Fünf Kriege in einem

Der Ukraine-Krieg als Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts.

Von Patrik Baab

Bild: Pixabay. War-7142272_1280.jpg.

Die Ukraine wird derzeit im größten europäischen Krieg seit Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört. Das Land hat einen großen Teil seines Territoriums verloren, es wird wahrscheinlich noch mehr verlieren, seine Wirtschaft liegt in Trümmern. Betrug die Zahl der Einwohner 1991 noch 52 Millionen, so ist die Ukraine inzwischen bei 28 Mio. Einwohnern angekommen. Das Land hat hunderttausende Opfer zu beklagen, und natürlich gibt es Millionen Flüchtlinge und Binnen-Flüchtlinge.

Die Zahl der Gefallenen und Schwerverletzten hat mit dem 01. September 2024 auf ukrainischer Seite die Millionengrenze überschritten. Die tatsächlichen Zahlen sind auf beiden Seiten geheim. Aber man kann aus der Auswertung der Todesanzeigen und Nachrufe entsprechende Rückschlüsse ziehen. Danach sind inzwischen mehr als 500.000 ukrainische Soldaten gefallen. Nicht ganz so hoch sind die Zahlen auf russischer Seite. Das regierungskritische Portal Mediazona kam am 13. September 2024 auf 69.059 Gefallene, wobei noch 19.547 Söldner der Privaten Militär-Firma Wagner dazukommen, die allein im Fleischwolf von Bachmut getötet wurden Dies ergibt eine Todeszahl von etwa 90.000.

Die Kursk-Offensive, die vor vier Wochen begann mit der Planung der NATO, entpuppt sich als Sackgasse für die Amerikaner und ihre Satrapen. Die Ukraine hat mit dem Vorstoß bei versucht, eine neue Front zu eröffnen, um die Russen zu zwingen, Truppen vor Donezk abzuziehen und damit den russischen Vormarsch zu verlangsamen. Zweitens ging es um ein Faustpfand für mögliche Verhandlungen. Drittens wollte sie einen PR-Erfolg erzielen, um neue Unterstützung zu mobilisieren. Viertens geht es um den Versuch, mit einem Va-Banque-Spiel den Westen zu einer direkten Beteiligung zu zwingen, damit die Front im Donbass nicht zusammenbricht. Fünftens, so General a.D. Harald Kujat, zielte die ukrainische Offensive darauf ab, das Kernkraftwerk Kursk einzunehmen und damit ein nukleares Erpressungspotential zu gewinnen. Dieser Versuch ist gescheitert.

Die chaotischen Umbesetzungen des Kiewer Regimes in dieser Woche zeugen von Verzweiflung, ebenso wie die allmählich zusammenbrechenden ukrainischen Verteidigungsanlagen um Donezk. Die amerikanischen und europäischen Vorstellungen, Russland durch den Stellvertreterkrieg in der Ukraine eine strategische Niederlage beizubringen, wirken nun wie Asche im Munde westlicher Politiker. Der Stellvertreterkrieg des NATO-Westens in der Ukraine gegen Russland droht in einem Desaster zu enden.

Die Kampfmoral der ukrainischen Truppen ist am Boden. Allein in den ersten vier Monaten des Jahres wurden 19.000 Verfahren wegen Fahnenflucht eingeleitet. Prof. Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr zufolge droht der Ukraine beim Scheitern des Angriffes auf die Region Kursk die Kapitulation.

Susan Watkins von der britischen Leeds Becket University hat in der September-Oktober-Ausgabe 2022 des „New Left Review“ einen Artikel mit dem Titel „Five Wars in One“ geschrieben. Darin behandelt sie die Dimensionen des Ukraine-Krieges. Diese Überlegungen haben mich inspiriert, über die fünf Kriege in der Ukraine nachzudenken. Aber ich gliedere sie anders, als es Susan Watkins getan hat:

  1. Der ukrainische Bürgerkrieg nach dem Staatsstreich auf dem Maidan
  2. Der ukrainisch-russische Bruderkrieg
  3. Der geostrategische Krieg um die Vormachtstellung der USA
  4. Der globale Wirtschaftskrieg und der Selbstmord Europas
  5. Der Krieg gegen die Bevölkerung der westlichen Industrienationen
Der ukrainische Bürgerkrieg nach dem Staatsstreich auf dem Maidan

Westliche Beobachter sehen die Ereignisse auf dem Maidan in Kiew im Winter 2013/2014 als ein Scheideweg zwischen einer Diktatur nach dem Vorbild von Belarus oder dem Sturz des Präsidenten Janukowitsch. Sie betrachten den Maidan als Revolution, als Transformation von unten, die zu einer Demokratie mit mancherlei Mängeln geführt habe, in der aber „volle Meinungsfreiheit herrscht“.

Über die tatsächlichen Ereignisse schreibe ich in meinem Buch „Auf beiden Seiten der Front“.  Zusammen mit Régis Le Sommier gehöre ich zu den wenigen, die auf beiden Seiten des Krieges recherchiert haben. In der Folge wurde ich von T-Online als Wahlbeobachter Putins bei den Referenden im Donbass im September 2022 hingestellt, der NDR wollte arbeitsrechtliche Schritte einleiten, und der ukrainische Geheimdienst setzte mich auf die Todesliste „Mirotworez“.

Das neue Buch von Ivan Katchanovski von der Universität Ottawa kommt aufgrund gründlicher Auswertung der Obduktionsberichte, der Gerichtsprotokolle, der Augenzeugenberichte und der ballistischen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die Morde auf dem Maidan eine Inszenierung ukrainischer Faschisten und westlicher Regierungen waren, um eine demokratisch gewählte Regierung zu stürzen und einen pro-westlichen Regimewechsel herbeizuführen. Er sieht im Geschehen auf dem Maidan 2014 die Ursache für den Beginn des Bürgerkriegs im Donbass, für die russischen Interventionen auf der Krim und im Donbass, für den Anschluss der Krim an Russland und die Eskalation des Konflikts zwischen Russland und dem Westen mit „dem illegalen Einmarsch und dem Krieg mit der Ukraine 2022.“

Demonstranten wurden in sog. Tech Camps von US-Nichtregierungsorganisationen und der US-Botschaft auf die Organisation von Massenprotesten über die Sozialen Medien vorbereitet. Nichtregierungsorganisationen wurden von USAID, und US-Stiftungen sowie polnischen und litauischen Diplomaten bezahlt. Die Demonstranten erhielten Thermo-Unterwäsche, Essen, Zelte, Heizkörper, Tischtennis-Platten. Sie wurden im 14-tägigen Wechsel auf den Maidan gebracht und wieder abgelöst. Für ihre Anwesenheit erhielten sie Geld in Höhe des doppelten Durchschnittslohns. Die Waffen auf dem Maidan stammten aus der Plünderung polizeilicher Waffenlager in der West-Ukraine, namentlich Lwow und Iwano-Frankiwsk. Der US-Historiker Nikolai N. Petro hat herausgefunden, dass Rechtsextremisten und Faschisten in der Westukraine die Entfesselung eines Bürgerkriegs planten, falls der Putsch auf dem Maidan nicht zum Sturz des Präsidenten Janukowitsch führen sollte.

Wie stark die Unterstützung des Westens für die Putschisten auf dem Maidan war, belegt nicht nur das abgehörte und am 04.02.2014 veröffentliche Telefonat zwischen Victoria J. Nuland, Staatssekretärin für Europa und Eurasien im US-Außenministerium, und dem Botschafter der USA in der Ukraine Geoffrey R. Pyatt. Das Gespräch machte deutlich, dass Washington auf einen Umsturz hinarbeitete und den Oppositionsführer Jazenjuk an die Macht bringen wollte. Bereits am 13. Dezember 2013 erklärte Nuland vor der U.S.-Ukraine-Stiftung, die USA hätten mehr als 5 Mrd. Dollar in die Kräfte des Umsturzes investiert.

Nach russischen Angaben flossen dem Maidan wöchentlich allein an direkten Geldmitteln 20 Mio. Dollar zu. Dabei waren USA und EU kontinuierlich in Kontakt mit Rechtsextremisten und Faschisten auf dem Maidan. Ivan Katchanovski berichtet, dass wie auf dem Basar die Zahl der Morde verhandelt worden sei, die man für erforderlich hielt, damit westliche Regierungen Präsident Janukowitsch zum Rücktritt zwingen. Man einigte sich auf etwa 100.

Die Welle der Gewalt auf dem Maidan, der gewaltsame Umsturz und marodierende ultranationalistische und rechtsextremistische Horden in der gesamten Ukraine führten dazu, dass die russischstämmige Bevölkerung in der Ostukraine zusammen mit der örtlichen Polizei und übergelaufenen ukrainischen Soldaten Selbstverteidigungs-Milizen aufbaute und eigene staatliche Strukturen schuf. Bereits im April startete die Zentralregierung in Kiew die sog. Anti-Terror-Operation gegen die Aufständischen im Donbass. Bis Ende 2021 waren nach Angaben internationaler Organisationen dabei mehr als 14.000 Menschen getötet worden, darunter 3.400 Zivilisten.

Damit begann die erste Phase des Ukraine-Krieges – die Bürgerkriegs-Phase. Bereits Mitte März 2014 waren auf ukrainischer Seite US-Söldner der Sicherheitsfirma Academi, vormals Blackwater, im Donbass aktiv. Etwa einen Monat später schickte der russische Generalstab ebenfalls Söldner, die den Aufständischen beispringen sollten. Wagner wurde am 1. Mai 2014 in Donezk gegründet.

Im Mai 2014 führten die Aufständischen in den von ihnen beherrschten Gebieten Referenden über eine weitgehende Unabhängigkeit bzw. die Selbständigkeit durch. Putin hatte davon abgeraten. Am 07. Und am 27. Mai 2014 riefen die Separatisten in Donezk und Luhansk eigene Volksrepubliken aus. Solche Sezessionen sind völkerrechtlich umstritten, aber durch die Charta der Vereinten Nationen und durch das Völkerrecht grundsätzlich auch gegen den Willen des Mutterlandes rechtlich möglich. So nahm der Internationale Gerichtshof in Den Haag am 22.07.2010 zur einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo Stellung: Der Präsident erklärte: „Das internationale Recht kennt kein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen.“

Putin erkannte sie bis Februar 2022 nicht an. Allerdings unterstützte Russland die Separatisten logistisch, wirtschaftlich und mit Waffenlieferungen. Das Ausmaß direkter militärischer Beteiligung ist nicht geklärt. Der Militär-Analyst Jacques Baud geht davon aus, dass es kein Eingreifen regulärer russischer Verbände gegeben habe.

Umgekehrt rüstete die NATO die Ukraine seit dem Putsch auf dem Maidan massiv auf. Durch gemeinsame Militärmanöver und US-Ausbildern sollte möglichst schnell „Inter-Operabilität“ erreicht werden. Zum Sinn dieser Maßnahmen hier ein paar Stimmen:

Pierre de Gaulle, Enkel des französischen Präsidenten General Charles de Gaulle: Der Krieg „wurde durch den Willen der Amerikaner und der NATO ausgelöst und er wird von der Europäischen Kommission weitgehend aufrechterhalten.“

Alain Juillet, Chef des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE unter Päsident Jacques Chirac, sagt, die Amerikaner hätten den krieg provoziert: „Ganz klar.“ Seit 2014 hätten sie alles dafür getan, dass Russland in den Krieg schlittert. Die NATO habe sich mit der Ukraine zusammengetan, „um Krieg gegen Russland zu führen. Ohne die NATO wäre die Ukraine tot.“

Günter Verheugen, langjähriger EU-Kommissar und 2004-2010 Vizepräsident der Europäischen Kommission: Im Ukraine-Krieg „geht es nicht darum, was für die Ukraine das Beste ist. Es geht vielmehr um die strategische Schwächung Russlands.“

Bruderkrieg: der ukrainisch-russische Krieg

Am 21.02.2022 hat Russland die neu entstandenen Staaten DNR und LNR anerkannt. Dabei sah sich Moskau im Einklang mit dem Völkerrecht. Mit anerkannten Staaten können völkerrechtlich verbindliche Verträge abgeschlossen werden, auch über gegenseitige Beistandsverpflichtungen. Damit gab auch Moskau die Abkommen Minsk I und Minsk II auf, die nach Darstellung der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel und des früheren französischen Präsidenten Hollande lediglich dazu gedient hatten, der Ukraine Zeit zur Aufrüstung zu verschaffen.

Der frühere US-Waffeninspektor Oberst a.D. Scott Ritter bewertet: „…die Ukraine und ihre westlichen Partner kauften einfach Zeit, bis die NATO ein ukrainisches Militär aufbauen konnte, das den Donbass in seiner Gänze einnehmen und Russland von der Krim vertreiben konnte.“

Allerdings gibt es auch direkte Ursachen für den Beginn der zweiten Phase des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022. Die ukrainische Truppenstärke im Donbass betrug 2015 121.500 Mann. Bis Februar 2022 wuchs die Zahl der Soldaten auf 209.000 Mann. Mit den Reservisten hatte die Ukraine 1.198.600 Mann unter Waffen. Am 20.09.2018 stimmte das ukrainische Parlament Verfassungsänderungen zu, die den Beitritt des Landes zu NATO und EU zum wichtigsten außenpolitischen Ziel machen sollte. Am 07.02.2019 wurde der NATO-Beitritt in der Verfassung verankert. Am 24. März 2021 unterschrieb Präsident Selenskij eine neue Militärdoktrin, die Russland zum Hauptfeind erklärte und auf die Rückeroberung der Krim und des Donbass hinauslief. Daraufhin zog auch Russland Streitkräfte an den Grenzen zur Ukraine zusammen.

Am 31.08.2021 schlossen die USA und die Ukraine ein Strategisches Verteidigungsabkommen. Es folgte am 10.11.2021 ein bilaterales Abkommen über strategische Partnerschaft mit einer scharfen antirussischen Stoßrichtung. Am 15.12.2021 startete Moskau einen letzten Versuch zur Verhinderung der Eskalation. Konkret schlug Russland ein Abkommen in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag vor, das vom Prinzip der unteilbaren Sicherheit ausgeht, den Verzicht auf die Nutzung fremder Territorien, um einen Überfall auf die USA oder Russland zu beginnen; Verzicht auf die Durchführung militärischer Handlungen der NATO in der Ukraine, Verzicht auf eine weitere Ausdehnung der NATO nach Osten und Verzicht der NATO auf die Stationierung von Waffen und Militär in jenen Ländern, die das Bündnis nach 1997 aufgenommen hat.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte am 07.09.2023 vor dem Europäischen Parlament, Putin habe im Herbst 2021 einen Vertragsentwurf geschickt, „den sie von der NATO unterzeichnen lassen wollten, den Verzicht auf weitere NATO-Erweiterungen zu versprechen… Und das war eine Voraussetzung dafür, nicht in die Ukraine einzumarschieren. Das haben wir natürlich nicht unterschrieben… Also zog er in den Krieg, um die NATO, noch mehr NATO, in der Nähe seiner Grenzen zu verhindern.“

Entscheidend für den russischen Einmarsch im Februar 2022, so der Politologe John J. Mearsheimer von der Universität Chicago, sind die USA und die NATO. Er schreibt, „dass die USA und ihre Verbündeten den Krieg provoziert haben. Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist und den Krieg begonnen hat. Die Hauptursache des Konflikts ist jedoch die Entscheidung der NATO, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen, was praktisch von allen russischen politischen Führern als existenzielle Bedrohung angesehen wird, die beseitigt werden muss. Die NATO-Erweiterung ist jedoch Teil einer umfassenderen Strategie, die darauf abzielte, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der Grenze zu Russland zu machen… Um dieser Bedrohung zu begegnen, hat Russland am 24. Februar 2022 einen Präventivkrieg begonnen.“

Noch einmal der französische Historiker Emmanuel Todd: Die Ukraine „wurde aufgerüstet, um Russland anzugreifen. Putins Angriff war eine defensive Invasion… Wenn die NATO darauf verzichtet hätte, die Ukraine zu einem Teil ihres militärischen Dispositivs zu machen, hätte es diesen Krieg nicht gegeben.“ Wir haben es also zu tun mit einem Stellvertreter-Krieg, der geostrategische und ökonomische Ursachen hat.

Phönix im Sturzflug: der geostrategische Krieg um die Vormachtstellung der USA

Die eigentlichen Kriegsursachen sehen namhafte Historiker im Niedergang des Westens und der USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen sie noch für 45% der weltweiten Industrieproduktion, heute nur noch für maximal 27%. Im Jahr 2000 wurden noch 66% des Welthandels in Dollar abgewickelt, 2022 waren es nur noch 47%, im ersten Trimester 2023 waren es nur noch 40%. Gleichzeitig sanken die Devisenreserven in Dollar in 20 Jahren von 71% auf 60%. Im Jahr 2022 galten von 224,3 Mio. US-Amerikanern 140 Mio. als arm oder geringverdienend.

Ähnliches gilt für den gesamten Westen: 1980 hatte der Westen einen Anteil an der Weltwirtschaft von 80% und der Rest der Welt trug 20% bei. Heute haben die aufstrebenden Länder einen Anteil an der Weltwirtschaft von knapp 70%, der Westen hat gerade mal noch gut 30%.

Emmanuel Todd: „Falls Russland gewinnt, bricht das imperiale System der Vereinigten Staaten zusammen… Wenn Russland überlebt, den Donbass und die Krim behält, wenn seine Wirtschaft weiterhin funktioniert und es seine Handelsbeziehungen neu gestalten kann, mit China und Indien – dann hat Amerika den Krieg verloren. Und in der Folge wird es seine Alliierten verlieren. Deshalb werden Amerika und die NATO weitermachen… Seine hauptsächliche Ursache ist die Krise des Westens… Der Westen hat seine Werte verloren und befindet sich in einer Spirale der Selbstzerstörung… Russland ist im Begriff, sich als kulturell konservative, in technischer Hinsicht fortschrittliche Großmacht neu zu bestimmen.“

Der norwegische Historiker Glenn Diesen schreibt: „Der Ukraine-Krieg war eine vorhersehbare Konsequenz einer nicht nachhaltigen Weltordnung und wurde ein Schlachtfeld für das Ringen um die künftige Weltordnung zwischen globaler Hegemonie oder einer westfälischen multipolaren Welt. Das Ziel, Russland militärisch, wirtschaftlich oder politisch niederzukämpfen durch eine globale Isolierung ist gescheitert. Die NATO reagierte mit kontinuierlicher Eskalation und Theatralik. Da es eine anerkannte Tatsache ist, dass die Ukraine zunehmend zerstört wurde durch unvorstellbares Leid und ihre militärischen Ziele nicht erreicht wurden, ist die einzige mögliche Konfliktlösung für den Westen, Russlands legitime Sicherheitsinteressen anzuerkennen und so das Sicherheitsdilemma zu entschärfen. Die Schwierigkeiten dabei erwachsen daraus, dass dies die Ära der liberalen Hegemonie beenden würde.“

Inzwischen wird in den Vereinigten Staaten schon offen darüber gesprochen, dass die Europäer die Kosten des Krieges werden bezahlen müssen. Dies wird den Etat der Europäischen Union in einer hohen dreistelligen Milliardenhöhe belasten; und der Krieg ist noch nicht zu Ende. Deutschland ist der größte Netto-Zahler der EU. Damit werden die Kosten des Krieges und die Lasten des Wiederaufbaus beim deutschen Steuerzahler ankommen. Massive Einschnitte im sozialen Bereich werden die Folge sein. Die erforderlichen Milliarden zur Durchfinanzierung von Schulen und Universitäten werden fehlen. Die Qualifikationslücke insbesondere beim akademischen Nachwuchs wird zunehmen. Die Infrastruktur wird schleichend zerfallen. Schon heute sind tausende Brücken in Deutschland marode, es fehlt an Investitionen in Straßen und Schienen. Dies wird die Logistikkosten der Unternehmen erhöhen und die Suche nach gutem Nachwuchs erschweren.

An anderer Stelle bekräftigt Emmanuel Todd seine Auffassung, dass Russland einen „defensiven und präventiven Krieg“ führt: „Dieser Krieg ist… für die Vereinigten Staaten existenziell geworden. Genauso wenig wie Russland können sie sich aus diesem Konflikt zurückziehen, sie können nicht loslassen. Deshalb befinden wir uns jetzt in einem endlosen Krieg, in einer Konfrontation, deren Ergebnis der Zusammenbruch des einen oder des anderen sein muss.“

Der globale Wirtschaftskrieg

Die USA und ihre europäischen Satrapen glaubten, sie könnten Russland mit Wirtschaftssanktionen in die Knie zwingen. Ich erinnere mich noch an den Satz von Annalena Baerbock: Diese Sanktionen werden Russland ruinieren!“ Der Westen hat Auslands-Anlagen der Russischen Föderation im Wert von fast 300 Mrd. Euro eingefroren, größere russische Banken wurden vom Zahlungssystem SWIFT ausgesperrt, russische Unternehmen können keine High-Tech- oder Dual-Use-Produkte im Westen kaufen, Energieunternehmen wie Shell, BP oder Logistikunternehmen wie Maersk haben Russland verlassen.

Inzwischen sind diese Leute recht kleinlaut geworden, nachdem auch deutsche Forschungsinstitute festgestellt haben, dass die Sanktionen zum Bumerang geworden sind. Die Wirtschaftskampagne gegen Russland hat versagt. Sie führte zu steigenden Energie- und Rohstoff- und Nahrungsmittelpreisen im Westen. Mit der Sprengung der Nordstream-Pipeline, die der Rechercheur Seymour Hersh Washington zuordnet, ist für Deutschland die Energiefalle zugeschnappt.

Russlands Wirtschaft ist auf den neuen Märkten Eurasiens und des globalen Südens auf Wachstumskurs. Nur die USA, Kanada, die 27 Mitgliedsstaaten der EU, Japan, Australien, Neuseeland, Norwegen, die Schweiz, die Ukraine, das Vereinigte Königreich, die Bahamas, Südkorea und Taiwan sanktionieren Russland, bei einzelnen Punkten auch die Türkei. Das sind nach meiner Rechnung derzeit 40 Staaten. Den Vereinten Nationen gehören 193 Mitgliedsstaaten an. Die restlichen 153 treiben weiter Handel mit Russland.

Der amerikanische Historiker Nikolai Petro hat darauf hingewiesen, dass die Sanktionen aus zwei Gründen ihre Wirkung verfehlen: Erstens hat Russland seit 2014 Erfahrung im Umgang mit Sanktionen und die binnenwirtschaftliche Resilienz gestärkt. Zweitens bleiben 153 Länder Partnerstaaten Russlands. So gelingt es, die Sanktionen breit zu umgehen. Nicht Russland ist isoliert, sondern der Westen. Der European Council On Foreign Relations fand dafür die Formulierung: „United West, divided from the rest.“

Ende 2022 war Russland Chinas zweitgrößter Lieferant von Rohöl geworden. Indien ist ebenfalls ein wichtiger Öl-Kunde. Das Land produziert lediglich 10% des heimischen Bedarfs. Aber 34% des verbleibenden Restes des indischen Ölverbrauchs kam 2023 aus Russland. Gleichzeitig werden die östlichen Handelsrouten ausgebaut. In den Werften von St. Petersburg werden neue atomgetriebene Eisbrecher gebaut, die den Transport von Öl und Gas nach China und Indien über die Nordroute das ganze Jahr über möglich machen.

Fortschritte macht auch der Ausbau des 7.200 Kilometer langen North-South Transport Corridor (INSTC), der von St. Petersburg zu Häfen im Süd-Iran und weiter nach Mumbai verlaufen wird. Diese Transportrouten umgehen Europa und verkürzen die Standardrouten durch das Mittelmeer und den Suezkanal auf weniger als die Hälfte. Die Transportzeit von Moskau nach Mumbai verkürzt sich damit von 40 bis 60 Tagen auf 25-30 Tage. Die Transportkosten sinken damit um 30%. Fortschritte auch auf der Westroute durch Aserbaidschan. Dort stiegen die Bahnfrachtraten im Jahr 2023 um 30%. Im Juni 2024 wurde die Zugverbindung zwischen Kaspischem Meer und dem Persischen Golf eröffnet. Zur gleichen Zeit werden die Routen von Europa nach Asien durch den Suez-Kanal gefährlicher. Die Huthi-Rebellen im Yemen bedrohen die Frachtschiffe im Roten Meer, als Antwort auf den Völkermord Israels in Gaza. Im Handelskrieg mit dem Westen hat sich Moskau durchgesetzt.

Allerdings wirken sich die Folgen des Wirtschaftskrieges auf die USA und Europa unterschiedlich aus. Die Ukraine ist der größte Verlierer dieses Krieges, ein ganzes Land, hunderttausende Menschen werden geopfert auf dem Altar geopolitischer und wirtschaftlicher Interessen. Der zweite Verlierer ist allerdings Deutschland.

Das Münchner Ifo-Institut registriert einen Rückgang des Geschäftsklimas in der Autoindustrie im August 2024: Er fiel um 6,2 % auf minus 24,7 %, ein regelrechter „Sturzflug“ der Stimmung, wie Ifo-Expertin Anita Wölfl mitteilte. Es mangele an Aufträgen, insbesondere aus dem Ausland. Wegen der hohen Energiepreise beabsichtigen 37% der Industrieunternehmen, ihre Produktion in andere Länder zu verlagern. Führende Wirtschaftsinstitute warnen, dass Deutschlands Wachstumskräfte schwinden. In einer Studie der Schweizer Hochschule IMD verliert die deutsche Wirtschaft bei fast allen Standortfaktoren. Das Institut der Deutschen Wirtschaft sieht hohe Netto-Abflüsse von Direktinvestitionen aus Deutschland und spricht von Deindustrialisierung.

Das Leibnitz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung und Creditreform rechnen im Schließungsreport vor, dass im vergangenen Jahr 176.000 Unternehmen geschlossen wurden. Als Hauptursache sehen sie hohe Energie- und Investitionskosten, unterbrochene Lieferketten, Personalmangel und politische Unsicherheit. Das alles sei für die Wirtschaft ein „toxischer Cocktail“.

Die Eliten des Westens haben sich in eine Sackgasse manövriert, und statt sich zu besinnen, treiben sie die Bevölkerung immer tiefer in den Ukraine-Krieg hinein. Auch dies hat wirtschaftliche Gründe. Beim Besuch in Kiew hat US-Senator Lindsey Graham am 6. September 2024 deutlich gemacht: Die Ukraine sitze auf Rohstoffen im Wert von Billionen US-Dollar, die „für die US-Wirtschaft gut“ seien, und dass die Ukraine kämpfe, damit die USA nicht kämpfen müssen.

Der stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dimitri Medwedew postete am 30.08.2024: „Nach frei zugänglichen Daten wird der Gesamtwert der ehemaligen ukrainischen Bodenschätze auf fast 14,8 Billionen Dollar geschätzt, aber 7,3 Billionen Dollar davon befinden sich jetzt in den Volksrepubliken Luhansk und Donezk. Das bedeutet, dass sich fast die Hälfte des nationalen Reichtums der ehemaligen Ukraine im Donbass befindet! Die Ressourcen der Regionen Krim, Saporoschschje und Cherson, die ebenfalls an Russland zurückgefallen sind, werden auf weitere 821 Milliarden Dollar geschätzt. All dies entspricht fast 63 % der Kohlevorkommen der ehemaligen Ukraine, 42 % der Metallvorkommen und 33 % der Seltenen Erden und anderer wichtiger Materialien, einschließlich Lithium. Um an die begehrten Bodenschätze zu gelangen, verlangen die westlichen Parasiten schamlos, dass ihre Schützlinge bis zum letzten Ukrainer Krieg führen.“

Hier liegen die eigentlichen Kriegsgründe. Emmanuel Todd geht davon aus, dass in dieser Hinsicht der dritte Weltkrieg bereits begonnen habe. Diese weltweite Auseinandersetzung verlaufe aber anders, als der Westen sich das wünsche. Er nennt zehn große Überraschungen dieses Krieges: „Die zehnte und letzte Überraschung materialisiert sich gerade. Es ist die Niederlage des Westens. Man mag sich über eine solche Aussage wundern, wenn der Krieg noch nicht vorbei ist. Aber diese Niederlage ist sicher, denn der Westen zerstört sich eher selbst, als dass er von Russland angegriffen wird.”

Der Krieg gegen die Bevölkerung

Wenn ich nun von einem Krieg gegen die eigene Bevölkerung spreche, so lasse ich mich von einem Gedanken des Schriftstellers George Orwell leiten. Erlegte in seinem dystopischen Roman 1984 dar: „Der Krieg wird von jeder herrschenden Gruppe gegen ihre eigenen Untertanen geführt, und das Ziel des Krieges ist nicht die Eroberung von Territorien oder deren Verhinderung, sondern die Aufrechterhaltung der Gesellschafsstruktur. Das Wort ‚Krieg‘ selbst ist daher irreführend geworden. Wahrscheinlich wäre es zutreffend zu sagen, dass der Krieg aufgehört hat zu existieren, weil er zu einem Dauerzustand geworden ist.“

Wie George Orwell in seinem prophetischen Roman 1984 schreibt, dienen alle modernen Kriege in erster Linie diesem Zweck.“ Das bedeutet, der Krieg richtet sich nicht in erster Linie gegen den äußeren Feind. Es geht um die Überwachung der eigenen Bevölkerung und um die Enteignung des Mittelstandes und der abhängig Beschäftigten.

Wir haben es nicht zu tun mit einem Kampf um westliche Werte oder die regelbasierte Ordnung. Wie der US-Wirtschaftsanalyst Martin Armstrong ausgeführt hat, handelt es sich um einen politischen Notfall. Die Machteliten des Westens brauchen den Krieg, denn sie haben sich in eine Sackgasse hineinmanövriert.

Wenn wir einmal die Corona-Krise mit in den Blick nehmen, kann man mit dem niederländischen Historiker Kees van der Pijl sagen: „Was sich vor unseren Augen abspielt, ist der schrittweise Austausch des westlichen Liberalismus gegen eine autoritäre Staats- und Gesellschaftsstruktur.“ Alles im Namen des Virus oder des Kampfes um westliche Werte gegen den Diktator Putin. „Der im Frühjahr 2020 ausgerufene Kriegszustand dient in Wirklichkeit der Sicherung der bestehenden Ordnung.“

Mit dem Kampf gegen den Terror nach 9/11 „verflüchtigte sich das Versprechen des amerikanischen Traumes bald und wurde durch die Politik der Angst ersetzt, eine Regierungsform, die auf der Verängstigung der Öffentlichkeit beruht. Mit dem Patriot Act wurde die Demokratie um mehrere Stufen zurückgeschraubt. Orwells Einschätzung des permanenten Krieges als Mittel zur Sicherung der bestehenden Gesellschaftsordnung hatte sich bewahrheitet.“

Mit der Corona-Krise hat die Enteignung des Mittelstandes massiv zugenommen. Wie die inzwischen veröffentlichten RKI-Files zeigen, waren die Maßnahmen nicht medizinisch oder virologisch, sondern politisch indiziert und wurden von der Politik durchgesetzt. Die massiven Einschränkungen führten dazu, dass viele kleinere Unternehmen aufgeben mussten. Die Dienstleistungen wurden übernommen von großen Ketten oder Digitalkonzernen. So können die Gewinnmargen der Großen auf Kosten der Kleinen gesichert werden. Dieser Prozess wird sich infolge des Ukraine-Krieges und der Sanktionen des Westens beschleunigen.

Dies bekommen die mittelständischen Unternehmen in besonderer Weise zu spüren. Anders verhält es sich bei den DAX-Konzernen: Die steuerliche Freistellung von Veräußerungsgewinnen 2002 unter Bundeskanzler Schröder hat dazu geführt, dass die deutschen Banken ihre Industriebeteiligungen abgegeben haben und in strukturierte Wertpapiere investiert haben. Dies hat den Weg in die Finanzkrise unterstützt. Die Industriebeteiligungen wurden v.a. von ausländischen, insbesondere US-amerikanischen Finanzinvestoren übernommen. US-Finanzinvestoren sind heute bei fast allen deutschen DAX-Konzernen beteiligt. Sie entscheiden mit über Management und Boni.

Eine Verlagerung von Fertigungskapazitäten nach USA oder China ist für solche Großkonzerne lediglich ein Rechenexempel. Sie müssen langfristig die Dividende der Aktionäre sicherstellen. Demgegenüber sind mittelständische Unternehmen stärker ortsgebunden. Sie werden die Folgen einer verfehlten Politik härter zu spüren bekommen.

Der Zusammenbruch der Dresdner Elbbrücke mag technisch nachvollziehbare Ursachen haben. Er ist aber jetzt schon ein Symbolbild für den Zerfall eines ganzen Landes. Fachleute erwarten hier eine schleichende Agonie, wie wir sie aus Italien oder Griechenland kennen. Die Menschen spüren, dass es bergab geht. Dennoch krempeln sie die Ärmel nicht auf, sondern dösen ihrem Untergang entgegen. Die Fähigkeit, sich Zukunftsaufgaben zu stellen, scheint nachzulassen. In der Soziologie spricht man von einer große Regression.  Die Standortfaktoren – darin sind sich alle einig – sind deutlich schlechter geworden

Ausblick: Keine Hoffnung auf Frieden

Die Vereinigten Staaten kämpfen um ihre weltweite Vormachtstellung. Insbesondere die Neocons, die den Apparat in Washington dominieren, halten an der Wolfowitz-Doktrin fest, nach der es weltweit keinen Rivalen der USA geben darf. Sie kennen keinen gegenseitigen Respekt und keine gegenseitige Gleichheit, was beides für friedliche multilaterale Beziehungen zwingend ist. Offenbar ist ein krisengeschütteltes Imperium gewillt, die Welt mit in den Abgrund zu reißen. Die USA wollen der Platzhirsch sein – und das um jeden Preis. Genau das ist die Definition von Imperialismus. Die Folge-Erscheinungen sind Aggression, Kriegstreiberei, die „regelbasierte Ordnung“, die nichts anderes ist als die Verbrämung des Faustrechts, und Doppelzüngigkeit. Verbündete werden degradiert zu Hintersassen, zu Satrapen, die nach Belieben für die Interessen der USA benutzt werden können.

Doch die Welt hat sich geändert. Sie stimmt nicht mehr mit den globalen Illusionen der USA überein. Die Hegemonie Washingtons ist nicht mehr realisierbar. Wie beim Untergang des Römischen Reiches, brechen deshalb an den Peripherien des Imperiums asymmetrische Kriege aus. In einem jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelangen Abnutzungskampf werden die USA darin die Kräfte ihrer Satrapen überdehnen und allmählich ihre eigenen verschleißen.

Der geostrategische Analyst der Asia Times, Pepe Escobar, schreibt: „In dieser Situation verhält sich die Hegemonialmacht wie ein Betrunkener in einer Bar, dem ein weiterer Drink verwehrt wird. Chaos und Gewalt sind unvermeidlich. Der amerikanische Narzissmus leugnet, dass die USA ein Imperium sind. Man zieht es vor so zu tun, als sei seine Macht gutmütig und immer großzügig. Lassen wir diese Eitelkeit beiseite. Die USA sind ein Imperium mit Militärstützpunkten auf der ganzen Welt, um ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen mit der Waffe in der Hand durchzusetzen. Keine Nation hat in ihrer 248-jährigen Geschichte so viele Kriege geführt wie die Vereinigten Staaten. Die Ausbeutung ihrer Verbündeten und des Rests der Welt durch finanzielle Erpressung, die sich auf die willkürliche Definition des Dollars als primäre globale Reservewährung als finanzielles Druckmittel stützt, ist ein weiterer Mechanismus der Nötigung und neokolonialen Ausbeutung von Ressourcen. Doch die amerikanische Hybris und der Wahn der absoluten Macht werden ein böses Ende nehmen. Das Imperium zersplittert und scheitert. Dies führt in eine existenzielle Krise. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sind nicht mehr die Wirtschaftsmacht, die sie einst waren. Es entfaltet sich eine tektonische Verschiebung weg von der Kontrolle der Weltwirtschaft durch die westliche Minderheit hin zu einer gerechteren und friedlicheren internationalen Ordnung.“

Doch dieser Krieg wird noch lange anhalten. Es ist ein Tanz auf dem Vulkan.

Erstveröffentlicht im Overton Magazin v. 20.9. 2024
https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/fuenf-kriege-in-einem/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Patrik Baab veröffentlichte das Buch „Auf beiden Seiten der Front“. Es ist wirklich lesenswert.
https://www.buchkomplizen.de/buecher/politik/geopolitik/auf-beiden-seiten-der-front.html?noloc=1




Selenskyjs „Siegesplan“

Präsident Selenskyj besucht Deutschland und dringt auf weitere Mittelzusagen für einen von ihm entwickelten Plan für einen „Sieg der Ukraine“. Dabei steht Kiew einer Niederlage näher denn je zuvor; eine neue Massenflucht droht.

06 Sep 2024

Von German Foreign Policy

Bild: Ukrainian Presidential Press Office

BERLIN/KIEW (Eigener Bericht) – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der einen Plan für einen „Sieg der Ukraine“ über Russland entwickelt zu haben behauptet, trifft am heutigen Freitag zu einem Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Deutschland ein. Selenskyj hat die Ankündigung Berlins scharf kritisiert, über die seinem Land bereits fest zugesagten Mittel hinaus keine weiteren Milliardensummen mehr zur Verfügung zu stellen. Er wird Scholz mutmaßlich drängen, die Ankündigung zurückzunehmen. Auch bei US-Präsident Joe Biden will er sich bald für neue Gelder einsetzen. Den angeblichen Plan für einen „Sieg der Ukraine“ bringt er vor, während die ukrainische Offensive im Gebiet Kursk gescheitert ist und die russische Einnahme der Stadt Pokrowsk bevorsteht. Diese ist ein logistischer Knotenpunkt; ihr Verlust brächte die ukrainischen Streitkräfte einer Niederlage deutlich näher. Zugleich steht der Ukraine, weil Russland ihre Energieversorgung zerstört, womöglich eine neue Massenflucht bevor, die ihr selbst dringend benötigte Arbeitskräfte nehmen und in der EU wegen wachsenden Unmuts in der Bevölkerung für größere Unruhe sorgen dürfte. Russland erklärt sich zu Verhandlungen bereit.

Werbeoffensive für Waffen

Der kurzfristig für den heutigen Freitag angekündigte Deutschland-Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist Teil einer Werbeoffensive, mit der Kiew einen weiteren Schub an Unterstützung vor allem mit Waffen zu erreichen sucht. Bereits am Donnerstag war der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow in Berlin zu einem Gespräch mit seinem deutschen Amtskollegen Boris Pistorius zusammengekommen; zuvor hatte Umjerow in Washington Verhandlungen über künftige Waffenlieferungen geführt. Selenskyj will heute an einem Treffen der Ukraine Defense Contact Group (UDCG) auf der US-Luftwaffenbasis Ramstein teilnehmen und am Nachmittag in Frankfurt am Main mit Bundeskanzler Olaf Scholz Verhandlungen unter vier Augen führen.[1] Thema ist mutmaßlich die Ankündigung der Bundesregierung, keine zusätzlichen Mittel an Kiew über die bereits fest zugesagten Gelder hinaus zu vergeben.[2] Selenskyj hat außerdem angekündigt, er werde in Kürze US-Präsident Joe Biden einen Plan für einen „Sieg der Ukraine“ über Russland vorlegen, für den freilich Washington die erforderlichen Mittel bereitstellen müsse.[3] Als denkbar gilt ein Treffen am Rande der UN-Generalversammlung; dort steht eine Rede von Biden für den 24., eine weitere von Selenskyj für 25. September in Aussicht.

Vor der Niederlage

Von dem „Sieg“, den Selenskyj für möglich erklärt, ist die Ukraine in Wirklichkeit weiter entfernt denn je. Die Offensive der ukrainischen Streitkräfte im russischen Gebiet Kursk ist längst ins Stocken geraten. Ihr Ziel, die russischen Truppen, die in der Ostukraine kämpfen, zu einer räumlichen Diversifizierung zu zwingen und damit ihren Ansturm im Gebiet Donezk zu schwächen, ist gescheitert. Während Moskau zur Verteidigung von Kursk Einheiten aus anderen Landesteilen herbeibeordert hat, rücken die russischen Truppen in Donezk weiter auf die Stadt Pokrowsk vor, die als ein wichtiger logistischer Knotenpunkt für die Versorgung der ukrainischen Streitkräfte im Osten des Landes gilt.[4] Die Einnahme des gesamten Gebiets Donezk, die Moskau anstrebt, gerät damit laut Einschätzung von Militärs so langsam in Reichweite. Zudem setzt Moskau die Zerstörung der ukrainischen Energieinfrastruktur fort – wie die Londoner Denkfabrik Royal United Services Institute (RUSI) bereits im Juni urteilte, mit „beeindruckender Genauigkeit“.[5] Das RUSI wies ebenfalls bereits im Juni darauf hin, manche gingen davon aus, im Winter werde es in der Ukraine teilweise nur vier Stunden Strom pro Tag geben. Dies werde zahlreiche ukrainische Zivilisten auf die Flucht treiben – und zwar nach Westeuropa.

Eine neue Fluchtbewegung

Dies wird voraussichtlich auf gleich mehreren Ebenen zu neuen Schwierigkeiten für die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer führen. So löste die Aussicht, es könne demnächst „zu einer weiteren großen Fluchtbewegung kommen“, in der vergangenen Woche auf einem Treffen der EU-Außenminister erhebliche Sorgen aus.[6] Schon jetzt wächst der Unmut in der Bevölkerung über ukrainische Flüchtlinge. Schon im Frühjahr gab es erste Vorstöße deutscher Politiker, die die Streichung des Bürgergelds für vor dem Krieg geflohene Ukrainer verlangten.[7] Ähnliche Forderungen werden seit geraumer Zeit in Irland laut.[8] Umfragen zeigen, dass in Polen 95 Prozent der Einwohner der Ansicht sind, die Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge solle reduziert werden, während nur noch 17 Prozent – im Vergleich zu 37 Prozent ein Jahr zuvor – eine langfristige Ansiedlung von Ukrainern in Polen für gut befinden, während schon 61 Prozent sich klar dafür aussprechen, die Flüchtlinge sollten sofort nach dem Ende des Kriegs in ihr Herkunftsland zurückkehren.[9] In den Niederlanden wiederum war der Anteil derjenigen an der Bevölkerung, die prinzipiell die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine ablehnten, von lediglich 11 Prozent im Februar 2022 auf 23 Prozent im Februar 2024 gestiegen.[10]

Konsequenzen für Generationen

Droht in der EU – auch in Deutschland – der Unmut der Bevölkerung weiter anzuschwellen, so zeichnen sich vor allem für die Ukraine selbst gravierende weitere Probleme ab. So besteht schon jetzt ein Mangel an Arbeitskräften, weil zahllose Männer in die Streitkräfte einberufen wurden und weit mehr als eine Million Frauen, darunter vor allem gut ausgebildete, in die EU geflohen sind. Zwar gelingt es mehr und mehr, Arbeitsplätze mit verbliebenen Frauen zu besetzen; doch reicht die Zahl der verfügbaren Frauen Berichten zufolge längst nicht aus.[11] Sollte eine hohe Anzahl ukrainischer Zivilisten aufgrund der unzulänglichen Versorgung mit Energie und Wasser im Herbst oder im Winter tatsächlich in Richtung Westen fliehen, dann nähme der Arbeitskräftemangel noch weiter zu. Für die Zeit nach dem Ende des Kriegs sagen Demographen ohnehin schon jetzt eine desolate Situation voraus: Weil die Geburtenrate kriegsbedingt abgestürzt ist und eine hohe, stets weiter wachsende Zahl junger Männer an der Front umkommt, ist vollkommen unklar, wie sich die ukrainische Gesellschaft, die bereits jetzt durch Krieg, Flucht und Gebietsverluste zehn Millionen Menschen verloren hat, adäquat entwickeln können soll. Experten warnen vor „Konsequenzen für Generationen“.[12]

(Nicht) verhandlungsbereit

Während Selenskyj, neue militärische und soziale Katastrophen für die Ukraine vor Augen, zugunsten eines nicht erkennbaren „Sieges“ über Russland Verhandlungen über ein Ende des Krieges ablehnt, hat sich Russlands Präsident Wladimir Putin am gestrigen Donnerstag zum wiederholten Mal zu solchen Verhandlungen bereiterklärt. Wie Putin am Rande des Östlichen Wirtschaftsforums in Wladiwostok äußerte, könnten die Gespräche jederzeit aufgenommen werden. Grundlage könne die vorläufige Übereinkunft sein, die beide Seiten Ende März 2022 in Istanbul erreicht hatten, bevor Kiew sie – nicht zuletzt unter westlichem Druck stehend – zurückwies.[13] Als mögliche Vermittler nannte der russische Präsident China, Brasilien oder Indien.[14] Zu Gesprächen mit dem chinesischen Außenminister Wang Yi hatte sich erst im Juli der nun zurückgetretene ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in der Volksrepublik aufgehalten.[15] China hat zuletzt am Dienstag vergangener Woche dazu aufgerufen, den Friedensplan zu unterstützen, den es zuvor gemeinsam mit Brasilien entwickelt hatte; der Appell erfolgte im Anschluss an ein Treffen mit Repräsentanten Brasiliens, Südafrikas sowie Indonesiens, bei dem es ebenfalls um die Beendigung des Ukraine-Kriegs gegangen war.[16] Lediglich im Westen bleibt Unterstützung für einen Waffenstillstand bislang aus – auch und vor allem in Deutschland.

[1] Ukrainischer Präsident will mehr Waffen: Scholz und Selenskyj treffen sich offenbar am Freitag in Frankfurt. tagesspiegel.de 05.09.2024.

[2] S. dazu Kursk und die Folgen.

[3] Selenskyj will Russland zum Frieden zwingen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.09.2024.

[4] Sébastian Seibt: Why Ukraine’s Kursk offensive has failed to distract Russia from Donbas push. france24.com 04.09.2024.

[5] Sam Cranny-Evans: Bracing for the Hardest Winter: Protecting Ukraine’s Energy Infrastructure. rusi.org 24.06.2024.

[6] Thomas Gutschker: Ukrainischer Optimismus trifft auf europäische Skepsis. Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.08.2024.

[7] „Unmut in der Bevölkerung“: Union will Bürgergeld für Ukraine-Flüchtlinge streichen. focus.de 18.04.2024.

[8] Ireland mulling cuts in support for asylum seekers, Ukrainian refugees. reuters.com 13.05.2024.

[9] Martin Fornusek: Polish attitudes towards Ukrainian refugees deteriorating, survey shows. kyivindependent.com 19.06.2024.

[10] Solidarity with Ukraine: more urgent than ever. dorcas.org 23.02.2024.

[11] Constant Méheut: War Is Draining Ukraine’s Male-Dominated Work Force. Enter the Women. nytimes.com 20.08.2024.

[12] Massimo Diana: Amid Russian aggression, Ukraine is also facing a demographic crisis. aljazeera.com 11.07.2024. S. auch „Europa ist im Krieg”.

[13] China, India and Brazil could mediate Russia-Ukraine talks, Russia’s Putin says. reuters.com 05.09.2024. S. auch Kein Wille zum Waffenstillstand.

[14] Zoya Sheftalovich: Putin says China, Brazil or India could act as intermediaries in Ukraine peace talks. politico.eu 05.09.2024.

[15] S. dazu Diplomatie statt Waffen.

[16] Huizhong Wu: China calls for more support for its Ukraine peace plan created with Brazil. apnews.com 27.08.2024.

Erstveröffentlicht am 6.9. 2024 bei German Foreign Policy
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9674

Wir danken für das Publikationsrecht.

Kursk und die Folgen

Kiew fordert nach der Ankündigung Berlins, die Finanzmittel für die Ukraine zu begrenzen, direkten Zugriff auf russisches Auslandsvermögen. Verhandlungsbemühungen sind durch den Angriff auf Kursk zunichte gemacht worden.

23 Aug 2024

Von German Foreign Policy

BERLIN/KIEW (Eigener Bericht) – Nach der Ankündigung Berlins, die Finanzierung der Ukraine zu begrenzen, fordert Kiew einen unmittelbaren Zugriff auf im Westen eingefrorenes Vermögen des russischen Staats. Die Bundesregierung hat vor kurzem mitgeteilt, über die bereits für Kiew verplanten Mittel hinaus keine neuen Ausgaben zur Unterstützung der Ukraine tätigen zu wollen; das Land soll nun auf Basis der Zinserträge aus den eingefrorenen Auslandsguthaben der russischen Zentralbank finanziert werden. Kiewer Regierungsangaben zufolge reicht das nicht aus; es sollen deshalb die Guthaben selbst beschlagnahmt werden. Faktisch wäre das ein Präzedenzfall für den Diebstahl fremden Staatseigentums, der weltweit Folgen hätte – wohl auch für Auslandsvermögen westlicher Staaten. Die Debatte spitzt sich auch deshalb zu, weil die Ukraine faktisch bankrott ist. Weckten noch kürzlich Äußerungen von Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Entsendung von Außenminister Dmytro Kuleba nach China Hoffnung auf Waffenstillstand und Wiederaufbaumaßnahmen, so sind diese nach dem Angriff der Ukraine auf das russische Gebiet Kursk zerstoben. Der Angriff habe Verhandlungen unmöglich gemacht, werden Diplomaten zitiert.

Anlass zu Verhandlungen

Zur Aufnahme von Gesprächen mit Moskau hatte Kiew aus verschiedenen Gründen Anlass. Zum einen war sein Versuch, auf dem vorgeblichen Friedensgipfel Mitte Juni in der Schweiz eine Reihe einflussreicher Staaten des Globalen Südens auf seine Seite zu ziehen und damit Russland politisch zu isolieren, gescheitert; die Regierungen etwa Indiens, Brasiliens oder Südafrikas hatten sich Abschlusserklärung des Gipfels mit dem Hinweis verweigert, Friedensgespräche mit nur einer Konfliktpartei ergäben keinen Sinn.[1] War zumindest das Vortäuschen von Verhandlungsbereitschaft also Voraussetzung für weitere Bemühungen, den Globalen Süden für die Ukraine zu gewinnen, so zeichnete sich zusehends auch materieller Druck ab. Die russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur, die Kiew zum Einlenken nötigen sollten, haben der Washington Post zufolge mittlerweile neun der 18 Gigawatt vernichtet, die die Ukraine im kalten Winter zu Spitzenzeiten benötigt.[2] Bereits jetzt ist die Bevölkerung der Ukraine mit schweren Stromausfällen konfrontiert; die ohnehin stark geschädigte Wirtschaft wird durch den Energiemangel zusätzlich beeinträchtigt. Die ukrainischen Angriffe auf Russlands Erdölindustrie dagegen fügen Moskau relativ geringere Schäden zu – und weil sie zeitweise den Ölpreis in die Höhe getrieben haben, stoßen sie in den westlichen Hauptstädten intern auf Unmut.

„Von der Tagesordnung genommen“

Laut der Washington Post ließ sich Kiew deshalb kurz nach dem Schweizer Ukraine-Gipfel auf einen Vorstoß Qatars ein, zu Verhandlungen mit Moskau überzugehen.[3] Demnach sollte zunächst ein beidseitiger Verzicht auf Angriffe auf die Energie- bzw. die Ölinfrastruktur in Kraft treten – dies mit der Perspektive, zu einem umfassenderen Waffenstillstand ausgeweitet zu werden. Qatar habe darüber fast zwei Monate lang mit beiden Seiten verhandelt, hieß es unter Berufung auf Diplomaten; die Regierung in Doha habe gehofft, in Kürze eine Einigung zu erzielen. Der ukrainische Angriff auf das Gebiet Kursk habe die Bemühungen jetzt aber umgehend zunichte gemacht. Der liberale russische Politiker Grigori Jawlinski etwa ließ sich von der New York Times mit der Aussage zitieren, in Moskau habe man Hoffnung gehegt, „die Kämpfe könnten dieses Jahr enden“.[4] Der Angriff auf das Gebiet Kursk habe nun aber die Chancen dafür nicht nur reduziert, sondern sie sogar „von der Tagesordnung genommen“. Zwei ehemalige russische Regierungsmitarbeiter schlossen sich gegenüber der US-Zeitung dieser Einschätzung an. Ausdrücklich bestätigte Juri Uschakow, außenpolitischer Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, angesichts der jüngsten Kiewer „Eskapade“ werde man zumindest vorläufig „nicht verhandeln“.[5]

Vermittler düpiert

Hinzu kommt, dass Kiew mit seinem Vorgehen einmal mehr potenzielle Vermittler verprellt. Erst im Juli hatte China den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba zu Gesprächen nicht zuletzt mit seinem Amtskollegen Wang Yi empfangen – in der Absicht, Wege zu einer Verhandlungslösung zu bahnen.[6] Zudem hatte Indien mit der ukrainischen Regierung über einen Besuch von Ministerpräsident Narendra Modi verhandelt – sozusagen als Ausgleich für Modis Besuch im Juli in Moskau. Während Kiew mit Beijing und New Delhi über Wege zu einer Konfliktlösung diskutierte, bereitete es hinter deren Rücken längst den Angriff auf Kursk vor. Modi trifft am heutigen Freitag düpiert in der ukrainischen Hauptstadt ein. Auch Qatars Regierung muss konstatieren, dass sie mit ukrainischen Gesprächspartnern über Wege aus dem Krieg verhandelte, während Kiew insgeheim bereits die Eröffnung eines neuen Schlachtfeldes auf russischem Territorium plante. Doha, gleichfalls düpiert, sagte die schon in Kürze geplanten Gespräche inzwischen ab.[7]

„Der Topf ist leer“

Gleichzeitig zeichnen sich neue Spannungen zwischen Kiew und Berlin ab. Wie bereits am vergangenen Wochenende berichtet wurde, will die Bundesregierung ab sofort keinerlei neue Mittel mehr für die Ukraine zur Verfügung stellen. Bereits fest verplant sind die knapp acht Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt 2024 für die Unterstützung der Ukraine vorsieht. Im Bundeshaushalt 2025 sind weitere vier Milliarden Euro für Kiew enthalten; diese sind aber, wie es heißt, „offenbar schon überbucht“.[8] Für 2026 ist von drei, für 2027 und 2028 jeweils von einer halben Milliarde Euro die Rede. Weitere Mittel sollen – darauf beharren Kanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner – lediglich dann gewährt werden, wenn für die entsprechenden Vorhaben „eine Finanzierung gesichert“ sei. Hintergrund sind die Berliner Bestrebungen, die Staatsausgaben einzuschränken, um die Neuverschuldung zu begrenzen. Zwar würden bereits getätigte Zusagen noch realisiert, heißt es; doch wird ein Mitarbeiter der Bundesregierung mit der Feststellung zitiert: „Ende der Veranstaltung. Der Topf ist leer.“[9]

Präzedenzfall

Gedeckt werden soll Kiews Finanzbedarf nach dem Willen Berlins nicht mehr aus deutschen Mitteln, sondern stattdessen aus Zinserträgen, die die im Westen eingefrorenen Mittel der russischen Zentralbank einbringen – insgesamt gut 260 Milliarden Euro. Konkret werden zur Zeit die Zinsen der gut 173 Milliarden Euro ins Visier genommen, die der Finanzkonzern Euroclear mit Sitz in Brüssel verwaltet. Die G7 haben beschlossen, die Zinsen zugunsten der Ukraine zu beschlagnahmen und Kiew auf ihrer Grundlage einen Kredit zu ermöglichen; jährlich könnten damit mehrere Milliarden Euro beschafft werden, heißt es.[10] Allerdings sind noch diverse Fragen offen. So wird berichtet, Experten rechneten mit einer Laufzeit des Kredits von möglicherweise 20 Jahren. Das setze faktisch voraus, dass die russischen Gelder auch noch nach einem etwaigen Friedensschluss mit der Ukraine eingefroren blieben, sollte ein solcher zustande kommen. Hinzu kommt das nach wie vor ungelöste Problem, dass ein westlicher bzw. ukrainischer Zugriff auf russisches Staatseigentum als klarer Präzedenzfall gewertet würde. Damit müssten westliche Staaten damit rechnen, dass ihr Eigentum im Ausland im Konfliktfall gleichfalls enteignet werden könnte, nicht nur zur Entschädigung von Kriegs-, sondern auch von Kolonial- und insbesondere von NS-Verbrechen.

Finanzdesaster

Umso schwerer wiegt, dass Kiew jetzt, wie die stellvertretende Finanzministerin Olga Zykova soeben auf einer Videokonferenz des Kiewer Centre for Economic Strategy erklärte, nicht nur die schnelle Freigabe der Kreditmittel auf Basis der Zinserträge des eingefrorenen russischen Staatsvermögens fordert, sondern den Zugriff auf das Staatsvermögen selbst. Das sei nötig, heißt es, um den ukrainischen Staatshaushalt zu stabilisieren, der zuletzt zu mehr als 50 Prozent aus auswärtigen Zuwendungen gespeist worden sei.[11] Für das Jahr 2025 benötige man Hilfsgelder in Höhe von mindestens 35 Milliarden US-Dollar; 15 Milliarden US-Dollar fehlten noch. Als einziger Ausweg aus dem zunehmenden Finanzierungsdesaster gilt ein Ende des Krieges und der Wiederaufbau des Landes; beides aber ist nach dem ukrainischen Angriff auf Kursk weniger in Sicht denn je.

[1] S. dazu Ziele klar verfehlt.

[2] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.

[4], [5] Anton Troianovski, Andrew E. Kramer, Kim Barker, Adam Rasgon: Ukraine Says Its Incursion Will Bring Peace. Putin’s Plans May Differ. nytimes.com 19.08.2024.

[6] S. dazu Diplomatie statt Waffen.

[7] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.

[8], [9] Peter Carstens, Konrad Schuller: Kein neues Geld mehr für die Ukraine. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 18.08.2024.

[10] Christian Schubert: Ein russischer Hebel gegen Putin. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.08.2024.

[11] Andreas Mihm: Kiew: Brauchen Milliarden schnell. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.08.2024.

Erstveröffentlich in German Foreign Policy v. 22.8. 2024
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9647

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