»Blockieren wir alles«

In Frankreich will eine Basisbewegung die geplanten Haushaltskürzungen stoppen. Premierminister Bayrou dürfte ihr erstes Opfer werden.

Von Volkmar Wölk

Bild: telegram france

Während die jüngeren Mitglieder der deutschen Industriegewerkschaften schon nicht mehr wissen, was ein Erzwingungsstreik ist und Gewerkschaftspolitik sich in hohem Maße im Lobbyismus erschöpft, zeigen die französischen Schwestergewerkschaften, dass es auch anders geht. Nicht durch Verzicht den Unternehmen die hilfreiche Hand zu reichen, um die Geschäfte wieder zum Florieren zu bringen und auf ein besseres Wahlergebnis zu hoffen ist das Gebot der Stunde sondern Sand im Getriebe zu sein und entschlossen das Erkämpfte zu verteidigen. Der folgende Artikel von Volkmar Wölk gibt einen ersten Eindruck über die bevorstehenden Auseinandersetzungen in unserem Nachbarland. Im Nachspann habe ich den gemeinsamen Aufruf der Gewerkschaften dazu in deutscher Übersetzung hinzugefügt. (Jochen Gester)

Wer mit dem Begriff »la rentrée« (Rückkehr) nichts anzufangen weiß, kennt Frankreich nicht. Am Wochenende davor gibt es noch einmal die berüchtigten Megastaus. Dann ist die Ferienzeit vorbei, die Schule beginnt, Paris schaltet zurück in den Normalbetrieb. Und auch die Politik meldet sich wieder zu Wort. Nach »la rentrée« werden die Weichen gestellt, was in den nächsten Monaten die Hauptthemen der Politik sein werden, welche Strömungen sich Vorteile erarbeiten können.

Die politische »rentrée« hat in der Regel ein Vorspiel. Das Ende der Urlaubszeit wird eingeläutet mit Ankündigungen der Regierenden. Werden diese Ankündigungen umgesetzt, wird in Frankreich der heiße Herbst eingeläutet.

Ein Vorbote dessen, was dieses Jahr zu erwarten ist, dürfte der 4. September gewesen sein. Die Energiesparte der Gewerkschaft CGT hatte angekündigt, mindestens 40 Einrichtungen zu blockieren. Zum ersten Höhepunkt kommt es dann aber am kommenden Montag. Ministerpräsident François Bayrou hat angekündigt, im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen. Nur zwei Tage später tritt ein neuer, völlig unbekannter Akteur ins Rampenlicht: die Basisbewegung »Bloquons Tout« (Blockieren wir alles). Für den 18. September wiederum kündigen die Gewerkschaften einen landesweiten Aktionstag an.

Bloquons Tout meldete sich erstmals im Mai in den sozialen Medien zu Wort – als Reaktion auf die Ankündigung des konservativen Ministerpräsidenten Bayrou. Der plant massive Haushaltskürzungen in Höhe von rund 44 Milliarden Euro, wobei ein großer Teil auf die soziale Infrastruktur, den öffentlichen Dienst und den Sozialbereich entfallen soll. Die Bewegung Bloquons Tout geht – wohl berechtigterweise – davon aus, dass Bayrou die Vertrauensabstimmung verlieren wird, denn dieser besitzt keine Mehrheit im Parlament und hat sich in der Vergangenheit seine Mehrheiten mithilfe des rechtsextremen Rassemblement national (RN) oder der Sozialisten gesucht. Inzwischen hat allerdings die gesamte Opposition angekündigt, ihm das Vertrauen zu verweigern. Bayrou fällt weich. Er ist während seiner Amtszeit als Ministerpräsident zugleich Bürgermeister von Pau geblieben.

Bei einer Umfrage befürworteten 63 Prozent der Befragten den Aufruf zur Blockade. Die drei Losungsworte »Boykott – Ungehorsam – Solidarität« reichen offenbar aus.

Weniger weich werden die Betroffenen der geplanten Kürzungsmaßnahmen fallen. In Planung ist die Streichung von zwei Feiertagen sowie der Karenzzeit ohne Lohnfortzahlung im öffentlichen Dienst bei Krankheit. Der Staatsapparat soll »verschlankt« werden, indem ausscheidende Beamte nicht ersetzt und Behörden abgeschafft werden, die die Regierung als »unproduktiv« ansieht. Vor allem aber sollen 2026 die Sozialleistungen und Renten nicht mehr wie bisher automatisch der Teuerung angepasst, sondern eingefroren werden. Eine Maßnahme, von der besonders die Armen und die unteren Einkommensschichten betroffen sind. Steigen soll lediglich der Militäretat, und zwar um 3,5 Milliarden Euro.

Bayrou hatte es ohnehin geschafft, in seiner achtmonatigen Amtszeit zum unbeliebtesten Ministerpräsidenten der V. Republik, also seit 1958, zu werden. Zuletzt erhielt seine Politik Zustimmungswerte von unter 18 Prozent. Das absehbare Ende seiner Amtszeit stellt Präsident Macron vor ein Dilemma. Denn da sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament nach dem Sturz der durch ihn ernannten Regierung nicht verändern, könnten eigentlich nur Neuwahlen eine Lösung herbeiführen.

Allerdings stellte die Abgeordnete Alma Dufour von der linken La France Insoumise (LFI) im Fernsehen verblüfft fest, dass sie erstmals, am gleichen Tag und an der gleichen Stelle, mit der prominenten konservativen Politikerin Valérie Pécresse einer Meinung war, nämlich dass Neuwahlen keine wesentliche Veränderung zwischen den drei Blöcken im Parlament bringen würden und nur der Rücktritt Macrons und die Neuwahl des Präsidenten einen Ausweg bieten könnten. Eine Ansicht, die bei einer Meinungsumfrage vor einigen Wochen von einer knappen Hälfte der Befragten geteilt wurde und die inzwischen noch deutlich an Zustimmung gewonnen hat.

Letztlich handelt es sich nicht um eine Regierungskrise, sondern um eine veritable Systemkrise, in der neue Akteure den Ausschlag für die künftige Richtung geben können. In dieser Situation taucht Bloquons Tout auf, zunächst als Idee auf einem rechten Telegram-Kanal. Die Idee verbreitete und verselbständigte sich schnell, von rechten Einflüssen ist nichts mehr zu spüren.

Die politische Linke, deren Bündnis Nouveau Front Populaire längst faktisch zerfallen ist, ist mehr als dankbar für den Impuls von außen. Denn die Hoffnung, gemeinsam Druck von links machen zu können, ist gegenwärtig illusorisch. Als erste unterstützte deshalb Jean-Luc Mélenchons France Insoumise das Netzwerk Bloquons Tout; zuletzt aber auch die Sozialisten, die noch immer darauf hoffen, dass Macron ihnen mit ihren lediglich 64 Abgeordneten den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt. Inzwischen gibt es Zustimmung auch von einigen Gewerkschaften, von aktivistischen Umweltorganisationen wie den Soulèvements de la terre und von lokalen Attac-Gruppen.

Das Netzwerk fordert alle Abgeordneten auf, ihre Pflicht zu erfüllen, indem sie der Regierung das Vertrauen verweigern. Ansonsten ist Bloquons Tout diffus, unstrukturiert, hat kein Programm, verfügt über keine autorisierten Sprecher*innen. Trotzdem ist das Netzwerk in aller Munde. Inzwischen befürworten rund 63 Prozent der Befragten bei einer Erhebung des Instituts Toluna-Harris den Aufruf zur Blockade am 10. September. Ein Wert, der gegenwärtig wohl weder von den Parteien der Linken noch von den Gewerkschaften zu erreichen wäre. Die drei Losungsworte »Boykott – Ungehorsam – Solidarität« reichen offenbar aus. Die Bewegung zeigt sich entschlossen: »Sie haben uns ignoriert. Sie werden uns zu hören bekommen!«

Inzwischen gibt es um die 100 lokale und regionale Unterstützergruppen, deren Kommunikation über Telegram- und Signal-Kanäle läuft. Die Mobilisierung lief zunächst über die sozialen Medien, in denen Sharepics wie »Haushalt 2026 – Sie sollen bezahlen« und eine Auflistung der zehn reichsten Familien Frankreichs mit einem Gesamtvermögen von 442 Milliarden Euro zu sehen waren. Inzwischen finden auch lokale Vorbereitungstreffen statt – von Korsika bis Calais, mit zwischen 60 und mehreren hundert Teilnehmenden. Der Inlandsgeheimdienst zeigt sich beunruhigt und geht von 100 000 Teilnehmenden bei den angekündigten mehr als 60 Aktionen aus.

Viel erinnert an die soziale Bewegung der Gelbwesten. Dennoch wäre es wohl verfehlt, einfach von Gelbwesten 2.0 zu sprechen, denn dafür sind die Unterschiede zu deutlich. Nach einer Erhebung der Fondation Jean Jaurès bei 1100 Anhängern der neuen Bewegung speist diese sich größtenteils aus Anhängern der radikalen Linken, während die Gelbwesten weitaus heterogener waren und durchaus auch rechte Anteile hatten. Bei der Präsidentschaftswahl hatten nur zwei Prozent der Bloquons-Tout-Anhänger*innen Macron gewählt, nur drei Prozent die rechte Marine Le Pen. Stark vertreten sind die jüngeren Jahrgänge, deutlich überrepräsentiert die Alterskohorte zwischen 25 und 34 Jahre. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt bei den Bewohner*innen kleiner und mittlerer Städte, während die Großstädte und Paris eher unterrepräsentiert sind.

Letztendlich geben auch nur 27 Prozent der von der Fondation Jean Jaurès Befragten an, bei den Geldwesten aktiv gewesen zu sein. Arbeiter*innen und Rentner*innen, beides zentrale Gruppen für die Gelbwesten, sind bei Bloquons Tout geringer vertreten als in der Gesamtbevölkerung. 28 Prozent, damit deutlich mehr als insgesamt, gehören zu der Gruppe mit einem Netto-Einkommen zwischen 1250 und 2000 Euro, sind also selbst nicht von prekären Bedingungen betroffen, rutschen aber in die Prekarität, wenn ihnen etwas genommen wird. All diese Punkte bringen das Institut zu der Einschätzung, dass sich die neue Bewegung grundlegend von den Gelbwesten unterscheidet. 2025 wird also das Jahr, in dem es eine zweite »Rentrée« gibt. Die Rückkehr der sozialen Bewegungen auf die Straße.

Erstveröffentlicht im nd v. 4.9. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193789.haushaltskuerzungen-in-frankreich-blockieren-wir-alles.html

Wir danken für das Publikationrecht.

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Hier ist der gemeinsame Aufruf der französischen Gewerkschaften


Es reicht mit den Opfern für die Arbeitswelt!

Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die unsere Organisationen vertreten, sind wütend. Die Zunahme der Mobilisierungen in verschiedenen Formen bestätigt dies. Niemand kann die Unzufriedenheit und Erschöpfung der Bevölkerung ignorieren. Vertreter der Gewerkschaften CFDT, CGT, CGT-FO, CFE-CGC, CFTC, UNSA, FSU und SOLIDAIRES haben uns am Freitag, den 29. August 2025, in Paris versammelt. Die am 15. Juli vom Premierminister vorgestellten Haushaltsentwürfe wurden von unseren Organisationen sofort und einstimmig abgelehnt.

Die verschiedenen vorgeschlagenen Haushaltsmaßnahmen sind in der Tat von beispielloser Brutalität. Die Regierung hat sich erneut dafür entschieden, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, Rentnerinnen und Rentner sowie Kranke zur Kasse zu bitten: die Streichung von zwei Feiertagen, Kürzungen im öffentlichen Dienst, die Infragestellung des Arbeitsrechts, eine weitere Reform der Arbeitslosenversicherung, das Einfrieren der Sozialleistungen und der Gehälter von Beamten und Vertragsbediensteten, die Entkopplung der Renten von der Inflation, die Verdopplung der Arzthonorare, die Infragestellung der fünften Woche bezahlten Urlaubs… All dies sind Maßnahmen, die ebenso brutal wie zutiefst ungerecht sind. Was die Verschuldung ebenfalls erhöht, sind die Steuersenkungen für Reiche und die 211 Milliarden Euro an öffentlichen Hilfen, die von den größten Unternehmen Gemeinsam warnen wir eindringlich vor diesem Kontext und der Lage unseres Landes. Seit der Präsident der Republik die Rentenreform durchgesetzt hat, versinkt unser Land in einer tiefen sozialen und demokratischen Krise.

Die Ungleichheiten und die Zahl der Menschen, die unter die Armutsgrenze fallen explodieren, die Folgen des Klimawandels nehmen zu und haben direkte Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Unternehmensschließungen und Stellenstreichungen nehmen zu, die öffentlichen Dienste befinden sich in der Krise, die Löhne reichen nicht aus, um ein würdiges Leben zu führen, und die unverzichtbaren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer warten immer noch auf Anerkennung und Würde am Arbeitsplatz….

Mehr denn je sind die Verteilung von Wert und Reichtum, die Aufwertung der Löhne und die Gleichstellung von Frauen und Männern unerlässlich. Anstatt seinen Haushaltsentwurf anzupassen, um auf die beispiellose Defizitsituation zu reagieren, hat der Premierminister eine Ablenkungsstrategie beschlossen und sich am 8. September einem Vertrauensvotum unterzogen . Für unsere Organisationen ist die Aufstellung eines völlig anderen Haushaltsplans, der Hoffnung, soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit verspricht, unerlässlich.

Unsere Gewerkschaften lehnen es ab, dass erneut die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Arbeitssuchende, jungen Menschen und Rentnerinnen und Rentner die Zeche zahlen müssen, sowohl finanziell als auch durch erhöhte Flexibilität.

Seit Juli mobilisieren sie sich in allen Unternehmen und Verwaltungen, in den Regionen und Berufen, indem sie auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugehen, damit diese die gewerkschaftsübergreifende Petition stopbudgetbayrou.fr

Heute rufen unsere Organisationen zu einem Aktionstag im gesamten Land am 18. September 2025 auf, einschließlich Streiks und Demonstrationen. Das Horrormuseum des Haushaltsentwurfs muss aufgegeben werden. Die sozialen Forderungen müssen endlich berücksichtigt werden!

Wir wollen:

* Haushaltsmittel, die den Aufgaben der öffentlichen Dienste und Politiken gerecht werden;

* Maßnahmen zur Bekämpfung der Prekarität und zur Stärkung der Solidarität;

* Investitionen in einen gerechten ökologischen Wandel und die Reindustrialisierung Frankreichs sowie Maßnahmen gegen Entlassungen;

* Steuergerechtigkeit durch die Einführung von Maßnahmen, die große Vermögen und sehr hohe Einkommen besteuern, die Ausschüttung von Dividenden vorschreiben und die Unternehmensbeihilfen strengen Auflagen unterwerfen;

* ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und die Abschaffung der Rente mit 64 Jahren.

Wir rufen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu auf, sich massiv zu mobilisieren, um die Situation zu ändern und Fortschritte zu erzielen! Unsere Organisationen bleiben in Kontakt, vereinbaren, sich nach diesem Tag der Mobilisierung und des Streiks wieder zu treffen, und behalten sich die Möglichkeit vor, alle notwendigen Initiativen zu ergreifen.

Übersetzunhg mit Deepl


Mach mit für Frieden und Gesundheit – Fahrradtour 2026

Zweite Fahrradtour mit Kolleginnen und Kollegen aus den Gewerkschaften, Freundinnen und Freunden!

Nach der Fahrradtour 2025 findet die zweite Tour 2026 in der Zeit vom 07.05.-10. 05.26 im Raum Südbrandenburg statt. Die Radtour wird von Kolleginnen und Kollegen aus DGB-Gewerkschaften organisiert und ist für alle offen, die sich für eine aktive Friedenspolitik, jenseits von Aufrüstungsspiralen und eine gute Gesundheitsversorgung, gerade in der Fläche einsetzen.

Anknüpfend an die Tour aus dem Jahr 2025 fühlen wir uns ermutigt und aufgefordert, das Motto weiter zu tragen und die gelungene Kombination von gemeinsamen leistbaren, sportlichen Aktivitäten, guten Gesprächen, Besuchen und Besichtigungen fortzusetzten.

Die Tour setzt sich aus insgesamt drei Tagesetappen zusammen, die es auch Interessierten und Unterstützern ermöglicht, lediglich an einzelnen Etappen teilzunehmen. Die Tagestouren betragen durchschnittlich 50 km und sollen die Teilnehmenden keinesfalls überfordern. Angemessene, radfreundliche Quartiere werden bei Bedarf rechtzeitig vorab organisiert. Dafür ist eine verbindliche Anmeldung für diese Tour erforderlich. Wir freuen uns auf alle, die daran teilnehmen wollen und sich anmelden.

Interessierte haben die Möglichkeit sich bei den Organisatoren genauer zu erkundigen. Wir möchten mit ausreichendem Abstand zur Tour drei regionale Vorbereitungstreffen durchführen. Dort können eventuelle Fragen geklärt und Anregungen eingebracht werden.

Mach mît-sel dabell

Kontakt:
Bei Fragen zu der Tour könnt Ihr Euch gern wenden an

  • Marion Scheier (marion.scheier@posteo.de) Tel: 0171 6552037;
  • Klaus Just (klausjust6@ginail.com) Tel: 0172 8352890; und
  • Georg Heidel (gk-heidel@t-online.de), Tel: 0151 12434342

Tausende Flugbegleiter von Air Canada widersetzen sich der Anordnung der Regierung, ihren Streik abzubrechen und erkämpfen erfolgreich eine Vereinbarung!

Ein toller Artikel über einen tollen Streikerfolg. Die Streikenden haben trotz Verbot weitergestreikt und sich durchgesetzt. Alte Lehre: nur eine verlorener Streik ist illegal! Ein Lehrstück auch für uns in Deutschland, wie wir unser Streikrecht behaupten müssen!

August 25, 2025 / Jenny Brown

Flugbegleiter von Air Canada und der Tochtergesellschaft Air Canada Rouge legten am 17. August vorzeitig die Arbeit nieder. Wie erwartet befahl ihnen die liberale Regierung zwölf Stunden später, wieder an die Arbeit zu gehen, und erklärte ihren Streik für rechtswidrig.

In einem mutigen Schritt mit weitreichenden Folgen widersetzten sich die 10.000 streikenden Flugbegleiter der Anordnung. 99,7 Prozent der Flugbegleiter hatten sich Anfang des Monats für einen Streik ausgesprochen .

Ihre Gewerkschaft, eine Mitgliedsorganisation der Canadian Union of Public Employees, erklärte, die Anordnung zur Rückkehr an den Arbeitsplatz verletze ihr Streikrecht, und CUPE-Präsident Mark Hancock zerriss sie .

„Die Mitglieder werden daran erinnert, dass es keine Straftat ist, an der Streikpostenkette zu bleiben“, schrieb die Gewerkschaft in einem Tarifupdate . „Gewerkschaftsführer können zwar verhaftet werden, Gewerkschaftsmitglieder laufen jedoch keine Gefahr, wegen der Teilnahme am Streik verhaftet zu werden. Bitte melden Sie sich weiterhin zum Streikpostendienst und melden Sie sich wie geplant.“

Schätzungsweise 3.000 Flüge wurden gestrichen, täglich seien 130.000 Passagiere betroffen, berichteten Analysten der Fluggesellschaft. Angesichts der Verluste von 43 Millionen Dollar pro Tag nahm die Fluggesellschaft die Verhandlungen abrupt wieder auf.

Die kanadische Bundesregierung hat seit Juni 2024 acht Mal Arbeitsaufnahmeanordnungen erlassen, um Streiks zu stoppen oder zu verhindern. Die Flugbegleiter von Air Canada waren in diesem Zeitraum die ersten, die sich dieser Anordnung widersetzten.

„GEFÄNGNIS? SO SEI ES“

„Wenn das bedeutet, dass Leute wie ich ins Gefängnis müssen, dann ist das eben so“, sagte Hancock auf einer Pressekonferenz . „Wenn das bedeutet, dass unsere Gewerkschaft eine Geldstrafe zahlen muss, dann ist das eben so.“

Die Arbeiter demonstrierten vor Flughäfen in ganz Kanada und skandierten „Zum Fliegen gezwungen? Wir werden uns nicht fügen!“. Sie trugen Schilder mit der Aufschrift „Unsere Rechte bleiben am Boden? Die Flugzeuge bleiben am Boden!“ und „Unbezahlte Arbeit ist nicht flugfähig.“ Andere kanadische Gewerkschaften schlossen sich ihnen bei Kundgebungen in Montreal und anderswo an.

Die US-amerikanische Association of Flight Attendants (AFA) sandte eine Solidaritätsbotschaft, in der sie ein Ende der Hungerlöhne bei der Fluggesellschaft forderte. „Wenn Sie als Air-Canada-Passagier einen Flug mit Verspätung oder Annullierung haben, denken Sie daran, wer die Schuld trägt: die Gier der Unternehmen“, sagte AFA-Präsidentin Sara Nelson.

Air Canada war ursprünglich in staatlichem Besitz, wurde aber 1988 privatisiert. Im vergangenen Jahr erzielte das Unternehmen einen Gewinn von fast drei Milliarden Dollar und führte umfangreiche Aktienrückkäufe durch, darunter geplante Aktienrückkäufe im Wert von 300 Millionen Dollar in diesem Jahr. Der Vorstandsvorsitzende verdiente im vergangenen Jahr 14,6 Millionen Dollar.

Drei Tage später einigten sich die Air-Canada-Arbeiter auf eine vorläufige Vereinbarung, die offenbar auch eine gewisse Bezahlung für den Bodendienst vorsieht, ein großes Thema im Zuge des Streiks und der achtmonatigen Verhandlungen, die ihm vorausgingen. 

Die Mitglieder stimmen ab dem 27. August innerhalb von zehn Tagen über den vorgeschlagenen Vertrag ab.

KOSTENLOS ARBEITEN?

Nach Angaben der Gewerkschaft lagen die Löhne der Flugbegleiter in den vergangenen Verhandlungen „unter der Inflationsrate, unter dem Marktwert [und] unter dem Mindestlohn“, da ein Großteil der Arbeitszeit der Flugbegleiter nicht vergütet werde.

Flugbegleiter von Air Canada erhalten für die Zeit, die sie arbeiten, bis sich die Einstiegstür schließt, keinen Lohn und werden auch nicht mehr bezahlt, wenn sich die Tür wieder öffnet. „Als Flugbegleiterin bei Rouge war ich einmal fast 14 Stunden im Dienst, ohne dass das Flugzeug jemals abgehoben hat“, schrieb ein CUPE-Mitglied auf Facebook. „Wegen eines Wartungsproblems mussten wir dreimal Passagiere ein- und aussteigen lassen … Ich bekam nur etwas mehr als vier Stunden bezahlt.“

Auch in den USA ist diese Behandlung von Flugbegleitern seit langem üblich. Allerdings haben die Flugbegleitergewerkschaften kürzlich bei Alaska, SkyWest und American Airlines eine höhere Bezahlung für den Bodendienst erstritten. Bei American Airlines erstritten 26.000 Mitglieder der Association of Professional Flight Attendants eine Bordzulage sowie eine sogenannte „Sit-Time Rig“ – eine Bezahlung für die Zeit, in der sie länger als zweieinhalb Stunden arbeiten, aber nicht fliegen, meist aufgrund von Flugplanausfällen.

Im Jahr 2022 verlängerte Delta die Halbierung der Bezahlung für das Boarding, um Gewerkschaftsbemühungen zu verhindern. Delta ist nach wie vor die einzige große US-Fluggesellschaft, bei der Flugbegleiter nicht gewerkschaftlich organisiert sind, obwohl die AFA seit Jahren versucht, das Unternehmen zu organisieren.

Bei United Airlines lehnten im Juli 28.000 AFA-Flugbegleiter mit überwältigender Mehrheit einen von der Gewerkschaft empfohlenen Tarifvertrag ab, der die Hälfte des Gehalts beim Boarding sowie erhebliche Gehaltserhöhungen vorsah. Von 92 Prozent der Stimmen lehnten 71 Prozent den Vertrag ab, und die Parteien verhandeln nun wieder. United, Delta und American Airlines sind die größten Passagierfluggesellschaften der Welt.

Streikrecht

Die kanadische Regierung beruft sich mittlerweile regelmäßig auf Paragraph 107 des Arbeitsgesetzes, um streikende Arbeiter zur Rückkehr an die Arbeit zu zwingen. Sie beruft sich dabei auf Notstandsbefugnisse, um den Arbeitsfrieden wiederherzustellen. Arbeitgeber wie Air Canada scheinen nun darauf zu zählen, dass die Regierung die Streiks schnell beendet – das Unternehmen hatte bereits vor der Regierungsanordnung die Wiederaufnahme des Flugbetriebs angekündigt.

„Echte Verhandlungen können nicht stattfinden, wenn eine Seite darauf setzt, dass die Regierung der [Gewerkschaft] ihre Rechte entzieht“, sagte Hancock von CUPE auf einer Pressekonferenz, auf der er die Anordnung verurteilte .

Im vergangenen Jahr wurde das Gesetz gegen Bahn- und Hafenarbeiter eingesetzt , im November waren 55.000 Postangestellte betroffen . In diesen Fällen kehrten die Streikenden an ihren Arbeitsplatz zurück. In einigen Fällen zwingen diese bundesstaatlichen Anordnungen die Parteien zu einem verbindlichen Schiedsverfahren. Im Fall der Postangestellten zwang die Regierung sie jedoch, über ein Tarifangebot abzustimmen , das sie dann zu fast 70 Prozent ablehnten. Die Arbeiter, Mitglieder der kanadischen Postgewerkschaft, lehnen Überstunden ab.

In früheren Jahren erfolgten Arbeitsaufnahmeanordnungen meist in Form von Gesetzen, die vom Parlament verabschiedet wurden. Doch 2015 erklärte der Oberste Gerichtshof Kanadas, dass das Streikrecht durch die kanadische Verfassung geschützt sei. „Seit die Liberalen die vage Formulierung des Gesetzes zur Förderung des ‚Arbeitsfriedens‘ jedoch so auslegen, dass sie in jeden Streik eingreifen können, der ihnen nicht passt, sind die Arbeiter einer Flut von Repressionen ausgesetzt“, schrieb Adam DK King in The Maple .

CUPE und der Canadian Labor Congress haben die Aufhebung von Abschnitt 107 gefordert, der 1984 in Kraft getreten war.

Doch der Gesetzesbruch könnte es dauerhaft zerstört haben. Die Weigerung der Flugbegleiter, wieder ins Berufsleben zurückzukehren, „schafft einen Präzedenzfall dafür, dass Paragraf 107 nicht mehr wirksam, praktisch tot ist“, sagte die Präsidentin des Canadian Labour Congress, Bea Bruske, gegenüber der Canadian Press . „Der beste Weg, damit umzugehen, ist, ihn vollständig abzuschaffen, denn Gewerkschaften, Arbeitnehmer und die Arbeiterbewegung sind dadurch ermutigt worden, und wir werden nicht umkehren.“

Andere kanadische Arbeitnehmer haben die Anordnung zur Rückkehr an den Arbeitsplatz missachtet. Im Jahr 2022 versuchte Ontario, 55.000 streikende Schulangestellte durch ein Provinzgesetz zur Rückkehr an den Arbeitsplatz zu zwingen. Diese widersetzten sich jedoch dem Gesetz, und andere Gewerkschaften drohten mit einem Generalstreik . Die Regierung machte einen Rückzieher.

Mitglieder der Flugbegleitergewerkschaft sprechen während der Verhandlungen über den Vertrag nicht mit der Presse, sagte ein Sprecher der CUPE. Das Abstimmungsergebnis wird am 6. September erwartet.

„Wenn Gesetze Milliardengewinne über die Arbeitnehmer stellen, ist Widerstand geboten“

Das Folgende ist ein Auszug aus dem Bargaining Committee Update vom 18. August der Air Canada-Komponente der CUPE :

… Das Canada Industrial Relations Board hat den Streik für illegal erklärt. Die Konsequenzen für das Verbleiben am Streikposten haben sich jedoch seit gestern nicht geändert. Die Mitglieder werden daran erinnert, dass es keine Straftat ist, am Streikposten zu bleiben. Gewerkschaftsführer können zwar verhaftet werden, Gewerkschaftsmitglieder sind jedoch nicht von der Teilnahme am Streik bedroht. Bitte melden Sie sich weiterhin zum Streikpostendienst und melden Sie sich wie geplant.

Denjenigen, die Bedenken haben, sich einer ungerechten Anordnung zu widersetzen, möchten wir einige Einblicke und Informationen bieten, die von einem Rechtsberater geprüft wurden.

Es gibt Formulierungen, die unser Vorgehen als illegal bezeichnen. Wir sagen ihnen, dass sie mit allen möglichen Bedingungen um sich werfen können, aber die schlichte Wahrheit ist, dass diese Anordnung unfair ist. Sie dient dem Schutz von Unternehmen. Der Vorsitzende des Canada Industrial Relations Board, der zuerst gegen uns entschied, war bis 2023 als Anwalt von Air Canada tätig. Wir fechten diesen verfassungswidrigen Angriff auf die Arbeitnehmerrechte an. Die Weigerung dieses Vorsitzenden, sich selbst zu befangen, ist schwer zu begreifen.

Widerstand gegen Ausbeutung ist nicht unrechtmäßig. Wir müssen für unsere Charta-Rechte eintreten und werden uns gegen fehlerhafte Arbeitsgesetze wehren. Wenn Gesetze Milliardengewinne gegenüber Arbeitnehmern schützen, ist Widerstand geboten. Bitte seien Sie sich dessen bewusst:

Jede Gewerkschaft in Kanada steht hinter Ihnen. Vom Canadian Labour Congress über die Hafenarbeiter bis hin zu den Lehrern. Das betrifft mittlerweile viel mehr als nur die CUPE. Wir sind nicht allein.

Kein Mitglied wird die Konsequenzen alleine tragen müssen. CUPE übernimmt alle Rechtskosten und Bußgelder. Wir lassen unsere eigenen Leute nicht im Stich.

Genau wie wir es 2022 mit den Bildungsarbeitern in Ontario getan haben, werden wir nicht nachgeben, bis wir gewinnen. Die Öffentlichkeit und die gesamte Gewerkschaftsbewegung stehen hinter uns.

Dies ist nun eine Bewegung. Die gesamte Arbeiterbewegung hat gestern Abend einstimmig für unsere Unterstützung gestimmt – mit Taten, nicht nur mit Worten.

Solidarität ist nicht symbolisch. Es ist mit Massenstreiks, Nebenaktionen und landesweiten Protesten zu rechnen, wenn Air Canada sich weigert, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Wir möchten euch allen etwas zum Nachdenken geben. Sie wollen euch Angst machen. Wir wollen euch stolz machen! Vertraut eurer Gewerkschaft – nicht Air Canada. Air Canadas Pläne werden heute wegen EUREM Mut nicht aufgehen. Unterschätzt niemals die Entschlossenheit einer Flugbegleiterin. Wir haben viel durchgemacht, und dieses historische Ereignis wird eine Geschichte sein, die wir unseren Nachkommen erzählen werden. Wir werden uns erinnern.

Alles, was für viele selbstverständlich ist, wurde von den Gewerkschaften unserer Zeit hart erkämpft. Dinge wie der Achtstundentag, Wochenenden und Sicherheitsgesetze wurden ebenfalls durch „illegale“ Streiks erkämpft. Wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte und der Gerechtigkeit. Wir sind stark. Wir sind vereint.

Wir danken Ihnen für Ihre anhaltende Solidarität und ermutigen alle Mitglieder, in dieser kritischen Zeit vereint zu bleiben.

„Gerechtigkeit ist die Anwendung des Rechts auf das Leben, nicht nur die Anwendung von Gesetzen auf Tatsachen.“ 

– Richterin am Obersten Gerichtshof Rosalie Abella

In Solidarität,

Ihr Tarifausschuss , Luis Feliz Leon hat zur Berichterstattung beigetragen.

Wir danken für das Publikationsrecht einschließlich Titelbild. Hier der Link zum Original

Zum Titelbild: Gewerkschaftsmitglieder protestierten am 17. August vor der Air-Canada-Zentrale in Montreal und widersetzten sich damit einer behördlichen Anordnung zur Wiederaufnahme der Arbeit. Sie gehören der Air-Canada-Abteilung der kanadischen Gewerkschaft für öffentliche Angestellte (CUPE AIR CANADA))

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