister eine Ablenkungsstrategie beschlossen und sich am 8. September einem Vertrauensvotum unterzogen . Für unsere Organisationen ist die Aufstellung eines völlig anderen Haushaltsplans, der Hoffnung, soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit verspricht, unerlässlich.

Unsere Gewerkschaften lehnen es ab, dass erneut die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Arbeitssuchende, jungen Menschen und Rentnerinnen und Rentner die Zeche zahlen müssen, sowohl finanziell als auch durch erhöhte Flexibilität.

Seit Juli mobilisieren sie sich in allen Unternehmen und Verwaltungen, in den Regionen und Berufen, indem sie auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugehen, damit diese die gewerkschaftsübergreifende Petition stopbudgetbayrou.fr

Heute rufen unsere Organisationen zu einem Aktionstag im gesamten Land am 18. September 2025 auf, einschließlich Streiks und Demonstrationen. Das Horrormuseum des Haushaltsentwurfs muss aufgegeben werden. Die sozialen Forderungen müssen endlich berücksichtigt werden!

Wir wollen:

* Haushaltsmittel, die den Aufgaben der öffentlichen Dienste und Politiken gerecht werden;

* Maßnahmen zur Bekämpfung der Prekarität und zur Stärkung der Solidarität;

* Investitionen in einen gerechten ökologischen Wandel und die Reindustrialisierung Frankreichs sowie Maßnahmen gegen Entlassungen;

* Steuergerechtigkeit durch die Einführung von Maßnahmen, die große Vermögen und sehr hohe Einkommen besteuern, die Ausschüttung von Dividenden vorschreiben und die Unternehmensbeihilfen strengen Auflagen unterwerfen;

* ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und die Abschaffung der Rente mit 64 Jahren.

Wir rufen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu auf, sich massiv zu mobilisieren, um die Situation zu ändern und Fortschritte zu erzielen! Unsere Organisationen bleiben in Kontakt, vereinbaren, sich nach diesem Tag der Mobilisierung und des Streiks wieder zu treffen, und behalten sich die Möglichkeit vor, alle notwendigen Initiativen zu ergreifen.

Übersetzunhg mit Deepl


Kriegsvorbereitung im Gesundheitswesen ruft bei Beschäftigten Entsetzen und Protest hervor

Berliner Senat – Bundeswehr – Berliner Krankenhausgesellschaft bereiten Beschäftigte auf den Krieg vor

Von Mario Kunze

Bild: Screenshot You Tube Video

Am 21.7.2025 fand am Campus Mitte der Charité eine Veranstaltung unter dem Motto „Zivile Verteidigung der Berliner Krankenhäuser“ statt.

Veranstalter waren der Berliner Senat, die Bundeswehr und die Berliner Krankenhausgesellschaft.

Obwohl sich diese Veranstaltung angeblich an „alle Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser“ richtete, wollte man vermutlich unter sich bleiben, denn großartig beworben wurde die Veranstaltung nicht. Aus gutem Grund, wie sich herausstellte.

Man betonte zwar, dass sich das Gesundheitswesen auf alle möglichen Fälle von Katastrophen besser vorbereiten müsste, aber schon die Anwesenheit eines „Verbindungsoffiziers“ der Bundeswehr in trauter Gemeinsamkeit mit dem Berliner Senat und der Berliner Krankenhausgesellschaft machte deutlich wohin die Reise gehen sollte.

Und so stand die gesamte Veranstaltung eher unter dem Motto der Kriegsertüchtigung der Krankenhäuser. Zu keiner Zeit hatte der Zuhörer den Eindruck, dass es sich um theoretische Planspiele handelte, sondern hier wurde versucht, mittels Halbwahrheiten und ausgemachtem Schwachsinn, „Fakten“ im Sinne einer Kriegshysterie zu schaffen, die stark an die Berichte vor den letzten beiden Weltkriegen erinnerte.

Politoffizier Oberst Urs Zimmermann sprach vom Narrativ der russischen Regierung, die mittels einer bewaffneten Bedrohung durch die NATO der Bevölkerung Russlands erklären wolle, nun unbedingt aufrüsten zu müssen. Den Russen würde man erklären, sie wären von der NATO umzingelt. Was bei den geringem Grenzverlauf in Europa ja Quatsch wäre. Dass die USA Teil der NATO sind und weltweit (auch rund um Russland) Militärstützpunkte betreiben, verschwieg er.

Das Bedrohungsszenario, welches er mit Schaubildern skizzierte, war für die Anwesenden nicht nach prüfbar und wird denen in Russland spiegelverkehrt gleichen. Er sprach von der „Ostflanke“, selbst der Begriff „Ostfront“ fiel auf dieser Veranstaltung.

Marc Schreiner, Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft erklärte anschließend, dass er den Bericht schon viermal gesehen hätte und jedes Mal begeistert war.

Er bereitete die Zuhörerschaft auf „ähnliche“ Herausforderungen wie in Pandemiezeiten vor und sprach davon, dass (Zitat) „den niedergelassenen Ärzten das Kommittent abgerungen wurde, dass nur noch zwingend notwendige selektive stationäre Einweisungen in Berliner Krankenhäuser stattfinden sollen. Schließlich rechne Berlin mit 100 Schwerverletzten pro Tag und deutschlandweit mit 1,8 Millionen Flüchtlingen. Man würde Erhebungen vorbereiten die deutlich machen, mit welchem Personal man im Kriegsfall an den Berliner Krankenhäusern rechnen könne und er hoffe, dass nun – in diesem Zuge – auch wieder in die Infrastruktur der Krankenhäuser investiert wird.

Bei den 1,8 Millionen Flüchtlingen gibt es nach seinen Worten noch die „Besonderheit“, dass es sich um EU-Bürger handelt. Diese hätten besondere Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf medizinische Versorgung. Allgemein freue er sich darüber, dass man dieses Thema nun mit den Beschäftigten diskutieren könne.

Die anwesende Senatsangestellte war dann für die „Rechtssicherheit“ der Kriegsertüchtigung zuständig. Noch Ende dieses Jahres rechne man mit dem „Gesundheitsversorgungssicherungsgesetz“…in dem z.B. Zuständigkeiten geklärt werden.

Man prüfe alternative und provisorische Lazarette, wie zum Beispiel in Tiefgaragen oder am Berliner Flughafen.

Was das für Beschäftigte im Gesundheitswesen bedeute und wie für diese gesorgt wird, machte eine Kollegin der Arbeitsgruppe „Zivile Verteidigung der Krankenhäuser“ deutlich.

Sie sprach von Doppelverplanung der Kolleginnen und Kollegen. Zur besseren Verfügbarkeit wolle man sich um KITA-Plätze bemühen. Als Tipp für die eigene Resilienz (Widerstandsfähigkeit) empfahl sie z.B. aufs Fahrrad umzusteigen. So wäre man auch bei Ausfällen des öffentlichen Nahverkehrs mobiler. Sport, Yoga durften als Tipp nicht fehlen.

Das Fazit der Veranstaltung (welche nun dreimal im Jahr abgehalten werden soll – nächster Termin im November) lässt sich in ein paar Worten zusammenfassen:

Sie bereiten tatsächlich den großen Krieg vor. Sie befürchten ihn nicht, sie wollen ihn. Auch wenn der Großteil der Zuhörerschaft eher paralysiert bis entsetzt war, es gab auch Widerstand.

Eine Gruppe junger Mediziner und Medizinerinnen kaperten kurzzeitig die Veranstaltung und verlasen eine folgende Protestnote. (siehe Kasten)

Ihnen gilt nicht nur mein persönlicher Dank, sondern auch das Versprechen noch lauter und vereinter gegen die Kriegsgeilheit vorzugehen.

Dokumentiert:

Wir verlassen den Raum, unser Protest bleibt.

Redebeitrag vom 21.07.2025

Wir unterbrechen die Veranstaltung an dieser Stelle, um kritisch auf das zu blicken, was hier heute passiert.

Denn die fortschreitende Verzahnung zwischen Gesundheitswesen und Bundeswehr, ist gefährlich, ist Teil der Kriegslogik.

Ihr glaubt vielleicht, eine Zusammenarbeit mit der Bundeswehr kann im schlimmsten Fall – dem Kriegsfall – helfen mehr Menschen zu retten. Ihr denkt vielleicht, was Ihr heute hier macht, ist reine Notfallprävention. Ihr irrt euch. Jede Vorbereitung, die von der Möglichkeit des kommenden Krieges ausgeht, bereitet ihn bereits logistisch vor, normalisiert ihn und erhöht unsere Bereitschaft ihn auch zu führen. Wenn wir beginnen, den Krieg einzuplanen, uns für ihn zu wappnen – dann haben wir ihn schon akzeptiert.

Veranstaltungen wie diese heute dienen also nicht einer „krisenfesteren Gesundheitsinfrastruktur“, nein sie arbeiten genau auf diese Krisen, diesen Krieg zu, sie macht diesen Krieg denkbarer, sagbarer, führbarer.

Einen Krieg, der mit modernen Massenvernichtungs- und Atomwaffen geführt werden würde. Ein Krieg, solchen Ausmaßen, dass ihr, das wir seinen Opfern nicht helfen können.

Wir, als Mitarbeitende des Gesundheitssystems, als Patient*innen, als Angehörige verweigern uns einer Zusammenarbeit mit Kriegsakteur*innen.
Hört auf unter dem Deckmantel der Prävention den nächsten Krieg vorzubereiten! Lasst uns mit politischem und sozialem Widerstand gegen eine Ausbreitung des globalen Kriegsgeschehens arbeiten!

Wir fordern, mit bestehenden Ressourcen eine solidarische und gesamtgesellschaftliche Gesundheitsversorgung zu gewährleisten!

Wir haben gesagt, was gesagt werden musste. Wir verlassen den Raum, unser Protest bleibt.

Vorabdruck aus Soziale Politik & Demokratie, Nr. 533
https://sopode.info/2025/08/18/kriegsvorbereitung-im-gesundheitswesen-ruft-bei-beschaftigten-entsetzen-und-protest-hervor/

Wir danken für das Publikationsrecht.

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