GAZA – ein unentrinnbares Inferno für die Zivilbevölkerung droht!

Wie die Tageschau gestern meldete, sollen laut UN Angaben in den nächsten 24 Stunden 1,1 Millionen Menschen die Stadt Gaza verlassen und sich in den Süden des Gaza-Streifens begeben .Das israelische Militär habe die Vereinten Nationen darüber unterrichtet. Der Befehl des israelischen Militärs gelte auch für Mitarbeiter der UN und Hilfsorganisationen.

Durch das Setzen eines Zeitkorridors zur Flucht der Zivilbevöllkerung wollen wohl Israel und der verbündete Westen den Eindruck erwecken, Israel sei weit möglichst auf die Einhaltung von Völkerrecht und Schutz der Zivilbevölkerung bedacht ! Tatsächlich aber wird die gesamte Bevölkerung des Gaza für das barbarische Gemetzel der Hamas in Geiselhaft genommen und mit einem nahezu beispielosen Inferno bedroht.

Laut Washington Post vom 13.10.23 habe Israel als Reaktion in einer Woche schon mehr Bomben über Gaza abgeworfen als die USA in Afganistan in einem ganzen Jahr. Gaza sei aber 1811 mal kleiner als Afganistan. Bisherige Bilanz der israelischen Vergeltung: 6000 Bomben, 1800 Getötete , darunter 533 Kinder, 6388 Verletzte.

Israel hat ausserdem seit Tagen für den gesamten Gazastreifen die Wasser-, Lebensmittel- und Stromversorgung blockiert. Eine Bevölkerung von der für ihr Überleben notwendigen Infrastruktur vollkommen abzuschneiden, auch das ist ein Kriegsverbrechen. Die extremen Gräueltaten der Hamas können keinerlei Rechtfertigung dafür sein.

Auch lesen zum Thema  "“Jüdische Stimmen” zum Aktuellen Gaza-Krieg und zur Gewalteskalation In Israel"

Gaza gleicht einem Käfig, in dem bereits seit Jahrzehnten 2,3 Millionen Menschen unter miserabelsten Lebensbedingungen zusammengepfercht sind. Mehr als die Hälfte der Gaza Bevölkerung soll nun binnen eines einzigen Tages in die andere Hälfte dieses Käfigs weiter zusammengedrängt werden. Kranke, Alte, Kinder, Verwundete werden ihrem Schicksal überlassen. Die Menschen müssen ihre schützenden Häuser verlassen und im Bombenhagel fliehen. Allein die überstürzte Fluchtbewegung, die durch das Ultimatum des isrealischen Militärs jetzt ausgelöst wird, könnte laut Hilfsorganisationen mehr menschliche Tragödien und unschuldige Opfer zur Folge haben als der auslösende Anschlag der Hamas. Von den Opfern einer anschliessenden Bodenoffensive und den damit verbundenen langfristigen „Kollateralschäden“ ganz zu schweigen. Kaum einer der Eingepferchten hat die Chance, diesem Ghettto und Inferno zu entkommen!

Viele Menschen, so wird berichtet, schreiben ihren Namen auf ihre Hände., damit man sie später wenigstens identifizieren könne ( Majd Azhari)

Weltweit droht eine Welle der Empörung, nicht nur aus der arabischen Welt. Auch die UN warnt. „Die Vereinten Nationen halten es für unmöglich, dass eine solche Bewegung ohne verheerende humanitäre Folgen stattfinden kann“, hatte UN-Sprecher Stéphane Dujarric nach der israelischen Mitteilung erklärt. Er appellierte nachdrücklich, dass ein solcher Befehl, sollte er bestätigt werden, zurückgenommen werde, um zu verhindern, dass sich die ohnehin schon tragische Situation zu einer absoluten Katastrophe entwickle. Auch die Staatschefs der meisten Länder Südamerikas warnen vor einer solchen Entwicklung. So appellierte der Brasilianische Präsident Lula da Silva per Kurznachrichtendienst X an die Weltöffentlichkeit und die Vereinten Nationen, sich – im Einklang mit dem Völkerrecht und den UN-Resolutionen – für eine sofortige Aufnahme von Verhandlungen für eine Lösung des Konflikts einzusetzen, „die die Existenz eines wirtschaftlich lebensfähigen palästinensischen Staates garantiert, der mit Israel friedlich innerhalb von für beide Seiten sicherer Grenzen koexistiert“.

Dass Menschen in Deutschland, die sich dieser Kritik der UN anschliessen und diesbezüglich mit den Palästinensern solidarisch erklären, als „Antisemiten“ diffamiert und mundtot gemacht werden sollen bzw. sich sogar mit der Polizei konfrontiert sehen, ist ein besonderer Skandal. Nicht einmal in den USA oder Israel selbst werden Meinungsfreiheit und Demonstratiosnrechte hierzu in solchem Ausmaß eingeschränkt. Wohlgemerkt, es geht NICHT um das Abfeiern des Hamas Anschlags, sondern um das Eintreten für die Menschenrechte von Allen beteiligten Völkern.

Die „Menschenrechtsshow“ nehmen dem Westen, besonders aber unserem Land , so immer weniger Menschen in dieser Welt ab.

Bedingungsloses und kritikloses Unterstützen der isrealischen mit rechtsextremen Ministern durchsetzten Regierung und Armee leistet dabei dem Antisemetismus gefährlichen Vorschub. Zur Anerkennung des Existenzrechts von Israel gehört eben unabdingbar die Anerkennung der Rechte der Palästinenser, die Aufhebung der Besatzung und aller Repressionen sowie die Befreiung von geopolitischer Instrumentalisierung nicht zuletzt auch durch die USA . Ohne an die Behebung der Ursachen für den gegenseitigen Hass ranzugehen, droht die Spirale von Leid, Hass und Gewalt, aber eben auch Antisemetismus, immer weiter zu eskalieren. Ebenso der Ausbruch eines militärischen Fläschenbrandes .

Und wie der Anschlag der Hamas gezeigt hat: kein noch so ausgeklügeltes Sicherheits- und Abschottungssystem wird dann uns ALLE vor der sich immer weiter ausbreitenden Barbarei schützen können!

Der Blogger Fabian Lehr hat die Situation gestern Abend wie folgt kommentiert:

„Israelsolidarische Linke“ rühmen die Tatsache, dass Israel kurz vor dem wahrscheinlichen Beginn der Bodenoffensive die Bevölkerung warnt, gerade als Beleg für die Humanität der israelischen Kriegführung. Das ist doch aber ein schlechter Witz.

Wohin genau sollen diese Leute denn gehen? Sollen jetzt 1,1 Millionen Menschen während möglicherweise wochen- bis monatelanger Kämpfe einfach irgendwo auf einem Feld kampieren? Ohne sanitäre Einrichtungen, ohne Wasser, ohne Essen? Stellt Israel denn nun wenigstens die Luftangriffe auf den südlichen Teil des Gazastreifens ein? Nein, es wird im gesamten Gazastreifen weitergebombt, sprich: Wer jetzt nach Süden flieht und irgendwo im Freien zeltet, hat dort nicht einmal das bisschen prekären Schutz gegen Bomben und Splitter, den Keller und Hausmauern bieten können.

Und schließlich: Können die Leute denn damit rechnen, dass sie jemals wieder zurückkehren können, wenn sie jetzt gehen? Wer weiß denn, welche Pläne Israel mit dem Norden des Gazastreifens hat, wenn die Invasion einmal erfolgreich abgeschlossen und die Bevölkerung weg ist? Vielleicht wird das Gebiet dann dauerhaft als leere Sicherheitszone eingerichtet oder gar für israelischen Siedlungsbau freigegeben – wie soll man das wissen? Historisch hat Israel Flucht palästinensischer ZivilistInnen immer wieder als Vorwand genutzt, das Gebiet für „freiwillig verlassen“ zu erklären, die Häuser und Siedlungen in Besitz zu nehmen und ihren BewohnerInnen die Rückkehr zu verweigern. Zigtausende ZivilistInnen werden sich jetzt entscheiden, das Risiko des Bleibens zu tragen statt das Risiko, möglicherweise nicht mehr zurückkehren zu können.

Natürlich wird das alles den israelischen Streitkräften vollkommen klar sein und dass die Annahme lächerlich ist, man könne per simpler Aufforderung eine Großstadt innerhalb von ein paar Stunden von ZivilistInnen leeren und dort dann einen „sauberen“ Bodenkrieg führen. Diese Aufforderung hat doch wohl eher einen ganz anderen Zweck. Die israelischen Streitkräfte wissen, dass eine große Bodeninvasion zwangsläufig zu ungeheuren zivilen Opferzahlen führen wird und Israel in der Welt nicht so positiv dastehen wird, wenn es in Gaza vielleicht zehntausende zivile Todesopfer geben wird. Und gegen diese erwartete Abscheu will man sich eben im Voraus eine Legitimation verschaffen, indem man sagt: „Wir haben sie ja gewarnt, aber sie wollten unbedingt bleiben, statt sich in Sicherheit zu bringen! Also haben sie ihr Schicksal selbst gewählt und sind wahrscheinlich eh auch Hamas-Unterstützer.“

Es geht nicht darum, ein Blutbad unter ZivilistInnen zu verhindern. Sondern darum, dieses erwartete Blutbad später der Weltöffentlichkeit ggü. schönreden zu können.“

Fabian Lehr ist linker Österreichischer Blogger. Hier der link

Isrealische Stimmen zur aktuellen Eskalation, unsere weiteren Beiträge dazu:

Inteview Moshe Zuckermann: „Dass viele Zivilisten im Gazastreifen umkommen, hat Israel nie bekümmert“

Von Gideon Levy: "Israel kann nicht 2 Millionen Menschen in Gaza gefangen halten, ohne einen grausamen Preis dafür zu bezahlen."

"“Jüdische Stimmen” zum Aktuellen Gaza-Krieg und zur Gewalteskalation In Israel"    

"Berliner Gewerkschafter:innen mobilisieren gegen Aufrüstung und Krieg! "

Moshe Zuckermann: „Dass viele Zivilisten im Gazastreifen umkommen, hat Israel nie bekümmert“

Wir freuen uns, dieses sehr informative und politisch abgewogene Interview mit Moshe Zuckermann hier veröffentlichen zu können und hoffen, dass es dazu beiträgt, auch in diesem Konflikt zu begreifen, dass er nicht zu lösen ist, indem man ihn eskaliert, sondern seine Ursachen angeht. (Jochen Gester)

Bild: You Tube Video. Sreenshot.

Florian Rötzer interviewt Mosche Zuckermann

Abschrift des Gesprächs: Warum war Israel nicht auf den Angriff vorbereitet? Profitiert Netanjahu? Was war das Ziel der Hamas und was ist das Ziel Israels, wenn es den Gazastreifen in Schutt und Asche legt?

Lieber Moshe, ich muss dich zuerst gleich einmal fragen, wie denn das Leben in Israel im Augenblick so ist. Warst du auch überrascht von diesem Angriff?

Moshe Zuckermann: Israel gibt es ja nicht. In Tel Aviv ist die Situation ganz anders als in den Ortschaften und Kibbuzim im Süden, nahe am Gasastreifen sind. Gleiches gilt übrigens, wenn die Hisbollah aus dem Norden angreifen würde. Die Stimmung im Land ist natürlich unter Schockwirkung.

Früher war Tel Aviv relativ sicher vor den Raketen aus dem Gazastreifen. Die Reichweite der Raketen ist mittlerweile größer?

Moshe Zuckermann: Die haben Mittel- und Langstrecken-Raketen. Also die Hamas weniger, aber die Hisbollah, die vom Iran beliefert worden sind, haben mittlerweile Raketen, die jeden Ort in Israel erreichen können. Aber es ist auch immer eine Erwägung wie jetzt von der Hamas. Sie wissen, wenn sie Tel Aviv allzu heftig beschießen, dass dann die Reaktion von Israel auch viel heftiger sein wird, weil die Bevölkerung hier größer ist. In Tel Aviv ist es jetzt schlimm, aber gemessen daran, was andere Teile des Landes durchzumachen haben, ist es ein Klacks.

Die Stimmung ist natürlich sehr gedrückt. Teilweise merkst du auch in den Medien, dass man unter Schockwirkung steht. Dass es zu einer Eskalation kommen könnte, war seit Jahren immer wieder zu erwarten, aber dass es zu dem kommt, was jetzt eingetreten ist, ist präzedenzlos. Das haben wir in Israel noch nie erfahren. Vonseiten der Palästinenser war das schon gut vorbereitet und orchestriert, also dass sie fähig waren, die Mauer zu neutralisieren, die Israel mit vielen Milliarden erbaut hat, dass sie fähig waren, von der Luft, als auch vom Meer zu kommen, und dass es so eine Masse war, die durch die aufgerissene Mauer kam.

Es soll über 1000 Hamas-Kämpfer gegeben haben. Warum sage ich Hamas-Kämpfer und nicht Terroristen?

Man hat allein 1500 Hamas-Kämpfer in Israel getötet. Es müssen also wahrscheinlich mehr gewesen sein.

Moshe Zuckermann: Ja, aber nicht beim ersten Angriff. Die sind nach und nach gekommen. Beim ersten Schlag, glaube ich, sind es 1000 gewesen, dann wurden aber immer wieder Leute infiziert. Ich sage das, als wäre das schon Wochen her. Ich wollte sagen, dass mittlerweile auch selbst die Hardliner sagen, dass Hamas keine Terrororganisation mehr ist, weil das schon eine Armee-Operation war. Man muss aufhören, von der Terrorbewegung zu sprechen, man muss vom Hamas-Staat, von der Hamas-Armee und eben von diesen Hamas-Kämpfern sprechen.

Wenn der Angriff so gut organisiert war, muss er lange geprobt und koordiniert worden sein. Die Kämpfer müssen ausgebildet  worden sein. Manche flogen mit Gleitschirmen ein, die müssen auch vorher in der Luft gewesen sein. Die große Frage ist natürlich, warum man auf den Angriff nicht vorbereitet war? Was war da los?

Moshe Zuckermann: Das ist die 6-Millionen-Dollar-Frage. Ähnlich wie beim Jom-Kippur- oder Oktober-Krieg von 1973 haben die Geheimdienste total versagt. Man hätte es wissen können. Es heißt sogar, dass Israel vom ägyptischen Geheimdienst einen Tipp bekommen hatte, Netanjahu stellt das jedoch in Abrede. Aber wenn man nicht überheblich und arrogant die Einschätzung angenommen hätte, dass uns vom Gazastreifen im Moment keine Gefahr droht, hätte man das wissen können. Das ist so, wie es im Oktober 1973 war. Damals gab es Geheimdienstoffiziere, die gesagt haben, da spielt sich was ab, da finden Vorbereitungen statt, aber die Einschätzung war, dass Israel weder von Syrien noch von Ägypten bedroht ist.

Seltsam ist doch, dass der Gazastreifen wahrscheinlich gut von Israel überwacht wird. Die Geheimdienste haben Spitzel, die Mauer ist mit Kameras und Sensoren gespickt, Drohnen überwachen das Gebiet.

Moshe Zuckermann: Man wusste, dass sich etwas tut. Und wie gesagt, es gab sogar einen Tipp vonseiten des ägyptischen Geheimdienstes. Die Frage ist ja nicht so sehr, ob man es hätte wissen können, ob man wirklich die Mittel gehabt hätte, es besser zu wissen, sondern das, was man schon 1973 und jetzt wieder die Konzeption genannt hat. Die Konzeption war 1973, uns droht im Moment von Ägypten und von Syrien nichts. Diese Konzeption hat die Wachsamkeit eingeschläfert. Dann sind die Menschen mehr oder weniger in einer Haltung der Unachtsamkeit verfallen. Die Konzeption jetzt war,  dass es den Bewohnern des Gazastreifens ökonomisch dermaßen schlimm geht, dass sie sich ruhig verhalten werden, wenn Katar Gelder bereitstellt und wir Israelis noch 20.000-30.000 Arbeitsplätze bzw. Arbeitsmöglichkeiten schaffen. Das war die Konzeption. Wenn man davon überzeugt ist, dann kann man es sich auch beispielsweise leisten, die Einheiten, die die Ortschaften und Kibbuzim an der Grenze zum Gazastreifen beschützen und bewachen sollten, in das Westjordanland zu verlegen, weil die Siedler, was weiß ich, irgendwelche religiöse Feste feiern wollten.

Man muss auch bedenken, wer die für Ordnung verantwortlichen Minister sind. Das sind die Nationalreligiösen Ben-Gvir und Smotrich, der  selber ein Siedler ist. Er zog die Einheiten ab und dann gab es sie eben am Gazastreifen nicht. Ich kann mich erinnern, ich war am Samstagmorgen um 6.30 Uhr an einer Tankstelle, als ich von dem Angriff hörte. Bis dann das Militär an den Orten war, die von den Hamas besetzt worden sind, hat es sieben Stunden gedauert. In militärischen Kategorien ist das sozusagen ein Weltuntergang, weil inzwischen die Leute diese Massaker einrichten konnten. Das heißt, es gab überhaupt keine Gegenwehr. Es gab natürlich heldenhafte Reaktionen von Menschen in den Kibbuzim. Leute haben teilweise wirklich Unglaubliches geleistet. Aber das Militär hat versagt.

Ja, den Eindruck hat man. Aber man könnte auch den Eindruck gewinnen, als würde es eigentlich der Netanjahu-Regierung recht kommen. Die Protestbewegung ist mittlerweile erledigt. Es soll eine Notstandsregierung mit der Opposition gebildet werden. Warum braucht man diese Notstandsregierung eigentlich überhaupt?

Moshe Zuckermann: Na ja, weil Benny Gantz und selbst Lapid, der den ehemaligen Generalstabschef Eizenkot bei sich hat, erfahrene Militärmenschen sind. Wen hat Netanjahu im Moment außer seinem Verteidigungsminister Gallant? Mit wem will er in seinem Kabinett Krieg führen? Mit Ben-Gvir, der nicht im Militär gedient hat, mit Smotrich, der keine Ahnung hat vom Tuten und Blasen? Von den Religiösen rede ich schon gar nicht, die waren ja nicht beim Militär. Mit wem soll er diesen Krieg führen? Das war deshalb ein Vorschlag von Gantz, um sich zeitweise einzuschalten. Er war ja immerhin Verteidigungsminister und auch Generalstabschef. Eizenkot war Generalstabschef, also das sind ganz andere Leute.

Dass Netanjahu der Angriff zurechtgekommen ist, steht ganz außer Zweifel. So sehr, dass es sogar schon eine kleine Verschwörungstheorie aus dem Ausland gibt, dass Israel das mit initiiert hat. Das ist übrigens ein altes Muster, wenn man im Inneren Probleme hat, muss man eine Bedrohung von außen schaffen, um die inneren Probleme zu beseitigen. Ich kann allerdings nicht glauben, dass Netanjahu so weit gegangen ist, 1000 Leute zu opfern, nur damit die Protestbewegung zum Stillstand kommt.

Was die Protestbewegung anbelangt, so weißt du ja, dass dann, wenn die Kanonen donnern, alles still hält. Dann darf auch nicht kritisiert werden. Ich hoffe, wenn der Krieg vorbei sein wird, was noch Wochen oder vielleicht sogar Monate dauern kann, denn man hat sich ja mit der Eliminierung von Hamas etwas vorgenommen, das eine ganze Menge Zeit erfordert, dass dann eine Protestbewegung wie nach dem Oktoberkrieg von 1973 entsteht. Es gab da den Offizier Motti Ashkenazi, der Schlimmstes am Suez-Kanal erlebt und dann mit einer Ein-Mann-Demonstration begonnen hatte. Innerhalb kürzester Zeit wurde das eine Massendemonstration, die so lange auf die Einrichtung einer Untersuchungskommission insistierte, dass letztendlich die Arbeitspartei die Herrschaft verloren hat. Das ebnete den Weg zu 1977, als dann Likud zusammen mit der Arbeitspartei an die Regierung kam.

Also ich hoffe, dass etwas entsteht und man auf jeden Fall sagt, diesmal kommt ihr nicht davon. Ihr habt Verbrecherisches begangen, ihr habt die Sicherheit vernachlässigt, ihr seid ja nicht kompetent. Diese Nachlässigkeit kann man nicht akzeptieren, wenn dann so etwas geschieht.

Allerdings kenne ich ja auch meine Pappenheimer, wie es so schön auf Berlinerisch heißt. Die Likud-Leute sind dermaßen Netanjahu-hörig, dass ich mir gut vorstellen kann, dass sie ihm folgen werden, wenn er anfängt, wieder irgendwelche Alternativ-Narrative herzustellen. Kommentatoren meinen im Augenblick, dass er versuchen wird, die Schuld auf das Militär zu schieben, um die Politik unbeschadet zu lassen. Ob das klappen wird, muss man sehen. Im Moment haben viele in Israel das Vertrauen nicht nur in die Regierung, sondern auch in das Militär verloren. Ganz ohne Zweifel hat das Militär versagt. Sie haben jetzt angefangen, Gaza massenweise zu bombardieren, aber sie waren nicht an der Stelle, wo sie hätten sein sollen.

Die Hamas-Kämpfer sind ja sehr brutal vorgegangen. Es fanden richtige Massaker statt. Und jetzt antwortet Israel mit einem Massenbombardement, wo gar nicht zu vermeiden ist, dass auch sehr, sehr viele Zivilisten, Kinder und Frauen umkommen werden. Es werden ganze Stadtteile, wie man auf Bildern sieht, zerbombt. Steht denn zu erwarten, dass Israel plant, in den Gazastreifen mit Bodentruppen vorzugehen? Oder wie stellt man sich die Eliminierung von Hamas eigentlich vor? Selbst wenn die meisten Hamas-Kämpfer mit ihren Familien eliminiert wären, würde der Hass bleiben. Er wird eine notwendige Folge sein.

Moshe Zuckermann: Also die abstrakte Antwort auf deine Frage ist, dass dieser Konflikt ohne Frieden nie beigelegt werden wird. Aber jetzt konkret bezogen auf Hamas: Man fängt immer mit Bombardements aus der Luft an, um die Gebäude flach zu legen. Es kann aber dazu kommen, und das ist auch vermutlich geplant, dass es einen Bodentruppeneinsatz gibt. Und das wird dann ein Blutbad für alle sein. Dann werden viele geopfert werden. Die Tatsache, dass viele Zivilisten im Gazastreifen dabei umkommen, hat Israel nie bekümmert. Benny Gantz, von dem alle so große Stücke halten, hatte seine politische Karriere mit dem Spruch begonnen, um sich selbst zu profilieren, dass er im Krieg von 2014, als er Generalstabschef war, 1400 Palästinenser getötet habe. Davon waren über 800 Leute Frauen und Kinder. Das hat ihm aber nicht geschadet. In Israel hat man ganz im Gegenteil gesagt, das ist okay. Über die palästinensischen Opfer macht sich sowieso niemand Gedanken.

Ein Bodentruppeneinsatz könnte deswegen kommen, weil man durch die Luft nie eine Schlacht entscheiden kann, und schon gar nicht bei einem Guerillakrieg, wenn die Kämpfer sich verstecken. Es muss dann von Haus zu Haus gekämpft werden. Im Fall von Gaza gibt es unter der Erde eine ganze Stadt, die nur mit bunkerbrechenden Bomben zerstört werden kann. Aber auch dann müssen die Tunnels, wie es im Militärjargon heißt, gesäubert werden, was nur durch Bodentruppen geschehen kann.

Israel schikaniert im Grunde genommen den Gazastreifen schon seit 20 Jahren und beschwört immer wieder humanitäre Krisen herauf, wie jetzt auch wieder, wenn die Wasser- und Stromversorgung abgestellt wird. Es ist vollkommen klar, dass dieses Israel im Grunde genommen über die Jahre  der Aggressor gewesen ist. Die Tatsache, dass man jetzt einen Schlag ins Gesicht bekommen haben, lässt Netanjahu und Israel als Opfer erscheinen. Und es ist bezeichnend, dass Netanjahu, der von Präsident Biden ein Jahr lang hingehalten wurde und er ihn nicht treffen wollte, plötzlich von ihm angerufen worden ist und er mit ihm schon mehrfach gesprochen hat. Biden sagte, wir stehen ganz hinter euch, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich. Sofort haben sich auch Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien solidarisiert. Es konnte nichts besseres passieren, wenn ich das mal so zynisch sagen darf. Die Frage ist, ob das schon das letzte Wort gewesen ist. Davon bin ich nicht überzeugt. Es könnte durchaus auch dazu kommen, dass er noch den Preis wird zahlen müssen.

Was bezweckt eigentlich die Hamas? Was meinst du? Es war ja klar, dass es Selbstmordkommandos waren, die militärisch nichts erreichen konnten, außer dass sie Massaker veranstalten oder Geiseln zu verschleppen. Besteht die Möglichkeit, dass sich weitere Gruppen aus der arabischen Welt solidarisieren, beispielsweise die Hisbollah?

Moshe Zuckermann: Im Moment steht zur Debatte, ob die Hisbollah vom Norden her angreifen wird. Dann haben wir einen Zweifrontenkrieg. Was die Hamas bezweckt, ist eigentlich bekannt. Sie hat ja den größten Feind unter den Palästinensern, das ist die PLO. Sie versuchen seit Jahren, sich der PLO gegenüber zu profilieren und das Westjordanland anzustacheln, mit Terroraktionen zu beginnen. Es ist eine fundamental religiöse Bewegung, das sind islamistische Fundamentalisten. Sie haben in letzter Zeit versucht, sich als die Beschützer von Al-Aksa darzustellen, die PLO sei dazu nicht imstande, weil sie mit Israel kooperiert.

Die Aktion hatte also den Zweck, sich als die einzigen zu profilieren, die heute gegen Israel einen Widerstand leisten. Das ist tatsächlich die Hamas. Sie haben sich bei dieser Aktion als barbarische Bewegung erweisen. Aber wir haben auch unsere eigene Barbaren, es ist nicht nur so, dass nur sie die Barbaren sind. Bei der Aktion ging es nicht nur um das Erobern, sondern auch darum, ganze Familien zu meucheln. Die haben ja Frauen und Kinder getötet oder sie als Geiseln genommen, auch Kleinstkinder mit ihren Müttern. Also das ist ja unvorstellbar.

Das Vorbild ist der Islamischer Staat, oder? Auch dass man die Aktionen filmt und zeigt, wie brutal man vorgeht.

Moshe Zuckermann: Das ist auch das, was Netanjahu in seiner Rede gesagt hat. Wir wissen genau, was Hamas ist. Hamas ist Daesch. Die Frage, die sich jetzt im Moment stellt, ist, ob Hamas nicht dieses Mal einen Schritt zu weit gegangen ist, was Israel anbelangt, und sie jetzt den schwersten Preis zahlen müssen, also dass wirklich der ganze Gazastreifen in Schutt und Asche gelegt und Hamas liquidiert wird. Heute hat man schon angefangen, ihre Führer zu liquidieren.

Verteidigungsminister Gallant hat ja gesagt, man werde den Gazastreifen abschotten, kein Strom, kein Wasser, keine Lebensmittel, nichts mehr. Das ist eigentlich die Ankündigung eines Kriegsverbrechens, worauf weltweit nicht besonders reagiert wurde.

Moshe Zuckermann: Aber weißt du warum? Weil die es im Moment geschafft haben, sich selber als Opfer so darzustellen, weswegen sie jetzt zu allem legitimiert sind. Es ist so Schlimmes passiert. Das ist das Argument, dass wir jetzt legitimiert sind. Übrigens war das das Grundmuster in den letzten Jahren. Wir haben die Schoah erlebt. Also dürfen wir zu unserer Sicherheit alles tun. Das ist dasselbe Muster, das sich jetzt irgendwie im Kleinen perpetuiert.

Ich frage mich, wenn man die Hamas als menschliche Tiere bezeichnet, wie das Gallant gemacht hat, wie wirkt sich das auf das Verhältnis der Israelis zu den Arabern im eigenen Land und auf die Bevölkerung vom Westjordanland aus?

Moshe Zuckermann: Was die Israelis von Hamas zu halten haben, das wissen sie ja schon seit Jahren. Man vergisst nur immer wieder, wer Geburtshelfer der Hamas gewesen ist, das waren die Israelis. In den 1970er und 1980er Jahren wurde Hamas gefördert, teilweise auch finanziert, um einen Keil zwischen den Hamas-Palästinensern und den PNO-Palästinensern zu schieben. Über Jahre war das auch die Politik von Netanjahu:  Hamas darf nicht gestürzt werden. Wir bekämpfen sie, bombardieren sie, aber sie dürfen nicht gestürzt werden. Wir brauchen ja Hamas. Das war bis vor kurzem mehr oder weniger die Politik. Jetzt, wo die Katastrophe über Israel hereingebrochen ist, gibt er sich großartig in seiner Rhetorik. Aber ich glaube, dass man nie vergessen darf, dass die Geister, die man selber rief, man nicht wieder los wird. Also Hamas ist mittlerweile das geworden, was es geworden ist. Aber wer Hamas gefördert hat, war unter anderem Israel.

Gibt es jetzt schon Spannungen innerhalb von Israel zwischen den arabischen Israelis und den Juden?

Moshe Zuckermann: Man befürchtet, dass es wieder kommen kann wie im Mai letzten Jahres, als es in den gemischten Städten wirklich zu Gewaltausbrüchen gekommen ist. Es ist bislang noch nicht passiert. Es gab einen Artikel in Haaretz von einem von mir sehr geschätzten arabischen Publizisten, in dem er schrieb: Hört auf gegen die Araber im Land zu hetzen. Wir sind nicht schuld an dem, was passiert, und ihr müsst aufhören mit dieser Hetze. Aber im Moment hat sich noch nichts ergeben. Ich glaube, es gab auch keine allzu großen Solidaritätskundgebungen seitens der israelischen Araber, weil es eben so horrend gewesen ist, was da passiert ist. Es waren nur ganz wenige, die gejubelt haben.

Und wie ist es im Westjordanland?

Moshe Zuckermann: Im Westjordanland gab es Freudenausbrüche, aber auch nicht groß, weil die genau ja auch wissen, dass PLO und Hamas verfeindete Lager sind. Wenn es allerdings zu einem Zwei-Fronten-Krieg kommen sollte, also vom Süden durch Hamas und von Norden durch Hisbollah, dann kann es auch sein, dass vom Osten des Landes, also vom Westjordanland, Terroraktionen ausgelöst werden. Im Moment ist das noch nicht der Fall.

Besteht dann die Gefahr, falls die Hisbollah tatsächlich eingreifen, dass dann auch die USA intervenieren und dann irgendwie auch ein Krieg mit Iran beginnen könnte.

Moshe Zuckermann: Wenn man in einen Krieg einsteigt, weiß man nie, wie der Krieg sich entfaltet. Das ist  ein alter weiser Spruch von Militärmenschen. Du weißt, wie du beginnst, du weißt aber nie, wie du endest. Die Amerikaner haben schon einen Flugzeugträger geschickt, der im Mittelmeer kursiert. Das war auch 1973 so. Biden hat auch gewarnt, dass keine andere Länder oder Bewegungen wagen sollten, sich hier einzumischen. Das war mehr oder weniger an Hisbollah und an den Iran gerichtet. Dass die ihre eigenen Pläne haben, das wissen wir. Man kann jetzt aber nicht prognostizieren, wie das verlaufen wird. Auch die Hisbollah kann kein allzu großes Interesse daran haben, dass Beirut ein zweites Mal in Schutt und Asche gelegt wird, das haben die Israels schon mal gemacht. Mit Provokationen sind sie aber immer dabei.

Wenn es einen größeren Krieg geben sollte, dann Gnade uns Gott im ganzen Land. Die Hisbollah ist ja ganz anders bewaffnet als die Hamas. Die Hisbollah hat Raketen, die jeden Ort in Israel erreichen können. Also wenn es dann zu einem Krieg kommt, zu einem Regionalkrieg mit Iran und Hisbollah, dann kann es sehr wohl sein, dass Tel Aviv in Schutt und Asche gelegt wird. Aber es wird dann auch nichts von Teheran oder von Beirut übrigbleiben. Jetzt gibt es ein Gleichgewicht des Schreckens. Aber wenn man sich auf einen Regionalkrieg einlässt, braucht der nicht nuklear sein, er kann durchaus konventionell sein. Und natürlich ist es so, das darf ich zwar nicht sagen, weil ich ja nichts weiß, ich kann es nur aus fremden Quellen beziehen, was ich jetzt gerade sage: Sollte Israel in seiner Existenz bedroht sein, dann gibt es natürlich auch die Endzeitwaffe, also die apokalyptische Waffe, die Israel in Besitz hat.

Hamas stellt aber keine Existenzbedrohung von Israel dar?

Moshe Zuckermann: Nein. Deshalb hinkt der Vergleich mit dem Jom-Kippur-Krieg auch. Man könnte es eher mit Pearl Harbor oder 9/11 vergleichen. Weder im Fall von Pearl Harbor noch bei 9/11 waren die USA in ihrer Existenz bedroht. Im Oktober 1973 war Israel allerdings in seiner Existenz bedroht.

Ich stelle mir jetzt vor, es findet ein mehr oder weniger totaler Vernichtungskrieg gegen die Hamas im Gazastreifen statt und man wird wahrscheinlich große Teile in Schutt und Asche legen. Man hat schon die Bevölkerung aufgefordert, den Gazastreifen zu verlassen. Ägypten hat das aber abgelehnt.

Moshe Zuckermann: Sie haben keine andere Möglichkeit.

Aber gibt es eine Idee, was am Ende dieses Krieges stehen könnte, also wie man mit dem Gazastreifen umgeht? Baut man die Mauer wieder höher oder was ist das Ziel?

Moshe Zuckermann: Ja, das ist eine ausgezeichnete Frage, denn das ist auch das, was die Experten und die Fachleute sagen. Okay, wir wissen, dass Israel fähig ist, den Gazastreifen in Schutt und Asche zu legen, aber zu welchem Zweck? Was sollte denn danach kommen? Wer soll das dann noch verwalten? Was soll denn dann dort sein? Und es ist ja vollkommen klar, dass man mit so einem Akt alle Israelfeinde und alle radikalen Gruppen in der palästinensischen arabischen Welt nur legitimieren wird. Es ist eine Katastrophe in Israel passiert, aber sie wird eine Kleinigkeit sein gegenüber der Katastrophe, die die Palästinenser im Gazastreifen erleiden müssen. Wenn man nicht in irgendeiner Weise auch eine politische Lösung mitdenkt, dann würden sogar die Vereinten Nationen sagen: „Okay, Hamas ist ausgeschaltet. Jetzt aber bitte Frieden und politische Initiativen.“ Das wird in Israel noch überhaupt nicht diskutiert.

Hast du eine Ahnung, wie die Bevölkerung im Gazastreifen gestimmt ist? Da stehen ja vermutlich nicht alle hinter Hamas.

Moshe Zuckermann: Die Allermeisten stehen nicht hinter Hamas. Es gibt auch Stimmen in der arabischen Welt, die sagen, dass das, was die Hamas jetzt gemacht haben mit der jüdischen Bevölkerung, wo Frauen und Kinder massakriert oder als Geiseln genommen worden sind, gegen den Koran verstößt. Das ist nicht islamisch.

Aber es gibt keine Bewegung innerhalb der Bevölkerung in Gaza, die einen Widerstand leisten könnte?

Moshe Zuckermann: Das können sie auch nicht, weil sie selber im Krieg sind und im Gazastreifen eine Diktatur herrscht, die brutal ist. Ich kenne Leute aus dem Gazastreifen und weiß, unter welcher Angst sie dort leben. Sie trauen sich nicht, mit irgendjemanden in Israel ein Telefongespräch zu führen, weil dann sofort die Leute von Hamas kommen und mit Folter drohen. Ich glaube, eine Bewegung aus dem Gazastreifen ist im Moment nicht denkbar. Aber wer weiß, wenn es zum Schlimmsten kommt, könnte es auch zu einem Volksaufstand kommen. Dann wird Hamas nur noch die eigenen Leute massakrieren können.

Die Menschen könnten ja auch hoffen, dass die Hamas eliminiert werden.

Moshe Zuckermann: Das sagte ich ja. Aber nur unter der Voraussetzung: Gut, ihr habt für uns die Arbeit gemacht, ihr habt Hamas eliminiert, aber jetzt macht doch die Arbeit weiter. Wir wollen jetzt auch eine politische Lösung, nicht nur für den Gazastreifen, sondern auch für das Westjordanland. Wir wollen jetzt endlich mal dieses Gebiet pazifizieren. Aber davon kann in Israel im Moment nicht die Rede sein.

Auch von der Opposition ist da im Augenblick nichts zu sehen.

Moshe Zuckermann: Die Opposition in Israel. Wer ist das? Ein Mann wie Benny Gantz. Der ist zwar nicht ein Netanjahu, weil er ein ehrlicher Mensch ist, aber er ist politisch und militärisch gar nicht so weit von Netanjahu entfernt. Liebermann ist heute in der Opposition. Er ist einer der lautesten Stimmen, die im Moment eine verbrannte Erde fordern. Also von der Opposition in Israel ist nichts zu erwarten. Ich erhoffe mir etwas von der Protestbewegung, wenn sie sich nach dem Krieg wieder konsolidieren sollte. Aber das muss man  erst einmal abwarten.

Das Gespräch wurde am Mittwoch, den 10.10.2023, um 15 Uhr geführt.

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Von Gideon Levy: Israel kann nicht 2 Millionen Menschen in Gaza gefangen halten, ohne einen grausamen Preis dafür zu bezahlen.



Erstveröffentlich im overton Magazin
https://overton-magazin.de/top-story/moshe-zuckermann-dass-viele-zivilisten-im-gazastreifen-umkommen-hat-israel-nie-bekuemmert/

Wir danken für das Abdruckrecht.

Moshe Zuckermann (hebräischמשה צוקרמן; geboren 1949 in Tel Aviv) ist ein israelisch-deutscher Soziologe und emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv.

Israel kann nicht 2 Millionen Menschen in Gaza gefangen halten, ohne einen grausamen Preis dafür zu bezahlen.

Bild: Humantité

Von Gideon Levy

(Red.) Auch in Israel gibt es zum neu ausgebrochenen Krieg nicht nur eine Meinung. Gideon Levy beschreibt in der israelischen Zeitung «Haaretz» seit vielen Jahren die menschenverachtende Besatzungspolitik Israels. Hier sein Kommentar zum Angriff der Hamas-Kämpfer auf Israel. 

Hinter allem steckt die israelische Arroganz, die Vorstellung, dass wir tun können, was wir wollen, dass wir niemals den Preis dafür zahlen und dafür nie bestraft werden. Wir werden ungestört weitermachen.

Wir werden verhaften, töten, schikanieren, enteignen, die Siedler aber, die mit ihren Pogromen beschäftigt sind, werden wir schützen. Wir werden Josephs Grab, Othniels Grab und Josuas Altar in den palästinensischen Gebieten besuchen – und natürlich den Tempelberg – über 5000 Juden allein an Sukkot, dem Laubhüttenfest.

Wir werden auf Unschuldige schießen, Menschen die Augen ausstechen und ihre Gesichter zertrümmern, sie vertreiben, beschlagnahmen, ausrauben, Menschen aus ihren Betten holen, ethnische Säuberungen durchführen und natürlich die unglaubliche Belagerung des Gazastreifens fortsetzen, und alles wird gut sein.

Wir werden ein furchterregendes Hindernis um den Gazastreifen bauen – allein schon die unterirdische Mauer hat 3 Milliarden Schekel (765 Millionen Dollar) gekostet – und wir werden sicher sein. Wir werden uns auf die Genies der Cyber-Spionageeinheit 8200 der Armee und auf die Agenten des Sicherheitsdienstes Shin Bet verlassen, die alles wissen. Sie werden uns rechtzeitig warnen.

Israels Führer wurden auf ewig verurteilt. Was denken sie jetzt?

Israel muss zuerst seine eigenen Leute nach Hause bringen.

Mit jeder Runde der Kämpfe in Gaza mehr ‚Kollateralschäden‘ und mehr Sinnlosigkeit.

Wir werden eine halbe Armee von der Gaza-Grenze zur Hawara-Grenze im Westjordanland verlegen, nur um den rechtsextremen Gesetzgeber Zvi Sukkot und die Siedler zu schützen. Und alles wird gut, sowohl in Hawara als auch am Erez-Grenzübergang nach Gaza.

Es zeigt sich, dass selbst das ausgeklügeltste und teuerste Hindernis der Welt mit einem rauchenden alten Bulldozer durchbrochen werden kann, wenn die Motivation groß genug ist. Diese arrogante Barriere kann trotz der Milliarden, die in sie geflossen sind, und trotz all der berühmten Experten und fetten Auftragnehmer mit dem Fahrrad oder Moped überwunden werden.

Die Palästinenser im Gazastreifen sind bereit, jeden Preis für einen Moment der Freiheit zu zahlen. Wird Israel seine Lektion lernen? Nein.

Wir dachten, wir würden weiterhin nach Gaza gehen, ein paar Brosamen in Form von Zehntausenden von israelischen Arbeitserlaubnissen verteilen – immer unter der Bedingung, dass sie sich gut benehmen – und sie trotzdem im Gefängnis halten. Wir werden Frieden mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten schließen und die Palästinenser werden vergessen sein, bis sie ausgelöscht sind, wie es sich einige Israelis wünschen.

Wir werden weiterhin Tausende von palästinensischen Gefangenen festhalten, manchmal ohne Gerichtsverfahren, die meisten von ihnen politische Gefangene. Und wir werden nicht bereit sein, über ihre Freilassung zu diskutieren, selbst wenn sie schon seit Jahrzehnten im Gefängnis sitzen.

Wir werden ihnen sagen, dass ihre Gefangenen nur mit Gewalt die Freiheit erlangen werden. Wir dachten, wir würden weiterhin jeden Versuch einer diplomatischen Lösung arrogant zurückweisen, nur weil wir uns mit all dem nicht befassen wollen, und alles würde für immer so weitergehen.

Wieder einmal wurde bewiesen, dass es nicht so ist. Ein paar hundert bewaffnete Palästinenser durchbrachen die Sperranlage und drangen auf eine Weise in Israel ein, die kein Israeli für möglich gehalten hätte. Ein paar hundert Menschen haben bewiesen, dass es unmöglich ist, 2 Millionen Menschen für immer einzusperren, ohne einen grausamen Preis zu zahlen.

So wie der rauchige alte palästinensische Bulldozer am Samstag die intelligenteste Sperranlage der Welt durchbrochen hat, so hat er auch Israels Arroganz und Selbstgefälligkeit eingerissen. Und so riss es auch an der Vorstellung, dass es ausreicht, den Gazastreifen gelegentlich mit Selbstmorddrohnen anzugreifen – und diese an die halbe Welt zu verkaufen –, um die Sicherheit aufrechtzuerhalten.

Am Samstag sah Israel Bilder, wie es sie noch nie zuvor gesehen hat. Palästinensische Fahrzeuge, die in den Städten patrouillieren, Fahrradfahrer, die durch die Tore des Gazastreifens fahren. Diese Bilder räumen mit dieser Arroganz auf. Die Palästinenser in Gaza haben beschlossen, dass sie bereit sind, jeden Preis für einen Moment der Freiheit zu zahlen. Gibt es da noch Hoffnung? Nein. Wird Israel seine Lektion lernen? Nein.

Am Samstag sprachen sie bereits davon, ganze Stadtteile in Gaza auszulöschen, den Streifen zu besetzen und Gaza zu bestrafen, „wie es noch nie zuvor bestraft wurde“. Aber Israel hat seit 1948 nicht aufgehört, Gaza zu bestrafen, nicht einen Moment lang.

Nach 75 Jahren des Missbrauchs erwartet es wieder einmal das schlimmstmögliche Szenario. Die Drohungen, Gaza „platt zu machen“, beweisen nur eines: Wir haben nichts gelernt. Die Arroganz bleibt bestehen, auch wenn Israel wieder einmal einen hohen Preis dafür zahlt.

Premierminister Benjamin Netanjahu trägt eine große Verantwortung für das, was passiert ist, und er muss den Preis dafür zahlen, aber es hat nicht mit ihm angefangen und es wird auch nicht enden, wenn er geht. Wir müssen jetzt bitterlich um die israelischen Opfer weinen, aber wir sollten auch um Gaza weinen.

Gaza, dessen Bewohner größtenteils von Israel geschaffene Flüchtlinge sind. Gaza, das noch nie einen einzigen Tag der Freiheit erlebt hat.

Zum Original des Artikels auf Haaretz. 

Erschienen auf GlobalBridge
Übersetzt von Christian Müller.

https://globalbridge.ch/israel-kann-nicht-2-millionen-menschen-ingaza-gefangen-halten-ohne-einen-grausamen-preis-dafuer-zu-bezahlen/

Wir danken der Redaktion von GobalBridgefür das Abdruckrecht.

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