Anwälte gegen Palästina-Repression in Berlin

51 Anwält*innen in Offenem Brief an Polizei und Justiz: »From the river to the sea, palestine will be free« soll entkriminalisiert werden.

Jule Meier , 05.08.2025,nd

Die Berliner Polizei nimmt regelmäßig Demonstrant*innen fest, wenn diese »from the river to the sea, palestine will be free« skandieren. Auf die Festnahmen können Strafbefehle und teilweise sogar Anklagen folgen. In den vergangenen Monaten hat das Berliner Amtsgericht jedoch mehrfach Menschen freigesprochen, die den umstrittenen Slogan verwendet haben.

Ist die Parole somit noch strafbar? 51 Anwält*innen wenden sich am Dienstag in einem Offenen Brief an Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik Meisel und den leitenden Oberstaatsanwalt Jörg Raupach. Sie fordern den »umgehenden Stopp der Verfolgung von Menschen, welche diesen Protestslogan verwenden«, wie dem Brief zu entnehmen ist, der »nd« vorliegt.

Die Rechtsanwält*innen verteidigen Angeklagte im Zusammenhang mit dem Slogan oder verfolgen die gesellschaftliche Debatte dazu, wie sie schreiben. Zu den Unterzeichnenden gehören der Vorsitzende der Linksfraktion in der Bezirksverordnetenversammlung in Neukölln, Ahmed Abed, die Anwältin und Autorin Christina Clemm sowie Nadija Samour, Partneranwältin bei der Nichtregierungsorganisation (NGO) European Legal Support Center (ELSC). Das ELSC ist eine Rechtshilfeorganisation für die Solidaritätsbewegung mit Palästina in Europa.

Insbesondere in der Hauptstadt würden wegen des Slogans »pausenlos Menschen auf Demonstrationen festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt, Strafbefehle und Bußgelder verhängt, Wohnungen durchsucht, Festplatten und Mobiltelefone beschlagnahmt, Einbürgerungen oder die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen suspendiert, Demonstrationen untersagt oder aufgelöst«, heißt es in dem Brief. Die Festnahmen erfolgten dabei in den meisten Fällen gewaltsam und mit der Folge von körperlichen Verletzungen und des mehrstündigen Freiheitsentzugs. Zuletzt berichtete »nd« über derartige Gewalt auf der Internationalist Queer Pride, auf der die Parole skandiert wurde.

Den Unterzeichnenden zufolge seien seit dem 7. Oktober 2023 deutschlandweit mehrere Tausend Verfahren geführt worden. »Kein anderes Land weltweit ist im Übrigen bislang auf die Idee gekommen, den Slogan als Kennzeichen der Hamas zu verfolgen«, so die Anwält*innen. Die Staatsanwaltschaft klagt Menschen an, die die Parole benutzen, weil sie damit ein Kennzeichen einer verbotenen Vereinigung verwenden würden. Das Bundesinnenministerium hatte im November 2023 die Hamas zu so einer erklärt und die Parole »from the river to the sea« ohne den zweiten Teilsatz zum Symbol dieser erklärt.

»Kein anderes Land ist bislang auf die Idee gekommen, den Slogan als Kennzeichen der Hamas zu verfolgen.«Offener Brief

Doch selbst ein Gutachten des Berliner Landeskriminalamts (LKA) aus dem Mai 2025 kann keine Belege für eine Verwendung der Parole durch die Hamas finden. Die Geschichte der Parole reicht bis in die 1960er Jahre zurück, als palästinensische Akteure sie benutzten, um einen säkularen Staat zu fordern. Die Parole wird und wurde von verschiedenen Organisationen verwendet. Auch die Hamas verwendete eine Abwandlung der Parole, jedoch nicht als Wahlspruch, so das Gutachten des LKA.

Leseempfehlung zum Thema: Stellungnahmen zur Polizeigewalt auf der Internationalist Queer Pride

In ihrem Brief beziehen sich die Anwält*innen auf das LKA-Gutachten sowie auf vier verschiedene Freisprüche, die zwischen Mai und Juli 2025 vor dem Berliner Amtsgericht ergangen sind. Den Freisprüchen folgend hätten weitere Abteilungen des Amtsgerichts Anklagen der Staatsanwaltschaft nicht zur Hauptverhandlung zugelassen.

Ein Urteil des Landgerichts, mit dem eine Angeklagte rechtskräftig wegen der Verwendung der Parole verurteilt wurde und auf das sich die Staatsanwaltschaft regelmäßig berufe, sei nicht nur überholt, so der Offene Brief. Zudem sei auch nicht dargelegt worden, wie sich die Hamas den Slogan zu eigen gemacht habe. »Die von der Strafkammer vorgezeichnete Linie läuft auf eine pauschale Kriminalisierung der mehrdeutigen Wortfolge hinaus«, hatte der Anwalt Robert Brockhaus bereits im Februar 2025 im Verfassungsblog ausgeführt. Der Schuldspruch sei grundrechtlich bedenklich und »auch aus strafrechtlicher und tatsächlicher Perspektive problematisch«, so Brockhaus.

Auch die UN-Sonderberichterstatterin für Meinungsfreiheit hatte in einem Bericht aus dem Jahr 2024 geschrieben, eine pauschale Strafbarkeit sei nicht im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen. Denn somit würden all jene mit Strafe bedroht, die die Parole ohne Bezug zur Hamas verwenden. Die UN-Sonderberichterstatterin weist darauf hin, dass Wissenschaftler*innen, Menschenrechtsexpert*innen und viele jüdische Gruppen in dem Slogan den Aufruf zum Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser*innen erkennen.

»Die Befunde des Gutachtens und des Amtsgerichts Tiergarten sind eindeutig – die Verwendung des Slogans ist divers, seine Bedeutung ist mannigfaltig«, heißt es in dem Brief an Slowik Meisel. Von der Polizeipräsidentin fordern die Unterzeichnenden, die Polizei unverzüglich anzuweisen, Menschen nicht mehr wegen der Parole zu verfolgen. Slowik Meisel antwortete auf Anfrage dazu nicht innerhalb einer kurzen Frist. Selbiges gilt für die Staatsanwaltschaft, von der die Unterzeichnenden des Briefes fordern, dass diese anhängige Anklagen und Strafbefehlsanträge zurücknimmt.

Der vollständige Offene Brief ist hier lesbar.

Der Beitrag von Jule Meier ist am 5.8.2025 im nd erschienen. Wir danken für das Publikationsrecht.

Leseempfehlung zum Thema: Stellungnahmen zur Polizeigewalt auf der Internationalist Queer Pride

Stellungnahmen zur Polizeigewalt gegen Demonstrierende auf der „INTERNATIONALIST QUEER PRIDE“-Demonstration in Berlin

Zur Polizeigewalt am 26 Juli auf dem Berliner alternativen CSD „Internationalist Queer Pride“ haben ALLIANCE OF INTERNATIONALIST FEMINISTS, PA-ALLIES und Arrest Press Unit eine Erklärung verfasst, die wir hier neben weiteren Kommentaren veröffentlichen:

Am 26. Juli 2025 gingen etwa fünfzehntausend Menschen in Berlin auf die Straẞe, um am Internationalist Queer Pride teilzunehmen – einer Demonstration, die auf dem Erbe des Widerstands gegen Polizeigewalt in Stonewall basiert.

Einige fragen, warum ist die Palästinenserfrage auch für Queers so wichtig? Die Antwort ist ganz einfach. Beide werden ganz besonders unterdrückt. Besonders Unterdrückte müssen sich auf der ganzen Welt zusammenschließen! Nur zusammen können sie etwas verändern! 

Organisiert von einer breiten Koalition – von Queer- und Trans-Communities bis hin zu palästinensischen und internationalistischen Communities – hatte die diesjährige Demonstration einen groẞen und starken Palästina-Block mit dem klaren Verständnis, dass ,,die Befreiung der Queers grundlegend mit dem Traum von der Befreiung Palästinas verbunden ist: Selbstbestimmung, Würde und das Ende der Besatzung und aller Unterdrückungssysteme.
Der Protest wendete sich gegen Kriegspropaganda und das Pinkwashing der israelischen Besatzungsmacht, einschlieẞlich ihrer anhaltenden Kampagne des Völkermords und der Zwangaushungerung in Gaza, der ethnischen Säuberung, des Landraubs und der Besetzung des gesamten historischen Palästinas. Der Protest prangerte auch die tiefe Komplizenschaft und aktive Beteiligung Deutschlands am Genozid an. Die Botschaft war klar: Keine Feierlichkeiten für Völkermord und Zwangsaushungerung, kein Stolz auf Besatzung, ethnische Säuberung und Apartheid.

Von Beginn der Demonstration an wurde der Palästina-Block kriminalisiert. Der erste Fall von Polizeigewalt ereignete sich noch bevor der Marsch überhaupt begonnen hatte: Polizisten stürmten den Bereich um den Protestwagen und nahmen Menschen ins Visier. Die Demonstranten ketteten sich aneinander und widersetzten sich erfolgreich dem Angriff, sodass die Polizei vorübergehend zurückweichen musste.

Während der gesamten Demo setzte die Polizei verschiedene Taktiken der Unterdrückung gegenüber den Versammlungsteilnehmenden ein, darunter gewaltsame Stürme auf die Menge, wiederholte Schläge gegen die Demonstranten, oft absichtlich auf Kopf und Brust, die zu schweren Verletzungen führten, sowie brutale und willkürliche und gezielte Verhaftungen.

Nachdem die Polizei die Demonstration verboten und verhindert hatte, dass sie ihr vereinbartes Ziel erreichte, umzingelte sie die Menge und griff sie erneut brutal an, insbesondere den palästinensischen Block. Die Polizei hielt die Demonstranten mit gewaltsamen Taktiken fest, verwehrte ihnen die Möglichkeit, friedlich zu gehen, und schlug und verhaftete sie brutal auf den Straẞen und in der U-Bahn-Station.

Infolgedessen wurden zahlreiche Demonstranten verletzt, und mehrere Krankenwagen mussten von den Rettungssanitäterinnen vor Ort gerufen werden, um Erste Hilfe zu leisten. Trotz dieser gewaltsamen Unterdrückung gelang es den Demonstranten, ihre schutzbedürftigsten Teilnehmerinnen, darunter viele Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, erfolgreich zu schützen. Die Demonstranten schützten sich gegenseitig mit Transparenten, Menschenketten und kollektiver Fürsorge- wodurch sie die Polizei mehrfach zum Rückzug zwangen und noch gröẞeren Schaden verhinderten.

Kommentar einer Teilnehmerin: „Bei solchem Polizeischutz bedarf es keiner Nazis mehr, die Queer und Trans Mensch angreifen.“ ( Foto eines Demobeteiligten)

Die Arrest Documentation Unit sammelte umfangreiches Bildmaterial und Augenzeugenberichte über illegale Polizeieinsätze. Aufgrund des Ausmaẞes der Repressionen konnte die Gesamtzahl der Festnahmen nicht bestätigt werden; die Einheit dokumentierte jedoch mindestens 65 Personen, die aus absurden oder unrechtmäẞigen Gründen brutal festgenommen wurden, beispielsweise weil sie zuvor von Gerichten als legal eingestufte Sprechchöre sangen oder wegen angeblichen ,,Widerstands gegen die Festnahme“, der nie stattgefunden hatte.

Medizinische und Rettungskräfte meldeten eine erhebliche Anzahl von Verletzungen, die durch Polizeigewalt verursacht wurden. Zahlreiche Demonstranten wurden am Kopf, im Gesicht, am Rücken und am Bauch getroffen, viele davon wiederholt. Mehrere Personen wurden zu Boden gestoẞen, und die Rettungskräfte meldeten, dass mehrere Personen das Bewusstsein verloren hatten. Die Rettungskräfte behandelten mehrere Demonstranten wegen stumpfer Gewalteinwirkung, Gesichtsschwellungen, Blutergüssen, leichten Blutungen und Anzeichen leichter Kopfverletzungen. Eine Person erlitt eine schwere Verletzung, als ihr eine Polizeikamera ins Gesicht geschlagen wurde.

Die Festgenommenen berichteten auch von transphober Belästigung durch Polizeibeamte. Eine Person sagte aus: ,In jeder Phase verspotteten und belachten mich verschiedene Beamte. Besonders schlimm war es in der GESA.“

Israelischer Kulturminister Amichai Eliyahu: „Die Armee muss für die Zivilisten in Gaza schmerzhaftere Mittel finden als den Tod. Sie zu töten, reicht nicht.“ In letzter Konsequenz verteidigen der Berliner Regierende Bürgermeister Wegner und seine Polizeibrigaden solche Leute, wenn sie systematisch die Menschen verfolgen und diffamieren, die diese israelische Politik kritisieren!

Wir haben ein hohes Maẞ an Polizeigewalt beobachtet. Die meisten Verletzungen wurden durch wiederholte Schläge auf den Kopf verursacht, einige führten zu Symptomen einer Gehirnerschütterung und Platzwunden am Kopf. Es gab auch Prellungen, Blutungen, stumpfe Traumata im Nierenbereich und Ohnmachtsanfälle.
„Die Rettungssanitäter wurden wiederholt von der Polizei misshandelt und gestoẞen“, erklärte eine Rettungssanitäterin vor Ort.

Wir bekräftigen, dass die Menschen sich gegenseitig schützen können und müssen, wenn der Staat das Recht auf Versammlung und Meinungsäuẞerung nicht gewährleistet. Die weit verbreitete öffentliche Verurteilung des anhaltenden Völkermords durch die israelische Besatzung und der Komplizenschaft Deutschlands darf nicht durch Einschüchterung, Kriminalisierung, Gewalt oder Massenverhaftungen zum Schweigen gebracht werden.
Anstatt uns entmutigen zu lassen, erleben wir eine wachsende Welle der Solidarität. Während der Polizeigewalt bei den Protesten haben sich viele Umstehende gegen die Gewalt und für die Befreiung Palästinas ausgesprochen. Dieses wachsende zivile Bewusstsein zeigt, dass die Menschen nicht länger bereit sind, wegzuschauen.
Niemand ist frei, solange Palästina nicht frei ist. Gemeinsam sind wir stärker – und wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen
.

Unter den Festgenommenen befanden sich Minderjährige (darunter ein 14-Jähriger und mehrere palästinensische Jugendliche), ältere Menschen und fünf Mitglieder des Sensibilisierungs- und Sicherheitsteams der Demonstration. Sechs Personen wurden in die zentrale Haftanstalt (Gefangenensammelstelle) gebracht. Alle Festgenommenen wurden nach brutaler und erniedrigender Behandlung während und nach der Festnahme wieder freigelassen. Die Polizei wandte Schmerzgriffe und Würgegriffe an, bedeckte gewaltsam die Augen und Münder der Inhaftierten, einige wurden an den Haaren gezogen, wodurch sie ernsthaften Verletzungen ausgesetzt waren und eine grausame und unmenschliche Behandlung erlitten, die einer Folter gleichkam.

Wir fordern:

  • Die sofortige Beendigung der militärischen, finanziellen und politischen Unterstützung Deutschlands für den Völkermord und die Besatzung durch Israel.
  • Die sofortige Beendigung des Völkermords, der ethnischen Säuberungen und der Besatzung Palästinas.
  • Die Beendigung der Belagerung des Gazastreifens, der Politik der Aushungerung und der unerbittlichen Bombardierung palästinensischer Leben.
  • Die Beendigung der Polizeigewalt und Kriminalisierung von Solidarität mit Palästina in Deutschland.
  • Die strafrechtliche Verfolgung von Polizisten, die für rechtswidrige Verhaftungen, übermäẞige Gewaltanwendung, Verweigerung medizinischer Versorgung und Angriffe auf Journalisten verantwortlich sind.
  • Strafverfolgung von Politikern, die die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit der israelischen Besatzung bewaffnen, finanzieren und politisch ermöglichen.
Wir rufen Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und internationale Beobachter dazu auf, die Rolle Deutschlands beim Völkermord in Palästina und die Unterdrückung derjenigen, die sich
dagegen aussprechen, aufzudecken und anzufechten. Die Verteidigung des Völkerrechts und der Bürgerrechte beginnt hier.

Es lebe die Befreiung Palästinas

Kontakt:
palestiniansandallies@proton.me aif_ 1312 @riseup.net arrestunits-berlin@proton.me

Der westliche Exzeptionalismus

EU verweigert Maßnahmen gegen Israel wegen dessen offenkundiger Kriegsverbrechen im Gazastreifen. Andernorts wird Kritik laut – im Globalen Süden, unter Ex-Botschaftern sowie in Israel selbst.

16. Juli 2025, German Foreign Policy

BERLIN/TEL AVIV (Eigener Bericht) – Die EU ergreift weiterhin keine Maßnahmen gegen Israel aufgrund dessen Kriegsführung im Gazastreifen, die jüngsten Pläne zur Deportation der palästinensischen Bevölkerung eingeschlossen. Dies haben die EU-Außenminister am gestrigen Dienstag beschlossen. Demnach genügt die womöglich nur kurzfristige Ausweitung der israelischen Hilfslieferungen in den Gazastreifen, um Forderungen einiger EU-Staaten – darunter Spanien – nach zumindest einer Aussetzung des Assoziierungsabkommens mit Israel abzuwehren. Für die Verhinderung von Maßnahmen gegen Israels ultrarechte Regierung hatte sich insbesondere Deutschland stark gemacht; es wurde dabei von den Rechtsregierungen Italiens und Ungarns unterstützt. Unterdessen nehmen Kritik sowie Protest gegen die israelische Kriegsführung zu. Während Israels einstiger Premierminister Ehud Olmert erklärt, er stufe das geschlossene Lager, das auf den Trümmern von Gaza errichtet werden und im ersten Schritt 600.000 Palästinenser aufnehmen soll, als „ein Konzentrationslager“ ein, sind in Bogotá gestern rund 30 Staaten zusammengekommen, um konkrete Maßnahmen gegen Israel einzuleiten und den westlichen, das Völkerrecht ignorierenden „Exzeptionalismus“ zu stoppen.

Update 21. Juli (Peter Vlatten):

Australien, Österreich, Belgien, Kanada, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Island, Irland, Italien, Japan, Lettland, Litauen, Luxemburg, die Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien, Schweden, die Schweiz und das Vereinigte Königreich fordern ein sofortiges Ende des Gazakriegs und verurteilen Israels "unmenschliche Tötung von Zivilisten" und "die Verweigerung lebenswichtiger humanitärer Hilfe".

Nicht dabei ist Deutschland, das lieber weiter Netanjahu den Rücken deckt als ein einziges Mal Haltung zu zeigen.

Allerdings:sie klagen an, aber wo bleiben die Taten und Konsequenzen?

Notgipfel“ in Bogotá

In der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá sind am gestrigen Dienstag die Länder der The Hague Group zu ihrem ersten „Notgipfel“ zusammengetroffen. Die Organisation wurde am 31. Januar in Den Haag gegründet, um Israels Völkerrechtsbrüchen vor allem im Gazakrieg ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Man gehe damit gegen den „Exzeptionalismus“ der westlichen Staaten und gegen eine „breitere Erosion des internationalen Rechts“ vor, teilte in der vergangenen Woche Südafrikas Minister für internationale Beziehungen, Roland Lamola, mit.[1] Mitgliedstaaten der The Hague Group sind – außer Südafrika – Bolivien, Honduras, Kolumbien, Kuba, Malaysia, Namibia und Senegal. Die Gruppe strebt insbesondere auch ein Ende der Waffenlieferungen an Israel an. Zu dem „Notgipfel“, der am heutigen Mittwoch zu Ende geht, sind rund zwei Dutzend weitere Staaten eingeladen worden – zumeist solche, die wie die Mitglieder der The Hague Group dem Globalen Süden zugerechnet werden, aber auch einige europäische Staaten, darunter Irland, Spanien, Portugal, Slowenien und Norwegen. Auf dem Treffen sollen neue Wege gefunden werden, um Israel wegen seiner offensichtlichen Kriegsverbrechen im Gazastreifen zu isolieren und die Gewalt gegen die Palästinenser zu stoppen.[2]

Die Doppelmoral des Westens

Kurz zuvor hatten sich 27 ehemalige Botschafter einer ganzen Reihe europäischer Staaten in einem Offenen Brief unter anderem an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident António Costa und EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola gewandt – und darin konkrete Maßnahmen verlangt, um Israel an einer Fortsetzung seines Kriegs und seiner Völkerrechtsverbrechen zu hindern. Darin hieß es, das Massaker vom 7. Oktober 2023 könne „nie gerechtfertigt“ werden; man verurteile die Verbrechen einhellig.[3] Doch hätten die israelischen Streitkräfte inzwischen viele Zehntausende Palästinenser getötet, unter ihnen „eine alarmierende Zahl an Kindern“. Die Zerstörung von Wohn- und Krankenhäusern, von Schulen und von Zentren zur Verteilung von Lebensmitteln sei „erschreckend“. Die Reaktion der israelischen Regierung auf das Massaker vom 7. Oktober 2023 sei „unterschiedslos und komplett unverhältnismäßig“. Gehe die EU nicht dagegen vor, werde dies „ihren ohnehin beschädigten Ruf“ im Nahen Osten und darüber hinaus weiter ruinieren sowie die Kritik an der Doppelmoral des Westens verschärfen. Diese Kritik ist ohnehin seit geraumer Zeit stärker denn je.

Ein Konzentrationslager“

Auch in Israel selbst werden die Proteste gegen das Vorgehen der ultrarechten Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu lauter. Ihnen hat sich mittlerweile unter anderem der frühere Premierminister Ehud Olmert angeschlossen, der einst selbst Netanjahus Likud-Partei angehörte. Olmert, der die israelische Kriegsführung nach dem 7. Oktober 2023 noch unterstützt hatte, erklärt inzwischen, für ihn sei im Frühjahr, als Netanjahu die Gespräche über eine Beendigung des Krieges abgebrochen habe, eine Grenze überschritten worden. Seitdem prangert er israelische Kriegsverbrechen offen an. Am Wochenende äußerte er über die Pläne, auf den Trümmern von Rafah ein geschlossenes Lager für zunächst gut 600.000 Palästinenser zu errichten – die „humanitäre Stadt“, von der Israels Verteidigungsminister Israel Katz spricht –, es sei „unvermeidlich“, dies als Ausdruck des Vorhabens zu begreifen, Palästinenser „zu deportieren, sie wegzuschieben und wegzuwerfen“.[4] Es handle sich um nichts anderes als einen „Teil einer ethnischen Säuberung“, äußerte Olmert gegenüber der Tageszeitung The Guardian. Über das Lager selbst urteilte Olmert wörtlich: „Es tut mir leid, aber das ist ein Konzentrationslager.“ Der Begriff wird von einer wachsenden Anzahl an israelischen Gegnern der israelischen Regierungspolitik verwendet.

„Keine weitere Diskussion“

Die EU hingegen blockt die zunehmende Kritik an Israel weiterhin weitgehend ab – vor allem auf Druck der Bundesrepublik. Bereits am 23. Juni hatten die EU-Außenminister über einen Bericht der EU-Kommission diskutiert, der überprüfen sollte, ob Israel seinen Verpflichtungen aus seinem Assoziierungsabkommen mit der EU noch nachkommt. Der Bericht sei „so vorsichtig wie möglich formuliert“ worden, heißt es [5]; dennoch seien seine Autoren nicht umhingekommen, „Anzeichen dafür“ einzuräumen, „dass Israel seine Menschenrechtsverpflichtungen aus Artikel 2 des Assoziationsabkommens gebrochen“ habe. Spaniens Außenminister José Manuel Albares forderte daraufhin, das Abkommen umgehend auszusetzen und auch die Lieferung von Waffen an die israelischen Streitkräfte einzustellen. Der Vorstoß scheiterte an den ultrarechten Regierungen Italiens und Ungarns sowie an der Bundesrepublik. Außenminister Johann Wadephul erklärte, Israel sei der einzige Rechtsstaat im Nahen Osten und ein enger Verbündeter Deutschlands; es solle deshalb „keine weitere formelle Diskussion“ über eine etwaige Aussetzung des Assoziierungsabkommens geben.[6] Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas wiegelte mit den Worten ab, man hoffe auf „konkrete Verbesserungen“ im Gazastreifen und könne, sollten diese ausbleiben, später immer noch „über weitere Maßnahmen reden“.

Keine Taten

Das haben die EU-Außenminister auf ihrem Treffen am gestrigen Dienstag getan. Seit ihrem vorigen Treffen am 23. Juni sind Hunderte Palästinenser, unter ihnen zahlreiche Kinder, beim Versuch, an den international scharf kritisierten Verteilzentren Nahrungsmittel abzuholen, erschossen worden.[7] Zudem sind die erwähnten Pläne bekanntgeworden, Palästinenser in einem geschlossenen Lager auf den Trümmern von Rafah festzusetzen; israelische Kritiker, unter ihnen etwa Olmert, sprechen von einem „Konzentrationslager“. Die EU-Außenminister dagegen erklärten am Dienstag, in den vergangenen Tagen seien erheblich mehr Lastwagen mit Hilfsgütern in den Gazastreifen gelangt als vorher; zudem seien drei Grenzübergänge geöffnet worden. Dies sei eine positive Entwicklung; deshalb müsse auf eine Aussetzung des Assoziierungsabkommens verzichtet werden.[8] Die Frage des spanischen Außenministers Albares, wie man „nach allem, was geschehen ist“, noch auf „guten Willen“ auf Israels Seite setzen könne, wurde ebenso ignoriert wie ein der Form halber ausgearbeiteter Katalog von Sanktionen, die theoretisch gegen Israel verhängt werden können. Faktisch ist dies selbst bei Sanktionen, die mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden könnten, nicht der Fall: Deutschland und Italien benötigen nurwenige weitere Staaten, um eine Sperrminorität zu erhalten. Israel ist damit faktisch vor Sanktionen sicher.

[1] Sondos Asem: Exclusive: Spain and Ireland to join more than 30 states to declare ‘concrete measures’ against Israel. middleeasteye.net 10.07.2025.

[2] Diego Stacey: Colombia hosts first Hague Group summit to finalize action against Israel’s Gaza offensive. english.elpais.com 15.07.2025.

[3] An Open letter on Israel/Palestine. ceps.eu 14.07.2025.

[4] Emma Graham-Harrison: ‘Humanitarian city’ would be concentration camp for Palestinians, says former Israeli PM. theguardian.com 13.07.2025.

[5], [6] Thomas Gutschker: Auf Amerika angewiesen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.06.2025.

[7] Nir Hasson, Yaniv Kubovich, Bar Peleg: ‘It’s a Killing Field’: IDF Soldiers Ordered to Shoot Deliberately at Unarmed Gazans Waiting for Humanitarian Aid. haaretz.com 27.06.2025.

[8] Thomas Gutschker: Zehn Optionen auf dem Tisch. Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.07.2025.

Der Beitrag ist im Original am 16.07.2025 bei German Foreign Policy erschienen. Wir danken für dss das Publikationsrecht.

Titelbild: Yousef Zaanoun/Activestills, 26.6.2025, Text Peter Vlatten

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