Genug ist genug – Protest vor der Bundegeschäftsstelle der Grünen!

Der Knoten platzt. Endlich. Heute 5. September 2022 in Berlin. Am Tag des sogeannten „Entlastungspaketes der Ampel“.

Linke, Sozial-, Umwelt-, Friedensbewegungen und Antifaschisten Berlins protestieren vor der Bundesgeschäftsstelle der Grünen. Genug ist genug! Es sind viermal soviel gekommen als die Veranstalter angemeldet haben und dreimal soviel wie das letzte Mal vor der FDP Zentrale. Trotz der kurzfristigen Mobilisierung. Das lässt hoffen für die weiteren Proteste.

Hier ein Blitzreport, um allen gezielten Diffamierungen von Anfang an entgegenzutreten: Diese Versammlung hätte nicht demokratischer, nicht antifaschistischer, nicht antirassistischer und nicht internationalistischer sein können. Und Antimilitarismus gehört untrennbar dazu. Es ist mir nicht ein einziger unter den vielen Teilnehmern aufgefallen, der ein anderes Land „niederringen oder ruinieren“ , eine Volksgruppe ausgrenzen, verhetzen oder einen „Krieg bis zum Endsieg“ führen will. Und was mich besonders gefreut hat. Viele mir bekannte Gesichter aus den Gewerkschaften habe ich getroffen. Das passt zu einzelnen Rückmeldungen aus den Betrieben, die ich bekommen habe. Immer mehr Kollegen fühlen sich durch den Sanktionskrieg regelrecht hinters Licht geführt. Im Zeichen der „Zeitenwende“ stellt sich verschärft die soziale Frage.

Hinter den vielen Nebelkerzen ziehen sich zwei Dinge durch : Absicherung der Gewinne und Zuschustern regerechter Extraprofite für wichtige Kapitalfraktionen und der Ausbau einer sogenannten westlichen Hegemonie. Für diese wird notfalls eine Atomkatastrophe riskiert und der notwendige weltweit gemeinsame Kampf gegen den Klimawandel geopfert. Die Botschaft auf dieser Kundgebung lautet dazu : Wir lassen uns nicht vor diesen Karren spannen ! Wir lassen uns nicht für eine internationale Konfrontations- und gesellschaftliche Spaltungspolitik instrumentalisieren! Wir schuften und frieren nicht für Eure Profite, schon gar nicht zahlen wir für Eure Krisen und Kriege. Die rote Karte heute den grünen Scharfmachern. Lindner verweigert die Besteuerung von Übergewinnen in der Krise. Habeck bastelt Gesetze (ein Gewinn- und Kapitalerhaltungs Perpetuum Mobile), dass es immer mehr Übergewinne für Krisengewinnler gibt, für die wir alle zur Kasse gezwungen werden. Nein Danke. Auf die Preissteigerungen kann es für die Arbeitenden nur eine Antwort geben: Löhne rauf – sockelwirksam- bis zum Inflatiosnausgleich. Wer kämpft, kann gewinnen. Das haben das Bodenpersonal der Lufthansa oder auch die Hafenarbeiter eindrucksvoll bewiesen. Am 10. September diese Woche startet die Trarifrunde in der Metallindustrie. Die IGM fordert 8 Prozent . Das ist mäßig angesichts von bald 9 Prozent Inflation. Die Unternehmer haben die Unverfrorenheit, eine Nullrunde zu fordern. Ohne zu kämpfen, wird es also nur Almosen geben. Da kann es nur eine eindeutige Antwort geben.

Wir sehen uns wieder beim nächsten Mal.


Hier ein Portofolio von Bildern, die die Kundgebung dokumentieren:


Videobeitrag

00:00:00 Genug ist genug – Protestieren statt frieren! Redeausschnitte von der Protestkundgebung vor der Bundesgeschäftsstelle von Bündnis 90/Die Grünen, 05.09.2022
00:00:42 Nastja Liedtke Bewegung Aufstehen ;
00:03:35 Uwe Hiksch, Naturfreunde Deutschland;
00:13:09 Ferat Koçak, DIE LINKE, Mitglied im Abgeordnetenhaus von Berlin;
00:20:16 Sevim Dagdelen, Die LINKE, Bundestagsabgeordnete;
00:30:35 Michael Prütz, Berliner Aktivist;
00:35:06 Angelika Teweleit, VKG – Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften;
00:45:17 Markus Staiger, Journalist und Aktivist ;
00:51:04 Harry Grünberg, Bewegung Aufstehen;
01:01:31 Verabschiedung

Kamera und Bearbeitung: Ingo Müller: rec: ingmue1957, 05.09.2022

Wo ist die Friedensdividende geblieben?

von Matthias Schindler

Der folgende Text basiert auf einem Brief, den ich in tiefer Sorge um die aktuellen weltpolitischen Entwicklungen kürzlich an meine ehemaligen Mitstudierenden der Politologie an der Universität Hamburg geschrieben habe.

Liebe ehemalige Mitstudierende der Politologie,

es ist jetzt schon vier oder fünf Jahre her, dass wir unser Politikstudium an der Universität Hamburg hinter uns gelassen haben und jetzt unsere eigenen Wege gehen. Einige haben sich sicherlich für ein weiteres wissenschaftliches Studium entschieden, andere arbeiten weiter an ihrer beruflichen Entwicklung, und wiederum andere haben – wie ich weiß – in politischen Institutionen oder auch in öffentlich wirksamen Medien Positionen erreicht, die einen bedeutenden Einfluss auf unsere Gesellschaft haben.

Ich selbst habe meine berufliche Laufbahn ja bereits hinter mir. Nach meinem Eintritt in die Rente hatte ich mich für die Wissenschaft entschieden und einige interessante Semester gemeinsam mit Euch studiert und mit einem Bachelor abgeschlossen. Gegenwärtig setze ich mein Studium der Politologie an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universidade Nova de Lisboa in Portugal fort. Ich begreife mein Studium unter anderem auch als den Versuch einer kritischen Aufarbeitung meiner eigenen politischen Praxis während der vergangenen mehr als 50 Jahre.

Dieses E-Mail schreibe ich nicht nur aus Nostalgie oder aus Neugier zu wissen, was Ihr gerade so macht. Ich schreibe auch, weil ich in tiefer Sorge um die weiteren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bei uns und in der Welt bin.

Ukraine: immer mehr und schwerere Waffen?

Insbesondere erfüllt mich der Krieg in der Ukraine mit tiefster Sorge. Der von Putin befehligte Angriffskrieg auf die Ukraine besitzt keinerlei akzeptable, rechtliche, politische oder moralische Rechtfertigung. Die Ukraine hat ohne Zweifel das Recht, sich selbst zu verteidigen und auch um internationale Unterstützung zu bitten. Aber aus diesem Recht folgt nicht automatisch auch die Pflicht zur militärischen Selbstverteidigung. Und aus dem Recht, die Ukraine militärisch zu unterstützen, folgt auch nicht automatisch die Pflicht, dies zu tun. Denn jeder dieser Schritte muss darüber hinaus auch vor den folgenden beiden zentralen Fragestellungen Bestand haben:

Erstens, sind die menschlichen Opfer und die materiellen Zerstörungen, die mit dieser Verteidigung verbunden sind, angesichts der realistisch zu erreichenden Ziele moralisch gerechtfertigt?

Zweitens, können die militärischen Verteidigungsmaßnahmen angesichts der Gefahren der Verlängerung und globalen Eskalation des Krieges politisch gerechtfertigt werden?

Ich habe bisher noch kein überzeugendes Argument dafür gehört, die eine oder die andere Frage positiv zu beantworten.

Man kann diese beiden Fragen auch in einer einzigen Fragestellung zusammenfassen:

Wenn dieser Krieg eines Tages vorbei sein wird, werden die Überlebenden dann auch im Angesicht all der erlittenen Verluste und Zerstörungen sagen: „es hat sich gelohnt“, „es war richtig, gegen die überlegene russische Armee zu kämpfen“, „es gab keinen anderen Weg“, „das musste sein“?

Diejenigen, die heute für massive und schwere Waffenlieferungen werben, werden sich in der – wann auch immer zu erreichenden – Nach-Kriegs-Situation auch den folgenden Fragen stellen müssen: War es angesichts der dann sichtbaren humanen und materiellen Zerstörungen – einschließlich der Möglichkeit einer internationalen und nuklearen Ausweitung des Krieges – richtig, diesen Weg zu gehen? Hat die Bundesregierung alles unternommen, was möglich gewesen wäre, um einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen früher zu erreichen?

Bei allen öffentlichen Debatten, in den berüchtigten Talkshows von Anne Will bis Markus Lanz, in den Nachrichtensendungen und Magazinen und in den allermeisten Artikeln der sonstigen vielfältigen Medien wird diesen Fragestellungen konsequent aus dem Weg gegangen. Sie sind zu unbequem. Denn bei ihnen geht es nicht um Wunschvorstellungen, Ideologie und Propaganda, sondern um Realitäten, um brutale und ungerechte Realitäten, die jedoch in den aktuellen Waffen- und Aufrüstungsdiskurs nicht so gut hineinpassen. Stattdessen werden sie mit rhetorischen Tricks umgangen.

Putin hat Schuld“ reicht nicht

„Putin hat Schuld an diesem Krieg“, wird gesagt. Aber selbst, wenn es so wäre, dass er die alleinige Verantwortung für diesen Krieg haben sollte, würde dies abertausende von menschlichen Opfern und unvorstellbare Zerstörungen rechtfertigen, die der Verteidigungskrieg zwangsläufig mit sich bringt? Es wird gesagt, „wenn man diesem eklatanten Bruch des Völkerrechts durch Putin nicht militärisch entgegentritt, wird die seit dem 2. Weltkrieg bestehende regelbasierte internationale Ordnung zerstört.“ Jedoch hat es diese regelbasierte internationale Ordnung nie gegeben. Sie gab es nicht im Vietnamkrieg, nicht beim Überfall der USA und Großbritanniens auf den Irak, nicht in Afghanistan, nicht in Nicaragua und in vielen weiteren Fällen ebenfalls nicht. Der Unterschied zur heutigen Situation ist lediglich, dass diese eklatanten Völkerrechtsverletzungen vom Westen begangen und daher auch akzeptiert wurden.

Weiterhin heißt es, „wenn wir keine schweren Waffen an die Ukraine liefern, dann kann die Souveränität des Landes nicht verteidigt werden.“ Aber warum fordert dann niemand die Lieferung schwerer Waffen an Palästina, dessen Souveränität seit Jahrzehnten von Israel mit Füßen getreten wird?

Es wird gesagt, „Putin lügt, auf sein Wort kann man sich nicht verlassen.“ Aber selbst, wenn er der Einzige wäre, der im internationalen Politikgeschäft lügt, sollte dann daraus der Schluss gezogen werden, auf jeglichen Versuch zur Erreichung eines Waffenstillstandes zu verzichten und bis zu seinem Sturz, auf den wir möglicherweise noch viele Jahre warten müssen, nur noch die Waffen sprechen zu lassen?

Wo bleibt die Werte-orientierte Außenpolitik der Bundesregierung gegenüber den Freiheits- und Souveränitätsrechten des kurdischen Volkes? Um den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens zu ermöglichen, wird dieses Volk vergessen und verraten, und dessen Aggressor, die Türkei, politisch hofiert und militärisch aufgerüstet. Wo bleiben die Berichte über den völkerrechtswidrigen Krieg Saudi-Arabiens gegen die Bevölkerung des Jemen? Anstatt dieses mittelalterliche Scharia Regime zu ächten und mit Sanktionen zu belegen, wird es als Garant der westlichen Wertegemeinschaft gefeiert und mit den modernsten Waffensystemen aufgerüstet. Eine Außenpolitik, für die Werte nur dann eine Bedeutung haben, wenn sie sich gut in den gerade vorherrschenden politischen Diskurs einbauen lassen, handelt nicht, um demokratische und freiheitliche Werte zu verwirklichen, sondern um geopolitische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen.

Krieg ist nicht die einzige Option …

Aber der Krieg – auch ein Verteidigungskrieg! – ist nicht die einzige Option, die auf dem Tisch liegt. Als die deutschen Nazitruppen 1940 Dänemark besetzten, entschloss sich das Land, dagegen zivilen Widerstand zu leisten. Dieser Widerstand wurde von der gesamten Bevölkerung, von den Gewerkschaften bis zum König, mitgetragen. Die Nazis waren nach fünf Jahren wieder weg, aber Dänemark ist geblieben. Oder als die Truppen des Warschauer Paktes 1968 die Tschechoslowakei überfielen, befahl der tschechoslowakische Regierungs- und Parteichef Alexander Dubček der Armee, in den Kasernen zu bleiben. Die sowjetischen Panzer sind schon lange wieder weg, aber die Tschechen und Slowaken leben, Bratislava und Prag wurden nicht zerstört.

Die deutsche Regierung jedoch, und der gesamte Westen, kennt heute nur eins: Waffen, mehr Waffen und immer schwerere Waffen. Für jeden Krieg gilt: Es gibt nur zwei Möglichkeiten, ihn zu beenden, entweder durch den militärischen Sieg einer der beiden Seiten oder durch Friedensverhandlungen. Manchmal dauert es Jahre oder auch Jahrzehnte, aber es gibt keinen dritten Weg. Im Moment steuern jedoch alle westlichen Akteure dieses Dramas in die Richtung einer militärischen Lösung, koste es, was es wolle. Ein militärischer Sieg der einen oder der anderen Seite ist jedoch nicht abzusehen. Dennoch machen die ukrainische Führung und die NATO-Staaten gegenwärtig nicht die geringste Anstrengung, um zu einem Waffenstillstand und zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Stattdessen werden zehntausende Soldaten und Zivilisten weiterhin für die Ehre und das Vaterland in den Heldentod geschickt.

Das Putin Regime hat diesen Krieg durch den Angriff auf die Ukraine begonnen. Aber die Verantwortung dafür, ob es zu einer Verlängerung und Ausweitung des Krieges kommt oder ob er begrenzt und zu einem Waffenstillstand geführt werden kann, liegt auch auf der Seite der Ukraine und ihrer Unterstützer. Wenn Selenskyj eine neue Großoffensive gegen die russischen Besatzer befiehlt, dann ist das seine Entscheidung, und er ist derjenige, der diese Offensive mit all ihren Konsequenzen verantworten muss.

und Sanktionen schon gar nicht

Darüber hinaus geht es auch immer mehr um die Sanktionen gegen Russland. Wirtschaftliche Sanktionen sind, zumal wenn sich deren Folgen gegen die Zivilbevölkerung richten, ein klarer Verstoß gegen das Internationale Recht. Wir haben gemeinsam Politologie studiert. Ein wichtiger Zweig der Politischen Wissenschaft sind die Internationalen Beziehungen. In welchem Seminar haben wir gelernt, dass Wirtschaftssanktionen ein legitimes Mittel der internationalen Politik sein sollen? Hat uns das jemals ein Professor gelehrt? Oder war die Friedensforschung nur für den universitären Elfenbeinturm gedacht, nicht aber für die lebendige Welt draußen? Und die aktuellen Wirtschaftssanktionen richten sich keineswegs nur gegen die russische Bevölkerung, sondern auch gegen unsere eigene und auch gegen Millionen andere Menschen in Europa und der Welt. Uns allen wird es jetzt schlechter gehen, viele werden in Armut fallen, der Hunger ist wieder auf dem Vormarsch. Die internationale Wirtschaft bricht ein. Die Inflation steigt ungebremst. Essen, Mieten und eine warme Wohnung werden für immer mehr Menschen unbezahlbar. Dürfen wir da unsere Hände in Unschuld waschen, weil wir ja ganz einfach Putin die Schuld für all dies geben können?

Jetzt werden international – in Russland, in den USA, in China und Europa – hunderte von Milliarden Dollar in neue Waffensysteme investiert. Es werden neue Blöcke und Blockgrenzen aufgebaut und verhärtet. Auf welche Weise soll dies jemals zum Weltfrieden führen? Und ganz nebenbei wird auch noch die physische Grundlage allen menschlichen Lebens auf der Welt weiterhin gnadenlos zerstört. Der menschengemachte Klimawandel geht ungebremst weiter.

Die Friedensdividende ist abgestürzt

Als die Sowjetunion 1990 in sich zusammenbrach und der Ostblock sich (einschließlich seines Militärbündnisses, des Warschauer Paktes!) auflöste, machte das Wort von der Friedensdividende die Runde. Allseits wurde propagiert, dass die materiellen Ressourcen der Menschheit von jetzt ab nicht mehr für Militär und Krieg, sondern für soziale Verbesserungen, für die Umwelt, für internationale Gerechtigkeit und für den Frieden genutzt werden könnten.

Präsident George H. W. Bush erklärte 1990 vor dem US-Kongress: „Eine neue Partnerschaft der Nationen steht bevor, […] eine neue Ära – freier von der Bedrohung durch Terror, stärker im Streben nach Gerechtigkeit, sicherer in der Suche nach Frieden, […] eine Welt, die gänzlich anders ist als jene, die wir aus der Vergangenheit kennen. Eine Welt, in der die Herrschaft des Rechts an die Stelle der Gesetze des Dschungels tritt. Eine Welt, in der die Nationen ihre gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit anerkennen. Eine Welt, in der die Starken die Rechte der Schwachen respektieren.“

Schöne Worte. Abermillionen Menschen auf der ganzen Welt hatten die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Der Westen hatte die – einmalige – historische Chance, zu zeigen, dass er die bessere Gesellschaftsform besitzt, das gerechtere, sozialere und freiere System, die bessere Wirtschaftsform, den besseren Weg zum Weltfrieden. Aber der Westen hat kläglich versagt. Statt auf eine solidarische Welt zu orientieren, hat er wirtschaftlich die neoliberale Konkurrenz zum obersten Prinzip erhoben. Anstatt ein kollektives Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands aufzubauen, wurde nun erst recht auf eine einseitige militärische Vormachtstellung des Westens gebaut. Die Ungleichheit zwischen arm und reich vertiefte sich international und auch innerhalb der einzelnen Staaten. Die Umweltzerstörung nahm gigantische Ausmaße an. In diversen Interventionskriegen hat der Westen seine Verachtung für das Internationale Recht gezeigt. In Sachen kapitalistischer Ausbeutung im Inneren und militärischer Gewalt nach außen war Putin ein gelehriger Schüler des Westens. Durch den russischen Überfall auf die Ukraine wurde nun die Welt innerhalb von wenigen Monaten komplett umgekrempelt. Heute deutet alles wieder in Richtung Sozialabbau, Wirtschaftskrise, Armut und Krieg. Was haben wir – meine Generation – Euch für eine Welt hinterlassen?

Es ist Eure Zukunft, die heute zerstört wird

Ich bin gerade 70 Jahre alt geworden, ich habe eine (bescheidene) Rente, ich werde mit Glück vielleicht noch 10 Jahre zu leben haben. Aber Ihr habt noch 50 oder mehr Jahre vor Euch. Ihr müsst in dieser Welt leben, eine andere gibt es nicht. Eine Welt, in der noch nicht einmal das tägliche Trinkwasser und die Luft zum Atmen sichergestellt ist. Ihr werdet die wichtigen Weichenstellungen für Eure Zukunft treffen, ob Ihr wollt oder nicht. Vielleicht denken einige von Euch daran, Kinder zu kriegen. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie man sich heutzutage noch über Kinder freuen kann, wenn man sie in eine Welt hineinsetzt, die in großen Schritten auf eine globale Katastrophe zusteuert.

Ich habe 35 Jahre in der Industrie gearbeitet, ich war Gewerkschafter, ich habe mich seit dem Vietnamkrieg für Gerechtigkeit und Frieden eingesetzt. Ich habe daran mitgewirkt, ein solidarisches Gesellschaftsmodell in Nicaragua aufzubauen. Ich habe versucht, meinen Beitrag dafür zu leisten, dass diese Welt eine bessere wird und Allen eine Chance auf ein besseres, auf ein würdiges Leben bietet. Letztlich war es meine Generation, die die deutsche Nazi-Vergangenheit thematisierte und aufarbeitete, die der internationalen Solidarität eine neue Bedeutung gab, die die Friedensbewegung und die Umweltbewegung in Deutschland mehrheitsfähig machte. Wenn ich jetzt jedoch auf das Ergebnis all dieser Anstrengungen schaue, dann überkommt mich eine tiefe Enttäuschung, Erschütterung, Frustration, ja Wut.

Frieden braucht Demokratie und soziale Gerechtigkeit

Nach der Beendigung meiner Erwerbsarbeit habe ich begonnen, Politologie zu studieren, unter anderem auch mit dem Ziel, herauszufinden, welche Lehren man aus den vielen verschiedenen gescheiterten Reformen und Revolutionen ziehen muss, um deren Fehler nicht andauernd zu wiederholen. Eine Sache kann ich schon jetzt sagen:

Ohne demokratische Freiheiten und ohne soziale Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben. Aber das entscheidende Mittel zur Durchsetzung einer sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung kann niemals der Krieg sein, sondern nur die kritische und selbstkritische Reflexion, die Bewusstseinsbildung, die Überzeugungsarbeit und das positive Beispiel.

Lissabon, 28. Juli 2022

Zur Person:

Matthias Schindler (1952) ist Maschinenbautechniker, er war Vertrauenskörperleiter und Betriebsrat der IG Metall in einem Hamburger Industrieunternehmen, er ist langjähriger Aktivist der Nicaragua Solidarität, Politologe und forscht aktuell als Doktorand an der Universidade Nova de Lisboa zum Thema Sozialismus und Demokratie.

Vorwärts und nicht vergessen!

Vorwärts und Nicht vergessen! Vor allem für die Gegenwart. Im August jagen sich die Gedenktage über tottraurige Ereignisse.. Die USA warfen jeweils eine Atombombe über Hiroshima und Nagasaki ab, obwohl der Krieg gegen Japan schon gewonnen war. Weder vorher noch hinterher wurden mit einem Schlag soviele Menschenleben ausradiert. Bis heute halten sich die USA die Option vor, Atomwaffen als erstes einzusetzen! Am 10. August war Orange Day in Vietnam. Manche nennen es den umfangreichsten flächendeckenden Terror gegen eine Zivilbevölkerung seit dem 2. Weltkrieg, getarnt als „Friedens- und Freiheitsoperation gegen kommunistischen Terror“.

Cathrin Karras (Korrespondentin aus Vietnam ) berichtete :

Am Anfang fielen die Blaetter von den Baeumen. Reispflanzungen gingen ein, der Dschungel verdorrte. Spaeter starben die Menschen. Heute vor 61 Jahren, am 10. August 1961 begannen die US-Streitkraefte in Vietnam mit der Operation, die den zynischen Namen Ranch Hand (Erntehelfer) trug, der großflaechigen Verspruehung von dioxinverseuchten Entlaubungsmitteln.. Die Rueckzugswege der Nationalen Befreiungsfront sollten auf diese Art fuer amerikanische Luftangriffe offengelegt, den Reisbauern die oekonomische Grundlage entzogen werden. Seit einigen Jahren wird der 10. August in Vietnam als Orange Day begangen. Kein Feier-, sondern ein Gedenktag.

Zehn Jahre dauerte der militaerisch-chemische Grossfeldversuch am lebenden Objekt. Nach zehn Jahren hatten die Vereinigten Staaten in 9.495 dokumentierten Einsaetzen rund 90 Millionen Liter Agent Orange auf einer Flaeche der Groesse Hessens versprueht, drei Millionen Hektar Regenwald und Reisfelder vernichtet sowie 26.000 Doerfer verseucht. Fuenf Millionen Vietnamesen kamen mit Agent Orange in Beruehrung. Drei Millionen von ihnen erkrankten in der einen oder anderen Form. Auch heute, fast 50 Jahre nach Ende des Agent-Orange-Einsatzes, leiden und sterben Menschen an den Langzeitfolgen. Neugeborene mit deformierten Schaedeln, ohne Augen und Nase, mit fehlenden oder missgebildeten Organen, junge Frauen um die 20 mit vom Krebs zerfressenen Gebaermuettern, Kriegsveteranen und einfache vietnamesische Bauern, die – oft Jahre nach dem Kontakt mit Agent Orange – an boesartigen Tumoren sterben.

Auch 43 Jahre nach dem Ende des Vietnamkrieges sind die Folgen fuer die Bevoelkerung noch deutlich spuerbar. Immer noch leiden mehr als eine Million Vietnamesen unter den schweren gesundheitlichen Auswirkungen. Seit Ende des Krieges wurden und werden, auch heute noch in der dritten Nachkriegsgeneration, mehr als 150.000 Kinder mit Missbildungen geboren.

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