Der linke Diskurs um die „Zeitenwende“ hat Fahrt aufgenommen. Hier ein weitreichender Beitrag dazu, quasi der „lange Weg“ in die Zeitenwende. Im Fokus diesmal weniger der Kriegskurs, sondern mehr Profitmaximierung, Neoliberalismus, Abbau des Sozialstaats und auch die Rolle der Gewerkschaften dabei. Es ist überfällig, konsequent zu kämpfen! (Peter Vlatten)
„Die Herren machen das selber, dass Ihnen der arme Mann Feind wird.“ (Thomas Müntzer)
Harald Weinberg, September 2025
Spätestens seit der Zeitenwende von 1989/1990 erleben wir weltweit einen entfesselten Kapitalismus und (besonders auch in Deutschland) in aufeinander-folgenden Wellen einen entfesselten Klassenkampf der besitzenden Klasse gegen die besitzlosen oder besitzarmen Klassen. Der „Mittelstand“ wurde und wird dabei zerrieben. Damit hat sich auch das „Aufstiegsversprechen“, nachdem Jede und Jeder „es schaffen könne, wenn sie/er sich nur genug anstrenge“, in Luft aufgelöst. Bisweilen wurden die Besitzlosen abgespeist und ruhig gestellt mit dem Märchen vom „Trickle Down“: „Wenn die Reichen reicherwerden und wenn das Kapital mehr Profit macht, dann fällt auch für euch was ab.“ – Pustekuchen, wie wir heute wissen.
Inzwischen wird auf derartige Verklausulierungen verzichtet: Profitmacherei und Bereicherung gilt als selbstverständlicher und unhinterfragbarer Selbstzweck der herrschenden Politik. Und wenn es dann klemmt bei den Staatsfinanzen? Dann muss eben der Sozialstaat, den „wir uns nicht mehr leisten können“, geschliffen werden. Und dazu wird er zunächst sturmreif geredet und geschrieben: Organisierte Bürgergeldbetrügereien, fehlende Sanktionierungen von „Arbeitsverweigerern“, zu geringes Lohnabstandsgebot (weshalb nicht etwa die Löhne erhöht werden sollten, sondern das Bürgergeld abgesenkt), Rentenkürzungen, Arbeiten bis zur Grablegung, Zuzahlungen beim Arzt und im Krankenhaus usw. usf. Der Phantasie der Grausamkeiten sind keine Grenzen gesetzt, vor allem unter einem Kanzler Merz und mit einer hilflosen SPD. Und der Drohung, im Zweifel das Ganze mit der AfD durchzusetzen, die sich im Hintergrund bereit hält.
„Death of a Clown“
Wobei wir mit der hilflosen SPD auch bei den Gewerkschaften und ihrem Dachverband DGB wären. Eigentlich die Interessenvertretung der lohnabhängig arbeiteten Menschen und allen anderen, die nicht von ihrem Vermögen leben können oder als leitende Angestellte des Kapitals aus der Profitmasse alimentiert werden.
Die Gewerkschaften und ihr Dachverband wurden insbesondere unter den Regierungen Brandt/Schmidt ziemlich erfolgreich im Rahmen der „konzertierten Aktion“ (Wirtschaftsminister Schiller) in das „Modell Deutschland“ integriert. Sie durften als „Sozialpartner“ mit am Tisch sitzen und mitreden, wenngleich die Mitsprache nun nicht so weit ging, dass man von einer substanziellen Mitbestimmung im Sinne einer Demokratisierung der Wirtschaft reden könnte. Gelegentlich liessen sie mal ihre Muskeln spielen in Form von Warnstreiks und Branchenstreiks. Aber seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts gerieten sie in die Defensive. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, aber der Hauptgrund scheint mir zu sein, dass die „Gegenseite“ kein Interesse mehr hatte, das „Modell Sozialpartnerschaft“ fortzusetzen. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatssystems entfiel aus ihrer Sicht die politische Notwendigkeit sich an diese Spielregeln zu halten. Und man änderte die Spielregeln unter der Hand ziemlich radikal. Rhetorisch wurde an dem Begriff festgehalten, weil man damit die Gewerkschaften ruhigstellen und immer wieder ermahnen konnte, sich ich bitte als „Sozialpartner“ nicht daneben zu benehmen. Inhaltlich wurde die Orientierung an Sozialpartnerschaft aufgegeben und „Shareholder Value“ zum alleinigen Leitstern kapitalistischen Handelns. Die Gewerkschaften haben sicher unterschiedlich darauf reagiert. Aber in wesentlichen Teilen erschöpfte sich die Reaktion darauf, zu lamentieren dass das Kapital die Spielregeln der Sozialpartnerschaft verletze, und zu appellieren doch zu diesen zurückzukehren.
Sozialstaatsabbau: Angriff auf den Besitzstand der Arbeiterklasse
Und bereits unter der Regierung Kohl (CDU) aber erst recht unter der Regierung Schröder (SPD) geriet der Sozialstaat (teilweise unter den Stichworten „Lohnnebenkosten“ und „Standortwettbewerb“) ins Visier. Hier kommt mein Staatsverständnis etwas zum Tragen: In das bürgerliche Staatsgefüge ist mehr oder weniger deutlich auch der jeweils historische Stand der Klassenauseinandersetzung eingeschrieben. Gesetze, besonders wenn sie arbeitsrechtliche, sozialrechtliche aber auch wirtschaftsrechtliche Fragen betreffen, sind insofern geronnene und für diese historische Phase festgeschriebene Kräfteverhältnisse. Das kann man zum Beispiel festmachen an der Arbeitszeitgesetzgebung oder dem Betriebsverfassungsgesetz, aber auch an der Rentengesetzgebung oder der Gesetzgebung im Gesundheitsbereich. Die große Welle der Privatisierungen, die in Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge zugelassen oder gar forciert worden sind, zum Beispiel im Krankenhaussektor. Historische Beispiele gibt es auch: Die sogenannten Bismarckschen Sozialgesetze sind ja keine Kopfgeburten eines sozial veranlagten Reichskanzlers gewesen, sondern eine Reaktion auf das Erstarken der Arbeiterbewegung und ihrer politischen Partei, der SPD, die ja zeitgleich verboten wurde und für 12 Jahre in die Illegalität verbannt wurde. Diese Doppelstrategie sollte der „gemeingefährlichen Sozialdemokratie“ den Nährboden entziehen. Aber es ist klar, dass es diese Sozialgesetze, so bescheiden sie auch waren, ohne den Druck und den Erfolg der Arbeiterbewegung nicht gegeben hätte. Ein anderes Beispiel ist das Sozialstaatsgebot im GG von 1949. Denn das ist das Ergebnis des Zusammenbruchs des Nationalsozialismus, also einer extremen Form einer bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft. Die Mitverantwortung der Deutschen Kapitalistenklasse war so offensichtlich, dass es ja entsprechende Neuordnungsforderungen bis hinein in die CDU gab. Es war die vorübergehende Schwäche einer desavouierten herrschenden Klasse, die es sogar in einer Zeit, in der die Neuordnungsvorstellungen bereits wieder überlagert wurden durch den „kalten Krieg“, ermöglichte entsprechende Artikel in das Grundgesetz hineinzubringen. Im Zuge der Westorientierung und der kapitalistischen Restauration wurde dann auch schnell Anfang der 60er Jahre eine Verfassungsinterpretation in Stellung gebracht, die das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 als „nicht konstitutiven Teil des Grundgesetzes“ relativierte (siehe die Forsthoff-Abendroth-Kontroverse).
Aber alles, was wir an Sozialstaatlichkeit kennen (v.a. der Schutz vor den großen Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Krankheit und Altersarmut) wurde teilweise in harten und verbissenen Kämpfen erkämpft und wird ganz überwiegend aus der Lohnsumme finanziert. Auch aus Unternehmenssicht sind die „Arbeitgeberanteile“ an der Finanzierung der Sozialsysteme Lohnbestandteile und gehen als solche in deren betriebswirtschaftliche Kalkulation ein. Sozialstaatliche Leistungen können somit unter diesem Gesichtspunkt auch als „Allmende“ der Arbeiterklasse bezeichnet werden, als gemeinschaftlicher Besitzstand finanziert aus dem Lohn der Arbeiterklasse. Insofern ist der Angriff auf den Sozialstaat, den wir jetzt unter Merz (CDU) erneut und verschärft erleben werden, nichts anderes als ein Raubzug gegen den gemeinschaftlichen Besitzstand der Arbeiterklasse. Haben wir es mit einer neuen Qualität des Angriffs auf den Sozialstaat zu tun? Ich würde sagen, es ist eine weitere Angriffswelle, wobei mit jeder Welle der Sozialsaat, wie er einmal erkämpft worden ist, Stück für Stück zerstört wurde. Womöglich ist es noch nicht die finale, aber sicher ist es eine entscheidende Angriffswelle. Das hat auch zu tun mit den weltpolitischen Erschütterungen, die wir aktuell erleben, und der spezifischen Reaktion der EU und der meisten europäischen Staaten hierauf: „Alles für die Rüstung, koste es was es wolle.“; „Wir müssen kriegstüchtig werden!“ usw. Und es hat etwas zu tun mit diesem Kanzler, der direkt von der Kapitalseite kommt und seinen Klassenauftrag verdammt ernst nimmt. Noch aus seiner Zeit vor „BlackRock“, als er noch stellvertretender Fraktionsvorsitzender war, stammt das Zitat: „Wir müssen die Kartelle zerschlagen und die Funktionäre entmachten!“ Mit „Kartelle“ sind hier nicht monopolkapitalistische Konzerne gemeint, sondern in klassisch neoliberaler Terminologie die „Lohnkartelle“, also die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften gilt es zu zerschlagen, deren Funktionäre gilt es zu entmachten. Diese Denke ist heute Kanzler und setzt das um. Nicht unmittelbar aber mittelbar durch die Zerschlagung des Sozialstaats.
Die Gegenwehr muss dem Angriff angemessen sein.
Und dieser Angriff auf den Sozialstaat ist ein Angriffe auf die Lohnabhängigen und ihre Angehörigen, ist ein Angriff auf UNSEREN sozialen Besitzstand, ist ein Angriff auf uns und unsere Gewerkschaften. So ein Angriff lässt sich nicht wegargumentieren und auch nicht mit „kämpferischen Resolutionen oder Presseerklärungen“ beeindrucken. Es gibt keine „höhere Vernunft“, an die man appellieren könnte und die dann in dem Zwist entscheidet. Es geht um eine Konfrontation von Klasseninteressen. Und da entscheidet der Kampf! Da braucht es radikale Gegenwehr und da ist ein allgemeiner Ausstand aller Lohnabhängigen und ihrer Angehörigen durchaus ein angemessenes Mittel der Wahl.
Können wir da auf unsere Gewerkschaften zählen?
Bislang gibt es in diese Richtung keinerlei Signale. Bislang gefallen sich die Gewerkschaftsspitzen darin, an die „höhere Vernunft“ zu appellieren, zu lamentieren, zu bitten. Und sie scheinen auch mal wieder ihre Hoffnung darauf zu setzen, dass der kleine Koalitionspartner SPD das Schlimmste verhindern möge und dass man die mal machen lassen und nicht zu sehr unter Druck
setzen solle. Dabei bin ich fest davon überzeugt, dass ohne Druck von außen, ohne einen generellen Aufstand auch die SPD dieser Angriffswelle nichts entgegen zu setzen hat. Historisch hat sie ja mehrfach bewiesen, dass sie in zugespitzten Situationen gerne mal auf der falschen Seite steht.
Kann man den Dackel zu Jagen tragen?
Nun, das dürfte schwer werden. Nach meinem Eindruck gibt es einiges an Unmut und Zorn in den Betrieben und auch in der Bevölkerung. Es handelt sich aber vielfach um eine ungerichtete Wut, eine Wut ohne Klassenstandpunkt, eine Wut ohne klaren Gegnerbezug, ohne Ausrichtung auf die herrschende Klasse und ihre politischen Charaktermasken. An diese ungerichtete Wut knüpfen die Rechtsextremen von der AfD leider recht erfolgreich an und lenken sie um in einen „Kulturkampf“ und in einen „Fremdenhass“. Die schwere Aufgabe besteht darin, diese oft ungerichtete Wut umzuformen in einen gerechten Zorn gegen die herrschende Klasse und die mit ihr verbundenen Politik. Die Partei DIE LINKE versucht dies inzwischen ziemlich konsequent auf der politischen Bühne umzusetzen. In den Gewerkschaften sind es nach meinem Eindruck der mittlere und untere Funktionärsbereich, der Willens und in der Lage wäre, diesen Unmut und diese Wut auch in koordinierte Aktion zu überführen. Ob das gelingen könnte oder ob die Gewerkschaftsapparate Zuviel Eigengewicht besitzen, dass ihre Trägheit nicht überwunden werden kann, das weiß ich nicht. Aber wenn das nicht gelingt, dann weiß ich ziemlich sicher, dass sich diese Wut und dieser Unmut anderweitig orientiert und es steht ja eine politische Partei bereit, daraus populistisch Kapital zu schlagen. Und dann reden wir von einem existenziellen Großangriff auf alle arbeitsrechtlichen, gewerkschaftlichen, sozialen und demokratischen Rechte.
„Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark.“
(Rosa Luxemburg)
Wir danken für das Publikationsrecht.