Wie man in Frankreich mit Organisationsversagen umgeht
Von Bernd Hontschik*
Bild. Syndikoop.info collagiert
Mitte Februar bestätigte das Oberste Kassationsgericht in Paris Schuldsprüche gegen den Vorstandsvorsitzenden und seinen Stellvertreter des Telekommunikationskonzerns „France Télécom“ (heute „Orange“), womit sie für eine Serie von mehr als 35 Suiziden unter ihren Mitarbeitern verantwortlich gemacht wurden, die vor 15 Jahren Frankreich erschütterte. „Management durch Terror“ hatte ein Mitarbeiter den massiven Stellenabbau mit Zwangsversetzungen, Einschüchterungen und Mobbing in seinem Abschiedsbrief damals genannt, bevor er sich das Leben nahm.

Einige Tage nach diesem Urteilsspruch ist mir eine kurze Nachricht aufgefallen, die daran direkt anschließt, und die es in einer vergleichbaren Form in Deutschland noch nicht gegeben hat. Berichtet wurde von einer Klage, die am 10. April bei dem französischen Gericht eingereicht worden ist, das für mögliche Vergehen von Regierungsmitgliedern bei der Ausübung ihres Amtes zuständig ist. Die Klage richtet sich gleichzeitig gegen die Arbeits- und Familienministerin Catherine Vautrin, Gesund- heitsminister Yannick Neuder und Hochschulministerin Elisabeth Borne.
Gegenstand der Klage von zwanzig Klägerinnen und Klägern sind die Arbeitsbedingungen in den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, die für mehrere Selbstmorde unter Ärzten und Pflegekräften verantwortlich gemacht werden. Besondere Erschütterung hatte in Frankreich der Selbstmord eines Notarztes in Poissy- Saint-Germain-en-Laye im September 2023 und einer Krankenschwester in Béziers im Juni 2024 ausgelöst. In der Klageschrift werden unmenschliche Arbeitszeiten, übermäßige Arbeitsbelastung und systematisch erhöhter Arbeitsdruck durch schlechtes Krankenhausmanagement für diese Selbstmorde verantwortlich gemacht. Die Minister hätten unter ihrer Führung eine destruktive Arbeitsorganisation in den Krankenhäusern mit dramatischen Folgen zugelassen. Das Engagement des Krankenhauspersonals habe man besonders während der Corona-Pandemie ausgenutzt, um strukturelle Missstände zu verschleiern.
Empörende Missachtung des Pflegepersonals ist also kein spezifisch deutsches Phänomen. Während der Corona-Pandemie hat sich der Deutsche Bundestag sogar zu peinlichem Applaus hinreißen lassen, gleichzeitig aber der enormen Arbeitsleistung dieses Berufsstandes in keiner Weise Rechnung getragen. Der vollmundige „Dank an Pflegekräfte für besonderen Einsatz“ mündete im März 2022 in der Auszahlung eines lächerlichen einmaligen Pflegebonus von 300 bis 550 Euro. Den erhielten aber keineswegs alle, sondern nur diejenigen, die 2021 in Krankenhäusern gearbeitet hatten, die mehr als zehn Infizierte mit mehr als 48 Stunden beatmet hatten. Pech, wenn es nur 9 Infizierte waren, Pech, wenn nur 47 Stunden Beatmung nötig waren, und Pech, wenn man sich in Arztpraxen oder Allgemeinstationen um die Versorgung von Hunderten, von Tausenden Corona-Patient:innen gekümmert hatte. Im Bereich der Altenpflege musste man mindestens drei Monate in einer dafür zugelassenen Pflegeeinrichtung tätig gewesen sein, um einen Bonus zu erhalten, gestaffelt nach Versorgungsnähe, Versorgungsumfang und Qualifikation. Pech, wenn es nur zwei Monate waren. Pech, wenn die Einrichtung nicht zugelassen war – wofür eigentlich?
Dass alle, und zwar wirklich alle im Gesundheitswesen Tätigen während der Corona-Pandemie weit über das normale Maß hinaus gearbeitet und zum Überwinden der Krise beigetragen hatten, egal wie fern oder nah, egal wieviele Beatmete oder nur Bettlägerige man versorgt hatte, das war dem Ministerium zu hoch. Noch dazu wurde der gesamte ambulante Bereich der medizinischen Versorgung schlicht ignoriert. Aber auch da wurde hart und über alle Maßen vieltausendfach gearbeitet, wenn auch niemand beatmet wurde. Das war keinen Bonus wert.
„Wir werden es nicht bei diesem Bonus belassen. Arbeitsbedingungen und Bezahlung von Pflegekräften müssen insgesamt deutlich besser werden. Gute Pflege ist eine immer wichtiger werdende Stütze unserer Gesellschaft“, tönte der Gesundheitsminister damals vollmundig. Passiert ist seitdem nichts, schon gar nichts Gutes.
In Frankreich kann man für ein solch staatliches Organisationsversagen wenigstens verklagt werden. In Deutschland kann man sich dafür leider nur schämen. Aber nicht einmal davon ist etwas zu spüren.
- Dr. Bernd Hontschik ist Chirurg, Vorstandsmitglied von medico international, Kolumnist der FR und Autor der Ärztezeitung
Erstveröffentlicht in der FR v. 19.4. 2025
Wir danken für das Publikationsrecht.