„An alle Automobilarbeiter da draußen, die ohne die Vorteile einer Gewerkschaft arbeiten: Jetzt seid ihr dran“

Nach ihren erfolgreichen Tarifkämpfen gegen die Großen Drei der US Autokonzerne und nach ihrer Palästina Solidarität machen die US Autogewerkschaften erneut Furiore. Jetzt sind auch deutsche Autohersteller dran.

„An alle Automobilarbeiter da draußen, die ohne die Vorteile einer Gewerkschaft arbeiten: Jetzt seid ihr dran“ verkündete Shawn Fain, Präsident der Automobilgewerkschaft UAW, Ende November in einem Video. „Seit wir unseren Streik begonnen haben, war die Reaktion der Autoarbeiter in nicht gewerkschaftlich organisierten Unternehmen überwältigend.“ [1]https://uaw.org/all-news/

Als sich die drei Großen Autokonzerne geweigert hatten, die Beschäftigten spürbar an den Rekordgewinnen zu beteiligen, traten diese in den Streik. „Über 40 Tage und Nächte lang hielten die Autoarbeiter bei Ford, GM und Stellantis die Linie und gewannen groß“, erzählen sich nun die Autoarbeiter in allen anderen Unternehmen.

In einem Mobilisierungsvideo der UAW sprechen fünf unorganisierte Autoarbeiter:innen über den historischen Moment in der amerikanischen Autoindustrie.  Ziel ist die Organisierung Aller in der gesamten Branche. Mit Arbeitern von Hyundai, Mercedes, Toyota, Volkswagen und Rivian fängt das Video „These Hands“ den Geist ein, der hinter der Bewegung der Automobilarbeiter:innen steckt, sich jetzt zu Zehntausenden der UAW anzuschließen! „Diese unsere Hände sind es, die jeden Dollar erschaffen!“

„DIESE HÄNDE“, Video von UAW 9

Betroffen sind nicht zuletzt die deutschen Autobauer BMW, Mercedes und Volkswagen, die es bisher „trefflich schäbig“ in den USA verstanden haben, die Rechte von ihren Arbeitern und Angestellten zu beschränken und eine gewerkschaftliche Organisierung in ihren Betrieben zu verhindern.

Das UAW Statement zu BMW lautet: „Der Gewinn von BMW ist in den letzten drei Jahren um über 130 Prozent gestiegen. Anstatt den BMW-Arbeitern ihren gerechten Anteil zu zahlen, gibt das Unternehmen Milliarden für Aktienrückkäufe und über 30 Millionen US-Dollar für die Vergütung von nur sieben Topmanagern aus. Es ist an der Zeit, dass die BMW-Arbeiter aufstehen und für mehr kämpfen!“

Das UAW Statement zu Mercedes lautet: „Der Gewinn von Mercedes ist allein in den letzten Jahren um 200 % gestiegen. Von März bis November 2023 gab das Unternehmen 1,9 Milliarden US-Dollar für Aktienrückkäufe aus, anstatt die Rekordgewinne mit der Belegschaft zu teilen. Es ist an der Zeit, dass die Mercedes-Arbeiter aufstehen und für mehr kämpfen.“

VW Atlas im Werk in Chattanooga in Tennessee nicht mehr lange „gewerkschaftsfrei“

Das UAW Statement zu Volkswagen lautet: „Die Gewinne von Volkswagen sind in den letzten drei Jahren um mehr als 60 Prozent gestiegen, und die Fahrzeugpreise sind um mehr als 40 Prozent gestiegen. VW-Arbeiter in Tennessee werden zurückgelassen, während nur 13 Spitzenmanager zusammen 60 Millionen Dollar einstreichen. Es ist an der Zeit, dass die VW-Arbeiter aufstehen und für mehr kämpfen.“

UAW zeigte: wer die volle Kampfkraft in die Waagschale wirft, kann nur gewinnen! Statt Entlassungen werden Neueinstellungen durchgesetzt. Statt ein Werk platt zu machen wird ein neues Werk aufgebaut. Wie bei den Gewinnen steigen auch die Löhne und Gehälter rapide. Die Streikrechte werden erweitert und nicht eingeschränkt. Und die Beschäftigten bleiben der galloppierenden Inflation nicht hilflos ausgeliefert. [2]https://gewerkschaftliche-linke-berlin.de/uaw-gewerkschaften-konsequent-gekaempft-berge-versetzt/

Beflügelt von diesen Erfolgen bei den Großen Drei wollen sich nun tausende Arbeiterinnen von weiteren 13 Herstellern in der UAW organisieren. Es ist mehr als wahrscheinlich , dass sich die Mitgliederzahl der Gewerkschaft im Verlauf dieser Kampagne verdoppeln wird. [3]https://www.automobilwoche.de/nachrichten/us-gewerkschaft-uaw-will-mitglieder-bei-weiteren-herstellern-gewinnen?fbclid=IwAR1H1Fj7hTAMNKlbUt4o5KFB2bJ2ZrsFvSpqZscjC9A-7xNlYXryFs3jI3s Binnen einer Woche haben sich allein bei VW schon über 30% für eine Mitgliedschaft entschieden.[4]https://uaw.org/volkswagen-workers-chattanooga-launch-public-campaign-join-uaw-1000-workers-signed/

Auch Tesla knüpfen sich nun die Kolleg:innen in den USA gezielt vor und stärken damit die internationale Front gegen den ausgesprochen gewerkschaftsfeindlichen Elon Musk.

Aufgrund der Erfahrungen mit zahlreichen Managertypen wie Musk informiert UAW breit über die Rechtslage zu Union Bashing and Mobbing: „Es ist für Arbeitgeber illegal, Arbeitnehmer zu überwachen, zu versprechen, einzumischen oder ihnen zu drohen, ihre Gewerkschaft nicht zu gründen. Hier erfahren Sie, wie Sie erkennen, wann Ihr Chef möglicherweise gegen das Gesetz verstößt, und was Sie tun können, um dies zu verhindern.“


 

Ähnlich ging die IG Metall bei Tesla In Brandenburg in die Offensive und konnte vermelden „IG Metall ist drin bei Tesla“ : „Mehr als Tausend Beschäftigte haben sich bei einer Blitz-Aktion zur IG Metall bekannt. Sie trugen offen Sticker auf ihrer Arbeitskleidung: „Gemeinsam für sichere und gerechte Arbeit bei Tesla“.“ Der Kampf geht jetzt erst richtig los.

Kolleg:innen des Mercedes Werks Stuttgart Untertürkheim berichten ausführlich von den Streiks jenseits des Atlantiks und gratulieren zum Erfolg gegen die Big three. Sie zitieren den UAW Vorsitzenden Fain: „Wir haben den Konzernen, der amerikanischen Öffentlichkeit und der ganzen Welt gezeigt, dass die Arbeiterklasse nicht erledigt ist. Wir haben gerade erst angefangen.[5]https://acrobat.adobe.com/id/urn:aaid:sc:EU:c147b4d0-6641-4ba0-9859-fc5f8adb907d

Die US Kolleg:innen haben Zeichen gesetzt. Entschlossen Kämpfen, Siegen, Anfeuern, Organisieren! Zeichen auch für den Standort Deutschland. Um sich international nicht mehr gegeneinander ausspielen zu lassen und auch auf Konzernebene zusammenzuschliessen. „Unser Standort heisst Solidarität.“ Damit können wir alle nur gewinnen!

Auch zum Thema: US Gewerkschaften brechen ihr Schweigen zu Palästina! 

Fotos und Videos UAW, wir danken für die Publikationsrechte!

Die Gewerkschaften in den USA brechen ihr Schweigen zu Palästina

Die Gewerkschaften in den USA brechen ihr Schweigen zu Palästina und setzen sich an die Spitze einer internationalen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die sowohl der Zusammenarbeitspolitik mit dem eigenen Kapital die Stirn bietet als auch der Unterstützung für dessen Kriegs- und imperialen Hegemoniekurs zunehmend eine Absage erteilt. Einzelne Gewerkschaften verschiedener Länder gehen weit über die Forderung nach Waffenstillstand hinaus, greifen zu Boykottmassnahmen oder fordern wie die französische CGT, was in Deutschland die Staatsräson auf den Plan rufen würde, massiv Sanktionen gegen Isreal. Die Gewerkschaftsbewegung wird zum gewichtigen Teil einer internationalistischen Friedensbewegung.

Letzte Woche forderte schließlich auch die Automobilarbeitergewerkschaft UAW als größte Gewerkschaft in den Vereinigten Staaten einen Waffenstillstand und schloss sich damit anderen fortschrittlichen Gewerkschaften an. Der folgende Beitrag in eigener Übersetzung. (Peter Vlatten)

Die Gewerkschaften in den USA brechen ihr Schweigen zu Palästina

Von Natalia Marques, 5.12.23

Letzte Woche schloss sich eine der größten Gewerkschaften der Vereinigten Staaten der Palästina-Solidaritätsbewegung an und forderte einen Waffenstillstand in Gaza. Die United Auto Workers (UAW) ist mit 400.000 aktiven Mitgliedern und 580.000 pensionierten Mitgliedern in den Vereinigten Staaten, Kanada und Puerto Rico die bisher größte Gewerkschaft in den USA, die diese Haltung vertritt.

Die UAW hat sich mehreren Gewerkschaften angeschlossen und einen Waffenstillstand gefordert, allen voran die United Electrical, Radio and Machine Workers of America (UE), die bereits im Oktober dazu beigetragen hat, den Aufruf zu einem Waffenstillstand innerhalb der Gewerkschaften zu initiieren. Bisher haben sich viele Gewerkschaften und Gewerkschaftslokale dem Aufruf der UE angeschlossen, darunter die UAW, mehrere Lehrergewerkschaften, darunter die Lehrergewerkschaften Boston und Chicago, sowie die Local 3000 der United Food and Commercial Workers (UFCW).

Lies auch "US Gewerkschaften machen erneut Furore" 

„Wir können unseren Weg zum Frieden nicht bombardieren“, heißt es in der von der UE initiierten Erklärung. „Die Arbeiterbewegung ist an der Reihe, unserer Stimme Gehör zu verschaffen und einen Waffenstillstand zu fordern. Gemeinsam können wir für Frieden, Gerechtigkeit und eine bessere Zukunft für arbeitende Menschen überall eintreten.“

Einige Gewerkschaften, wie etwa die United Educators of San Francisco, haben nicht nur einen Waffenstillstand, sondern auch ein Ende der US-Hilfe für Israel gefordert. „UESF bekräftigt, dass das Ziel eines Waffenstillstands darin besteht, der Tötung unschuldiger Zivilisten und dem Leiden und Trauma der Menschen in Gaza ein Ende zu setzen“, schrieb die Gewerkschaft in einer im November veröffentlichten Erklärung.

„Der Aufruf zu einem Waffenstillstand in Israel und Palästina“, wie UAW-Präsident Shawn Fain es ausdrückte, könnte im Vergleich zu den Standpunkten der Gewerkschaften in anderen Ländern wie eine milde Forderung wirken.

Transportgewerkschaften in Europa haben Maßnahmen ergriffen, um Waffenlieferungen nach Israel zu blockieren, indische Gewerkschaften haben israelische Aktionen als „Völkermörder“ bezeichnet und die Bemühungen ihrer Regierung verurteilt, indische Arbeiter nach Israel zu schicken, und eine der größten Industriegewerkschaften auf dem afrikanischen Kontinent hat Die National Metalworkers Unions of South Africa (NUMSA) verteidigte das Recht der Palästinenser, sich der Besatzung zu widersetzen. „Wenn Israel, der Unterdrücker, die Unterdrückten brutal behandelt, sie aus dem Land vertreibt, sie wahllos verstümmelt und tötet und sie jahrzehntelang ihrer Würde beraubt, ist es unvermeidlich, dass es Gegengewalt seitens der Unterdrückten geben wird. Gerechtigkeit ist der einzige Weg zum Frieden“, schrieb die NUMSA am 13. Oktober.

Siehe auch Aufruf der internationalen Transportarbeitergewerkschaften

Und: "US Gewerkschaften machten Furore" 

Bruch mit dem Konsens der Demokratischen Partei

Im Kontext der Vereinigten Staaten ist die Haltung der UAW jedoch insofern bemerkenswert, als sie völlig mit der jahrzehntelangen Tradition der US-Arbeiter bricht, sich an die von der Demokratischen Partei vorgegebene Linie zu halten. Die Gewerkschaft forderte nicht nur einen Waffenstillstand, sondern kündigte auch die Gründung einer „Arbeitsgruppe für Desinvestition und gerechten Übergang“ an, „um die Geschichte Israels und Palästinas und die wirtschaftlichen Verbindungen unserer Gewerkschaft zum Konflikt zu untersuchen und zu untersuchen, wie wir einen gerechten Übergang für Israel und Palästina schaffen können.“ US-Arbeiter vom Krieg zum Frieden.“ Dies deutet auf die Bereitschaft der Gewerkschaftsführung hin, mit dem Rückzug aus Israel zu beginnen.

Die Position der Gewerkschaft zeigt auch die neue Bereitschaft einiger der prominentesten Arbeiterstimmen, vom Konsens der Demokratischen Partei zu brechen. Die Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten unterstützen seit Jahren treu die Demokraten, die, obwohl sie eine der beiden großen Parteien in den USA sind, die sich einer etwas progressiveren Politik zuwenden, es versäumt haben, arbeitnehmerfreundliche Maßnahmen wie einen Mindestlohn von 15 US-Dollar. zu unterstützen und allgemeine Gesundheitsversorgung. In der Wahlsaison 2020 wurden gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer massenhaft für den etablierten Kandidaten Joe Biden eingesetzt. Jetzt, drei Jahre später, ist es offensichtlich, dass Bidens Präsident einen enormen Rückgang des Lebensstandards der US-Arbeiter, beispielsweise einen enormen Rückgang der Lebenserwartung, herbeigeführt hat.

Das Establishment der Demokratischen Partei hat die Waffenstillstandsforderung entschieden verurteilt. Die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, bezeichnete die Forderungen nach einem Waffenstillstand von Progressiven innerhalb ihrer eigenen Partei als „abstoßend“ und „schändlich“. Stattdessen haben demokratische Führer Israel bei jedem Massaker verteidigt, das zu fast 16.000 Toten in Gaza geführt hat.

John Kirby, Koordinator des Nationalen Sicherheitsrates für strategische Kommunikation, weigerte sich, die israelischen Aktionen als „Völkermord“ zu bezeichnen, und sagte: „Israel versucht nicht, das palästinensische Volk von der Landkarte zu tilgen. Israel versucht nicht, Gaza von der Landkarte zu tilgen. Israel versucht, sich gegen eine völkermörderische terroristische Bedrohung zu verteidigen.“

In der Zwischenzeit haben mehrere israelische Beamte und Politiker in Bezug auf Gaza offen genozidale Rhetorik eingesetzt. Likud-Mitglied Moshe Feiglin forderte die vollständige Zerstörung von Gaza. „Es gibt eine einzige Lösung: Gaza vollständig zu zerstören, bevor man dort einmarschiert. Ich meine Zerstörung wie in Dresden und Hiroshima, ohne Atomwaffen“, sagte er. Mehrere Politiker haben eine Wiederholung der Nakba gefordert. Tage nach dem 7. Oktober bezeichnete der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant die Palästinenser als „menschliche Tiere“ und fügte hinzu: „Wir werden alles beseitigen – sie werden es bereuen.“

Die UAW ist unter der neuen Führung dem progressiven Fain, die 2023 bei der ersten Direktwahl in der Geschichte der Gewerkschaft die Präsidentschaft gewann, in vielerlei Hinsicht von der etablierten politischen Norm in der US-Arbeiterbewegung abgewichen. Die UAW hat Biden für die Präsidentschaftswahl 2024 noch nicht unterstützt. Fain sagte, die Gewerkschaft erwarte „Taten, keine Worte“.

„Unsere Unterstützung wird verdient sein. Wir haben das sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, egal welcher Politiker“, sagte Fain mitten im Streikkampf der UAW gegen die drei größten Autohersteller des Landes.

„Ich bin stolz darauf, dass die UAW International Union einen Waffenstillstand in Israel und Palästina fordert“, sagte Fain über den Beitritt der UAW zur Waffenstillstandsbewegung. „Von der Bekämpfung des Faschismus im Zweiten Weltkrieg bis zur Mobilisierung gegen die Apartheid in Südafrika und den CONTRA-Krieg hat sich die UAW weltweit konsequent für Gerechtigkeit eingesetzt.“

Peoples Dispatch, 5.12.23, wir danken für die Publikationsrechte

Titelfoto: UAW, Text Peter Vlatten

Hat Realpolitik in der Ukraine eine Chance?

Nicht nur westliche Einflussnahme, auch der sehr spezielle ukrainische Nationalismus steht trotz des offenkundigen Scheiterns der ukrainischen Gegenoffensive einer Waffenstillstands-Vereinbarung mit Russland im Weg. Ein Blick in seine Geschichte.

Von Richard Kallok

Das Foto oben wurde am 25.11. an einem provisorischen Mahnmal in der Berliner Strasse „Unter den Linden“ aufgenommen. Bild: Richard Kallok

Ein schöner Einstieg in die Wegmarken der ukrainischen Geschichte für alle, die nicht Slawistik studiert haben oder mit der osteuropäischen Geschichte eng vertraut sind. (Jochen Gester)

Nach dem ehemaligen Präsidentenberater Arestowytsch (Arestovich) und dem Oberbefehlshaber Saluschnyj (Saluschni) hatte zuletzt sogar der Fraktionsvorsitzende von Selenskijs „Diener“-Partei, Arakhmaia, zu erkennen gegeben, dass ein militärischer Sieg über Russland unrealistisch ist. Aber warum erscheint trotz des fortdauernden ökonomischen und demographischen Niedergangs der Ukraine ein Verzicht auf die militärische Rückeroberung verlorener Gebiete, durchaus bei Aufrechterhaltung eigener völkerrechtlicher Ansprüche, kaum durchsetzbar?  Die Geschichte des ukrainischen Nationalismus liefert Erklärungen.

Eine historische Trägerschicht für eine Nationalstaatsidee, wie in Polen den Kleinadel oder in Westeuropa das früh entwickelte Bürgertum, hat es in der Ukraine bis ins 19. Jahrhundert nicht gegeben. Erst nachdem Zar Alexander II 1876 die öffentliche Nutzung der ukrainischen Sprache in seinem Herrschaftsgebiet verboten hatte, konzentrierte sich eine dünne Schicht volkskundlich und sozialkritisch orientierter Intellektueller und Kleriker ukrainischer Sprache in dem zu Österreich gehörenden Ost-Galizien. Der Kiew-Poltawa-Dialekt konnte sich zu einer ukrainischen Standardsprache entwickeln und die Idee eines ukrainischen Nationalstaats Verbreitung finden. Eine politische Organisierung des jungen ukrainischen Nationalismus fand 1900 mit der Gründung der Ukrainischen Nationaldemokratischen Partei statt.

Am Ende des 1. Weltkriegs und nach der Auflösung der Kaiserreiche Russlands und Österreich-Ungarns gab es mehrere Versuche einer ukrainischen Staatsgründung, von einem noch von der deutschen Reichswehr angeleiteten „Hetmanat“ bis hin zu einer vom Machthaber des wieder erstandenen Polens, Josef Pilsudski, unterstützten „Ukrainischen Volksrepublik“. Aber in den Wirren des russischen Bürgerkriegs und später des Krieges um Einflusszonen zwischen dem bolschewistischen Russland und Polen konnte sich kein ukrainisches Regime längerfristig halten. Als der sowjetisch-polnische Krieg 1921 mit dem Friedensvertrag von Riga und der Aufteilung des Gebiets der heutigen Ukraine endete, war klar, dass es unter den ab 1918 neu- oder wieder errichteten Staaten einen ukrainischen Staat nicht geben wird.

Bei den westlichen Siegermächten des 1. Weltkriegs hatte sich die ukrainische Nationalbewegung zuvor bereits durch Judenmassaker in der kurzen Volksrepublik-Zeit diskreditiert. Die Bevölkerung in dem für eine ukrainische Staatsgründung in Frage kommenden Raum galt zudem als amorph. Die Städte im Westen waren mehrheitlich polnisch-jüdisch, die Bevölkerung in der Zentralukraine vielfach russifiziert, die im Osten originär russisch. Im 14-Punkte-Programm von US-Präsident Wilson für eine europäische Nachkriegsordnung kam ein ukrainischer Staat nicht vor. Der Völkerbund sanktionierte 1923 die Aufteilung des Landes durch Polen und die Sowjetunion.

In der östlich des Flusses Zbrucz als Teil der Sowjetunion entstandenen Ukrainischen Sowjetrepublik blühten unter den Vorgaben der Leninschen Nationalitätenpolitik die ukrainische Sprache und Kultur auf. Mit der „Korenizacija“ (= Einwurzelung) sollte der Sowjetsozialismus in den klein-bäuerlichen Schichten wie in der ukrainisch-patriotischen Intelligenz verankert werden. Stalin setzte dem in den 30er Jahren ein Ende.

Bibel des ukrainischen Nationalismus

Die schon zuvor vor allem in der West-Ukraine verankerte ukrainische Nationalbewegung sah nach dem Trauma der gescheiterten Staatsgründung deshalb vor allem in der polnischen Republik ihren Hauptgegner. Polnische Feudalherren und noch mehr ihre jüdischen Verwalter und Steuereintreiber hatten über Jahrhunderte den Hass der ost-slawischen Bauern-Bevölkerung und der auf Selbstständigkeit bedachten Kosaken auf sich gezogen. Im neuen Polen konnten sich die Ukrainer zwar kulturell betätigen und politisch organisieren, so gab es ukrainische Schulen und eine ukrainische Partei saß im Warschauer Sejm. Aber Führungspositionen waren weitgehend von Polen besetzt.

Unter den Ukrainern verfestigte sich die Vorstellung, dass ihre Benachteiligung nur durch einen eigenen Staat in einem geschlossen-ukrainischen Siedlungsgebiet ein Ende finden würde. Die ukrainischen Nationalisten agierten dabei in den 20er Jahren in einem europäischen Umfeld, das vom Aufstieg autoritärer und faschistischer Regime und Bewegungen gekennzeichnet war. Das 1926 erschienene, eng an faschistische Ideologie angelehnte Buch „Nationalismus“ des Journalisten Dmytro Doncov wurde so zu einer Art Bibel des ukrainischen Nationalismus.

Doncov, dem heute in Kiew eine Gedenkplatte gewidmet ist, propagierte eine darwinistische Theorie vom unerbittlichen Existenzkampf der Völker. Nur die starken und entschlossenen Völker würden sich unter Anleitung eines Führers am Ende durchsetzen. Doncov, der aus der Ost-Ukraine stammte, formulierte den Anspruch der ukrainischen Nationalbewegung auf alle im zaristischen Russland mit dem Begriff „Ukraine“ in Verbindung gebrachten Gebiete als Teil eines zukünftigen ukrainischen Staates, unabhängig von der Sprache und den politischen Vorstellungen und Erwartungen der ansässigen Bevölkerung.

Beim Gründungskongress der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) 1929 in Wien wurde ein u. a. von Doncov entwickelter Dekalog zu den „10 Geboten“ des ukrainischen Nationalismus. In Punkt 1 forderte der Dekalog von jedem Nationalisten, erfolgreich eine unabhängige Ukraine zu erkämpfen oder im Kampf dafür zu sterben. Der Punkt 7 verlangte, „nicht vor dem größten Verbrechen zurück zu schrecken, wenn es die gute Sache erfordert“. Die Umsetzung in die Praxis stellten Anschläge auf polnische Amtsträger wie kooperationsbereite Ukrainer, „Verräter“, dar.

Der polnische Staat reagierte ab 1930 und insbesondere nach dem OUN-Attentat auf Innenminister Pieracki 1934 mit zunehmenden Repressionen gegen ukrainische Einrichtungen. Trotz oder wegen der Verfolgung konnte die OUN in den wirtschaftlich zurückgebliebenen Kernländern der West-Ukraine, Wolhynien und Ost-Galizien, aber erfolgreich gegen Polen und Juden agitieren. Ein ukrainischer Staat ohne „Fremde“ wurde zur Heilsbotschaft. Selbst in ukrainisch-polnisch gemischte Familien zog Misstrauen ein.

Nazi-Deutschland wurde Hoffnungsträger für die Nationalisten der Ukraine

Nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 wurde Deutschland für die Nationalisten der Ukraine noch mehr als zuvor zum Hoffnungsträger. Nach der polnischen Kapitulation 1939 kam es schnell zu einer engen Kooperation zwischen den gerade aus polnischen Gefängnissen frei gekommenen ukrainischen Nationalisten unter Führung von Stepan Bandera und deutschen Stellen. Mit der Ausrufung der von Hitler unerwünschten „Unabhängigen Ukraine“ am 30.6.1941 in Lemberg erlitt diese Zusammenarbeit zwar eine kurzzeitige Eintrübung. Aber auch die Internierung Banderas als „Ehrenhäftling“ im Zellentrakt des KZ Sachsenhausen stand der Beteiligung der ukrainischen Hilfspolizei wie ukrainischer Untereinheiten von Wehrmacht und SS an Massenerschießungen von Juden nichts im Wege. Und als sich ein Teil der ukrainischen Kollaborateure dem direkten deutschen Einfluss durch die Gründung der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA) entzog, folgten der Beseitigung der Juden 1943/44 grausame Massaker an ca. 80.000 polnischen Dorf-Bewohnern.

Die politischen Vorgaben Doncovs ziehen sich wie ein roter Faden durch die Aktionen von OUN und UPA. Eine „Ukraine, rein wie ein Glas Wasser“ sollte die Basis für einen neuen Staatsgründungs-Versuch nach dem Krieg sein. Bekanntlich kam es anders. Die Sowjetunion dehnte ihren direkten Machtbereich auf die westlichen Teile der heutigen Ukraine aus. Die UPA kämpfte nach 1945 in der Ukrainischen SSR wie im polnisch-slowakischen Karpaten-Grenzland weiter. Sie wurde zerschlagen. Die Ukrainer und die ruthenische Bergbevölkerung Polens wurden in die ehemals deutschen Gebiete umgesiedelt

Nach 1991: Ungewöhnlichen Polarität zwischen dem östlichen und dem westlichen Landesteil

In der 1991 entstandenen unabhängigen Ukraine knüpften die radikalen Nationalisten an die Vorstellungen der Zwischenkriegs- und Kriegszeit an. Der neue Staat war aber trotz partieller Bevölkerungs-Durchmischung in Folge der sowjetischen Industrialisierungspolitik von einer ungewöhnlichen Polarität zwischen dem östlichen und dem westlichen Landesteil geprägt. Diese gründete nicht nur in den unterschiedlichen Landessprachen, sondern auch im konträren politisch-historischen Selbstverständnis der jeweiligen Bewohner.

Mit der vom Westen unterstützten Präsidentschaft Juschtschenkos wurde ab 2005 bis zu dessen Abwahl 2010 das Geschichtsbild des radikalen Nationalismus zu einer Art staatlicher Historiografie. Bandera und der an Judenmassakern beteiligte stellvertretende Befehlshaber des Bataillons „Nachtigall“ und des SS-Schutzmannschafts-Bataillons 201, Roman Schuchewytsch, wurden zu Nationalhelden gekürt, obwohl sie außerhalb der westlichen Bezirke von vielen als Kriegsverbrecher gesehen wurden und werden.

Nach dem Machtwechsel 2014 bekam der Kampf der ukrainischen Nationalisten um eine „ethnisch reine“ Ukraine neue Intensität. Dem Russischen, das rund 40% der Gesamtbevölkerung als Umgangssprache nutzten und das im Osten und Süden vorherrschend war, wurde der Charakter einer Regionalsprache aberkannt. Ukrainisch wurde alleinige Amtssprache. Ein 2018 von der Kiewer Rada verabschiedetes Sprachengesetz regelte praktisch die Verdrängung des Russischen aus Medien und Schulen. Der radikale Nationalismus bestimmte den politischen Diskurs und ließ ein Klima der Angst entstehen. Bei der Abstimmung über die Umbenennung einer großen Straße in „Roman-Schuchewytsch-Prospekt“ gab es 2017 in der Kiewer Rada schon keine Gegenstimmen mehr, obwohl viele Bürger und Kommunalpolitiker gegen die Ehrung des Nazi-Kollaborateurs waren. Die Gegner der Umbenennung waren zu Hause geblieben oder enthielten sich.

Als Rückschlag mussten die inzwischen in vielen Parteien und Organisationen vertretenen radikalen Nationalisten die Präsidentenwahl 2019 empfinden. Mit 73,2% konnte sich der als „Versöhnungs-Präsident“ angetretene, jüdisch-stämmige Wolodymyr Selenskij in der Stichwahl gegen den nur in der West-Ukraine mehrheitlich unterstützten Amtsinhaber Poroschenko durchsetzen. Offenbar um dem Vorwurf mangelnder nationaler Zuverlässigkeit aufgrund seiner Abstammung zu entgehen, blieb Selenskyij nach seiner Wahl den radikalen Nationalisten aber nichts schuldig. Ehrerbietungen gegenüber den Grusel-Gestalten des ukrainischen Nationalismus in Form von Denkmälern, Straßen-Widmungen u. ä. häuften sich.

Nach dem russischen Angriff im Februar 2022 brachen für den radikalen Nationalismus alle Dämme. Ein ukrainischer Unterhändler bei den Verhandlungen mit Russland über eine Friedensregelung wurde im März 22 erschossen. Die Benutzung der russischen Sprache in der Öffentlichkeit wurde zum Verdachtsfall für Landesverrat. Selbst loyale Amtsträger wie der Bürgermeister von Charkiw, Terechow, und der Vize-Bürgermeister von Dnipro, Lysenko, wurden wegen Nutzung des Russischen im Kontakt mit ihren russisch-sprachigen Bürgern verklagt. Im Oktober 2022 erklärte der einflussreiche Chef des Sicherheitsrats, Danilov, kategorisch, dass „das Russische verschwinden muss“. Selenskij unterzeichnete im gleichen Monat ein Dekret, das jede Verhandlung mit Russlands Staatschef Putin unter Strafe stellt.

Im Westen gilt die nationalistische Radikalisierung derweil offenbar als Garantie für die Fortführung des Krieges. Die rücksichtslose Ukrainisierung des Landes wird gestützt. In der Regel nimmt man auch die positive Anknüpfung des ukrainischen Nationalismus an die Zeit der Kollaboration mit Nazi-Deutschland schweigend hin, wobei ausgerechnet deutsche Politiker durch ein hohes Maß an Geschichtsvergessenheit auffallen.

Erstveröffentlicht im Overton Magazin
https://overton-magazin.de/top-story/hat-realpolitik-in-der-ukraine-eine-chance/

Wir danken für das Publikationsrecht.

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