Der neue Transatlantikpakt

Newsletter von German Foreign Policy

Bild: Screenshot Middle East Eye. Bearbeitung JG

Neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA zielt auf Neuformierung des transatlantischen Pakts auf offen rassistischer, womöglich faschistischer Basis. Kern ist weiter der gemeinsame Machtkampf gegen China – nun auch in Lateinamerika.

WASHINGTON/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten zielt auf eine Neuformierung des transatlantischen Bündnisses auf offen rassistischer, womöglich faschistischer Basis. Wie es in dem Papier heißt, das gegen Ende vergangener Woche veröffentlicht wurde, wünschten die USA zur Erreichung ihrer globalen Ziele auch künftig europäische Unterstützung. Allerdings müsse dies auf neuer Grundlage geschehen. Weil die Staaten der EU aufgrund ihrer Immigration von einer „zivilisatorischen Auslöschung“ bedroht seien, müsse Washington ihnen „helfen“, ihren „gegenwärtigen Kurs zu korrigieren“. Ausdrücklich gelobt werden „patriotische Parteien“; zu diesen gehört etwa die AfD, die die Trump-Administration offen unterstützt hat. Aus den Regierungsparteien in Berlin kommen gemischte Reaktionen. Im Kern des US-Strategiepapiers steht weiterhin der große Machtkampf gegen China. Diesen weitet die Trump-Administration nun explizit auf Lateinamerika aus. Die Fokussierung auf eine gestärkte wirtschaftliche und militärische US-Präsenz auf dem Subkontinent bezeichnet das US-Strategiepapier als „Trump-Zusatz“ zur Monroe-Doktrin, die Lateinamerika als alleinige US-Einflusssphäre in Anspruch nimmt.

Die Kontrolle der Inselketten

Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten fokussiert unverändert auf den großen Machtkampf der USA gegen die Volksrepublik China. Wie es in dem Dokument heißt, müsse Washington den Handel mit China „ausgeglichener“ gestalten und dafür sorgen, dass er sich auf „nicht sensible Faktoren“ beschränke, um jegliche Abhängigkeit von der Volksrepublik zu vermeiden.[1] Gleichzeitig werde man die US-Militärpräsenz in der Asien-Pazifik-Region weiter stärken. Ein Schwerpunkt ist demnach die sogenannte Erste Inselkette, die von Japan über Taiwan bis zu den Philippinen reicht; von den Ländern auf ihr verlangt Washington noch leichteren Zugang für seine Streitkräfte und eine dramatisch gesteigerte Aufrüstung. Speziellen Wert legen die USA auf die Kontrolle Taiwans – „zum Teil“, weil die Insel über unverzichtbare Kapazitäten in der Halbleiterproduktion verfüge, „vor allem“ aber, weil sie „direkten Zugang zur Zweiten Inselkette“ biete: Kontrollierte Beijing Taiwan, hätten die chinesischen Streitkräfte die Option, in den Pazifik mit Kurs etwa auf die US-Kolonie Guam auszubrechen, die auf der Zweiten Inselkette liegt. Zudem heißt es in dem US-Papier, eine weitere „Herausforderung“ bestehe darin, dass ein Rivale das Südchinesische Meer kontrollieren könne – China.

„Trump-Zusatz“ zur Monroe-Doktrin

Einen Einschnitt bringt die Nationale Sicherheitsstrategie für Lateinamerika. Dort ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten Chinas Wirtschaftseinfluss dramatisch gestiegen; das Land ist heute, nimmt man Mexiko aus, der größte Handelspartner des Subkontinents und hat dort massiv in bedeutende Infrastruktur – von Häfen bis zu 5G-Netzen – investiert. In der neuen US-Sicherheitsstrategie heißt es jetzt, Washington werde seine „Vorherrschaft“ in der Region wieder durchsetzen. Dazu müsse jede Form „feindlichen auswärtigen Eindringens“ gestoppt werden.[2] Insbesondere fokussiert das Dokument darauf, die Rohstoffe des Subkontinents – darunter immense Lithium-Ressourcen in Argentinien, Bolivien und Chile – unter Kontrolle zu bringen. Zudem werde eine stärkere Militärpräsenz in Betracht gezogen, heißt es. In der Karibik bauen die Vereinigten Staaten schon jetzt alte und neue Militärstützpunkte aus (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Den Plan, Chinas bedeutende Wirtschaftspräsenz nach Möglichkeit wieder aus Lateinamerika zu verdrängen, bezeichnet das US-Dokument als „Trump-Zusatz“ („Trump Corollary“) zur Monroe-Doktrin. Die Doktrin, am 2. Dezember 1823 von US-Präsident James Monroe proklamiert, erklärte ganz Lateinamerika zur exklusiven Interessensphäre der Vereinigten Staaten.

Bedeutung verloren

Deutlich geringere Bedeutung misst die neue Nationale Sicherheitsstrategie dem Nahen und Mittleren Osten bei. Jahrzehntelang sei die Region der weltweit bedeutendste Energielieferant gewesen, heißt es in dem Papier. Das sei heute nicht mehr der Fall – dies insbesondere, weil die Vereinigten Staaten dank ihrer Fracking-Offensive zum Nettoexporteur von Energie geworden seien.[4] Man werde sich daher nur noch darum bemühen, gegnerischen Mächten dominierenden Einfluss im Nahen und Mittleren Osten zu verwehren. Für Afrika sieht die US-Strategie lediglich eine Rolle als Lieferant kritischer Rohstoffe vor.

„Zivilisatorische Auslöschung“

Eine offene Kampfansage enthält das US-Dokument gegenüber der EU. Der Anteil von deren heutigen 27 Mitgliedstaaten an der globalen Wirtschaftsleistung sei – berechnet nach Kaufkraftparität (purchase power parity, PPP) – von 25 Prozent im Jahr 1990 auf nur noch 14 Prozent im Jahr 2025 zurückgegangen, heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie.[5] Der relative ökonomische Abstieg der EU werde freilich „von der realen und noch bedrohlicheren Aussicht auf eine zivilisatorische Auslöschung“ in den Schatten gestellt. Ursache dafür sei eine Migrationspolitik, „die den Kontinent umformt und Zwietracht sät“. Dabei verbinde sich das mit einer „Unterdrückung der politischen Opposition“ – damit gemeint sind Kräfte der äußersten Rechten – und mit einem „Verlust von nationalen Identitäten und Selbstvertrauen“. Setzten sich diese Trends fort, dann werde „der Kontinent in 20 Jahren oder sogar weniger nicht mehr wiederzuerkennen sein“. Es sei „mehr als plausibel“, dass bereits bald „bestimmte NATO-Mitglieder mehrheitlich nicht-europäisch“ seien. Es sei „eine offene Frage“, ob sie dann „ihre Stellung in der Welt“ und insbesondere „das Bündnis mit den Vereinigten Staaten“ noch weiter aufrechterhalten würden.

„Patriotische Parteien“

Dies freilich laufe wichtigen US-Interessen zuwider, heißt es weiter in dem Papier; Europa bleibe vor allem „strategisch und kulturell von entscheidender Bedeutung für die Vereinigten Staaten“.[6] So seien europäische Technologie und der transatlantische Handel eine wichtige Säule „des amerikanischen Wohlstands“; auch strategisch sei „europäische Hilfe“ für die USA unverändert von ganz erheblicher Bedeutung. „Wir können es uns nicht leisten, Europa abzuschreiben“, konstatiert die US-Sicherheitsstrategie. Also müsse es Washingtons Ziel sein, „Europa zu helfen, seinen gegenwärtigen Kurs zu korrigieren“. Europa müsse „europäisch bleiben“, „sein zivilisatorisches Selbstvertrauen wiedergewinnen“. Dazu gelte es „Widerstand gegen Europas gegenwärtigen Kurs innerhalb der europäischen Nationen zu kultivieren“. Deshalb werde man seine „politischen Verbündeten in Europa ermutigen“, den „individuellen Charakter“ der „europäischen Nationen“ wieder zu stärken. Freilich biete „der wachsende Einfluss patriotischer Parteien in Europa“ schon jetzt „Anlass für großen Optimismus“, fährt das Strategiepapier fort. Gemeint ist das Erstarken ultrarechter bis faschistischer Kräfte in ganz Europa, das von der Trump’schen Rechten systematisch gefördert wird (german-foreign-policy.com berichtete [7]).

„Anknüpfungspunkt für verstärkte Kooperation“

Die erkennbare Absicht, den transatlantischen Pakt auf offen rassistischer, möglicherweise faschistischer Basis in einem Bündnis zwischen der Trump-Administration und Kräften der äußersten Rechten in Europa neu zu formieren, stößt bei der AfD auf Beifall. So wird etwa der AfD-Europaabgeordnete Petr Bystron mit der Aussage zitiert: „Das ist eine direkte Anerkennung unserer Arbeit“.[8] Aus den Parlamentsfraktionen der Regierungsparteien in Berlin sind gemischte Stimmen zu hören. So fordert etwa der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Adis Ahmetovic, „ein geschlossenes, selbstbewusstes und stärkeres Europa“, um sich gegen die Forderung nach einem harten Rechtskurs auch in der Bundesrepublik zu behaupten.[9] Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter warnt ebenfalls, „Europa“ dürfe keinesfalls „zum Objekt US-amerikanischer Machtpolitik“ werden.[10] Offener gibt sich der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Jürgen Hardt (CDU). „Deutschland und Europa spielen in der Strategie des US-Präsidenten weiterhin eine zentrale Rolle als Partner“, lobt Hardt: „Somit ist die Strategie kein Abgesang, sondern kann vielmehr Anknüpfungspunkt für verstärkte Bemühungen um transatlantische Zusammenarbeit sein.“[11] Dies geschähe freilich nach dem Willen der Trump-Administration auf ultrarechter Basis, etwa in Kooperation mit der AfD.

[1], [2] National Security Strategy of the United States of America. November 2025.

[3] S. dazu Die Militarisierung der Karibik und Von Drohnen- zu Bootsmorden.

[4], [5], [6] National Security Strategy of the United States of America. November 2025.

[7] S. dazu „Vom Trump-Tornado lernen“ und „Kein Platz für Brandmauern“ (II).

[8] Sofia Dreisbach, Thomas Gutschker, Eckart Lohse, Friedrich Schmidt: Kalte Dusche für Europa. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.12.2025.

[9], [10] Caspar Schwietering: Nach Trumps Kampfansage an Europa: Deutsche Außenpolitiker fordern von der Bundesregierung Distanz zu den USA. tagesspiegel.de 07.12.205.

[11] Sofia Dreisbach, Thomas Gutschker, Eckart Lohse, Friedrich Schmidt: Kalte Dusche für Europa. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.12.2025.

Erstveröffentlicht auf GFP v. 8.12. 2025
https://www.german-foreign-policy.com/

Wir danken für das Publikationsrecht.

“Man konnte noch weiterleben”

Der Faschismus bildet sich stets nur allmählich heran. Und dann ist er “plötzlich” da.

Von Moshe Zuckermann

Will man eine Chance haben einen drohenden Faschismus zu bekämpfen, muss man eine zutreffende Vorstellung davon haben, auf welchem Wege er ein Machtfaktor wird. Moshe Zuckermann thematisiert hier vor allem die Genesis des historischen deutschen Faschismus und seine Folgen für die jüdische Community. Er zieht daraus jedoch allgemeinere Schlussfolgerungen, die für uns auch heute von Bedeutung sind. Viel zu sehr verbindet sich die historische Erinnerung an die Nazi-Zeit mit der feierlichen Machtübertragung der Weimarer Eliten an Adolf Hitler in der Potsdamer Garnisonskirche. Die Intronisierung einer Führerdiktatur erscheint als einmaliger Akt – wie ein Paukenschlag. In Wirklichkeit hatten die Faschisten bereits vorher wichtige Felder ihrer Machtquellen bestellen können. Man denke nur an ihre paramilitärischen Kampfverbände SA und SS. 1933 bekamen diese „Annexionen“ auch ihre juristische Absicherung. Die wirkliche Gleichschaltung erfolgte dann mit dem sog. Ermächtigungsgesetz, dem das gesamte bürgerliche Weimar die Zustimmung gab. Nicht zugestimmt hatten die Parteien der damaligen Linken, die Parteien der Arbeiterklassse waren. Die SPD stimmte dagegen. Die Kommunisten konnten im Reichstag kein Votum mehr abgeben. Denn sie waren bereits illegalisiert. Dieser Prozesss ist heute noch bedeutsamer, weil die Faschist:innen unter Führung der Neuen Rechten sich demokratisch maskieren. Sie sind auf einem „Marsch durch die Institutionen“, die sie Stück für Stück in ihrem Sinne kontaminieren. Sie sind darin sehr erfolgreich, auch weil sich die bürgerliche Mitte wie auch in Weimar ihnen öffnet und ihnen den Zugang zu zentralen Bereichen der Gesellschaft verschafft. Natürlich beginnend mit den Organisationen der bewaffneten Staaatsmacht, in denen am ehesten Ordnungsvorstellungen Verbreitung finden, die auch Faschist:innen teilen. Doch dabei stehen bleibt es nicht. Gibt es erst ein gewonnenes Hinterland in der Bürgergesellschaft dann kippt auch die Justiz – eine Entwicklung, die man schon gut im Osten der Republik beobachten kann. Ein Übriges besorgt die überwachungs- und repressionssfreudige Gesetzgebung, die ein Staat benötigt, um die zu erwartenden Widerstände gegen die ersehnte Kriegstüchtigkeit und den sich abzeichnenden Absturz der sozialen Sicherheit abzuwehren. In gewisser Weise können Höcke und „Genoss:innen“ warten, bis ihnen der reife Apfel in den Schoß fällt. (Jochen Gester)

Bei Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 lebten in Deutschland etwa 522.000 Juden. Wie konnte es passieren, dass rund 160.000 von ihnen bis 1945 von den Nazis ermordet wurden. Zwar emigrierten zwischen 1933-1941 mehr als die Hälfte der Juden aus Deutschland, warum aber emigrierten nicht alle rechtzeitig?

Im Gegensatz zu den in Osteuropa lebenden Juden, konnte doch den deutschen Juden nicht entgehen, was die Nazis mit ihnen vorhatten. Gewiss, niemand hat im Jahr 1933 wissen können, dass es auf Auschwitz zugeht (auch die Nazis selbst nicht), aber von der Machtübernahme 1933 bis zum “Reichskristallnacht”-Pogrom im November 1938 verschlimmerte sich die Lage der Juden im Nazideutschland in eklatanter Weise. Schon die Nürnberger Gesetze von 1935, die die rassenideologische Legitimationsgrundlage für die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Nazismus bildeten und sich auch bald genug lebensweltlich auswirken sollten, hätten klarmachen können, dass es höchste Zeit wird, Deutschland zu verlassen. Viele verstanden das auch, wie gesagt, aber allzu viele eben auch nicht. Wie konnte das sein?

Eine in Israel lebende, in Berlin geborene ältere Dame, deren Familie erst 1939 ausgewandert war, fragte ich einmal nach dem Grund für die so späte Entscheidung ihrer Eltern. Sie antwortete mir mit entwaffnender Schlichtheit: “Mit Hitlers Machtergreifung war meine Kindheit beendet, und eine graue Wolke hing über meine gesamte Jugendzeit. Aber man konnte noch weiterleben.” Bekannt sind die historischen Erklärungen, die die Schwierigkeit deutscher Juden, sich von der geliebten Heimat (mithin von der deutschen Kultur) zu lösen, zum Inhalt haben. Auch die Weigerung zu glauben, dass es wirklich zum Schlimmsten kommen könnte, spielte bei vielen eine gewichtige Rolle. Das Entwaffnende an der Antwort der alten Berlinerin lag in der sachlich-lakonischen Feststellung, dass es zwar nicht mehr angenehm war, als Jude in Nazideutschland zu leben, aber ein Weiterleben (bis zum Ausbruch des Kriegs) doch noch möglich war. Und das sei zunächst (über alle romantisch-kulturellen Begründungen hinaus) der Grund für das Bleiben gewesen.

Man neigt dazu, historische Momente der Gefahr und Bedrohung finalistisch wahrzunehmen, d.h., ex post facto zu beurteilen. Das ist insofern verständlich, als man den Ausgang dessen, was die Bedrohung zeitigte, zu kennen vermeint; man ist gleichsam im Besitz des empirischen Kriteriums für die “volle” Einordnung des historisch Gewesenen. Was dabei jedoch übersehen wird, ist die Wahrnehmung der Realität durch die Menschen in der historischen Jetztzeit – sie können schlechterdings keine Gewissheit über den Ausgang der Dinge haben, aber sie sind es, die die die historische Zeit durchlebt haben, also die eigentlichen Protagonisten der Geschichte ausmachen, mithin als solche verstanden werden müssen. Es liegt im Wesen historischer Kontingenz, dass man sowohl pessimistische als auch optimistische Konsequenzen aus dem noch Unbestimmten, in der Zukunft Liegenden, ziehen kann; “Hellsichtigkeit” ist dabei eine Frage der Einstellung, zuweilen freilich auch der Verblendung. Das berühmte Zeichen an der Wand ist ein solches erst im Nachhinein. Es ist nie ganz evident, wann der richtige Zeitpunkt ist, die praktische Schlussfolgerung aus dem Moment drohender Gefahr zu ziehen.

Das liegt zum einen daran, dass der Vollzug besagter Schlussfolgerung für gewöhnlich mit Beschwernissen und gewichtigen Umstellungen einhergeht, was sich auch in der Aussage der alten Berlinerin kodiert findet: Man zögerte, sich den Problemen der Auswanderung auszusetzen, solange es sich in den alten Verhältnissen (die freilich keine mehr waren) noch “weiterleben” ließ. Es ist nie leicht zu emigrieren (wenn man dazu nicht ideologisch vorgeprägt ist), und zwar weder psychisch noch materiell. Zum anderen ist aber auch die Verzögerung der sich (in der nachmaligen Perspektive) notwendig aufdrängenden Tathandlung darin begründet, dass die Notwendigkeit auch dann nicht evident ist, wenn die Not sich nach und nach institutionalisiert hat; die alte Berlinerin wusste ja bereits in den 1930er Jahren um die “graue Wolke”, die über ihre Jugendzeit hing.

Der Faschismus schleicht sich allmählich in die bestehende sozial-politische Ordnung ein

Das trifft auch auf den Faschismus zu, vor dem es damals zu flüchten galt. Denn der Faschismus erscheint nie auf einen Schlag, von einem Tag auf den anderen, sondern schleicht sich allmählich in die bestehende sozial-politische Ordnung ein. Man merkt zunächst gar nicht, dass er seine Fänge ausstreckt; denn seine Parolen liegen noch nicht im Konsens, werden mithin abgewunken bzw. “nachsichtig” belächelt. Seine Wortführer müssen sich erst profiliert haben, bevor sie in die Ideologie des national Zulässigen Eingang finden. Rassistische Reden und populistische Slogans werden vorerst mit Abscheu registriert, bis man “plötzlich” merkt, dass sie viele, bislang noch nicht wahrgenommene Anhänger in der Bevölkerung haben, die sich nach und nach zur Masse bilden. Es stellt sich dann heraus, dass die in den Anfangsphasen außerparlamentarisch agierende Bewegung sich nicht nur einen merklichen Halt in der Bevölkerung etabliert hat, sondern dass diese Tatsache auch im Parlament registriert wird, was sich für gewisse Herrschaftsparteien durch Koalitionsabkommen und anderen Verbandelungen als willkommener Machzuwachs darstellt.

Es ist die herrschende politische Klasse, die dann dem Faschismus den offiziellen Eingang ins Parlament verschafft. Man hütet sich davor, das, womit man sich verbrüdert hat, Faschismus zu nennen, übernimmt aber realpolitisch die Ideologeme des Faschismus, ein Umstand, der sich erst allmählich herausstellt und vor allem mit faschistischen Prädispositionen der Regierenden korrespondiert, die ihrerseits bei ihrem Wahlvolk (der base) chauvinistisch genährte faschistische Neigungen längst schon ausgemacht haben.

Sobald sich der Faschismus im Parlament etabliert hat, setzt er alles daran, sein neues “Zuhause” zu faschisieren, was sich vor allem in der Institutionalisierung der gesetzmäßigen Zerstörung der formalen Demokratie manifestiert, allem voran in der Auflösung der Gewaltenteilung. Der erste dominante Angriff gilt dabei der Judikative und jenen Justizinstanzen des Staates, die dem Ansinnen der Faschisten, jegliche Form der Kritik an der Herrschaft und ihren Führern “legalen” Einhalt gebieten sollen.

Die machtgefräßige Kolonisierung der parlamentarischen Sphäre bedarf selbstverständlich einer markanten Führungsgestalt, die sich bei der faschistischen Expansion von Anbeginn durch eine diktatorisch-charismatische, ein Machtmonopol beanspruchende Grundeinstellung kennzeichnet. Die Anhängerschaft des Führers erweist ihm eine sich zum autoritären Personenkult steigernde Loyalität, die keine Grenzen kennt und entsprechend jeden Abtrünnigen rabiat niedermacht. So entstehen pauschal konturierte Feindbilder und zugleich eine propagandistische Giftmaschine, die sich in der rabiaten Verfolgung, perfiden Beschmutzung und Neutralisierung bzw. Ausschaltung der Feinde spezialisiert. Feinde sind dabei sowohl ausländische Mächte, die sich dem Faschismus gesinnungsmäßig widersetzen; Feinde sind zudem Gruppen und Kollektive, mit denen man sich offiziell im (kriegerischen) Konflikt befindet; Feinde können aber auch sämtliche oppositionellen Kräfte und Personen in der inneren Gesellschaft und Politik sein. Alles, was die Raison d’être des Faschismus zu unterwandern scheint, an der Autorität des Führers und seinem Machtanspruch rüttelt, die antidemokratischen Ideologeme des Faschismus demokratisch zu delegitimieren trachtet, wird zum Feind erklärt und durch Schikane, Diskriminierung und ständiger Verleumdung bekämpft.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt, an dem sich der Faschismus seiner Macht und Herrschaft gewiss genug ist, setzt auch der Terror ein, mithin die illegale Ausübung der Gewalt durch die “legalen” Apparate, die sich der Faschismus errichtet hat. Begleitet wird dies von einer systematischen Entmachtung der feindlichen Medien, die entweder direkt angegangen oder durch Usurpation auf Linie gebracht werden – Selbstzensur ist an der Tagesordnung, die unübersehbare Vernashornung kritischer Protagonisten verbreitet sich, und zwar in der gesamten Medien- und Kultursphäre.

Der antifaschistische Bürger stellt mit Bestürzung fest, dass das Unglaubliche passiert ist. Seine Gesinnung hat ihn stets wachsam gehalten, er hat die Entwicklungen verfolgt, sah die Zeichen an der Wand, hat protestiert, demonstriert, weigerte sich aber dennoch, daran zu glauben, dass es zum Schlimmsten kommen könnte, dass der Faschismus sich etablieren, zur normierten Realität seines Daseins gerinnen würde. Das Unfassbare hat sich nun verwirklicht – er lebt schon längst im Faschismus; das kollektive Umfeld ist nunmehr faschistisch durchseucht. Er kann nichts mehr an der ihn einfassenden Realität bewirken, schon gar nicht, sie wesentlich verändern. Emigration stand trotz aller Anzeichen einer herannahenden Finsternis nicht wirklich zur Debatte. Er kann im unfassbar Bestehenden nur “weiterleben”. Die alte Berlinerin ist schon vor vielen Jahren in Israel gestorben. Was würde sie heuten über das Land sagen, in das ihre Familie 1939 emigrierte, um dem nazistischen Deutschland zu entkommen?

Moshe Zuckermann

Moshe Zuckermann wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete. 2018 wurde er emeritiert.
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Erstveröffentlicht im Overton Magazin v. 29.11. 2025
https://overton-magazin.de/top-story/man-konnte-noch-weiterleben/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Militarisierung des Gesundheitswesens – Veranstaltung

Diskussion zur Militarisierung des Gesundheitswesens mit KAF (Kollektiv für Anarcho Feminismus) und Friends

10.Dezember 2025, 18 Uhr
Rote Lilly, Emser Str. 114, Sprache: Deutsch

Die laufende Militarisierung der Gesellschaft macht auch vor dem Gesundheitswesen keinen Halt. Wir informieren in unserem Vortrag über geplante Maẞnahmen zur Militarisierung des Gesundheitswesens, die Kontexte in denen diese geplant werden und historische Kämpfe dagegen.

Anschlieẞend wollen wir gemeinsam mit euch diskutieren und uns austauschen. Was meinen wir wenn wir von Frieden sprechen?

Wie können wir im Alltag gegen die Normalisierung des militärischen Mindset argumentieren? Wir freuen uns auf euch!

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