Gaza Komitee und Gewerkschafter:innen4Gaza laden ein zu einer Veranstaltung zu den Themen:
„Deutsche Medien und Gewerkschaften in Zeiten des Völkermords!“
Sonntag, 14. September 14:00 -21:00 Uhr (Einlass ab 13:00 Uhr) BUM, Paul-Lincke-Ufer 21, 10999 Berlin
Eintritt 10 Euro
mit: Palästinensischem Essen (gegen Spende für Familien in Gaza), Infostände, Musik!
ab 14 Uhr:
Die Rolle der Deutschen Medien beim Gaza Genozid (Gaza Komitee)
ab 16:45 Uhr:
Livestream
Wir wollen in einem ersten Teil die Haltung der Deutschen Gewerkschaften in Bezug auf Palästina und die Verbindung des DGBs (Deutscher Gewerkschaftsbund) mit der zionistischen Gewerkschaft Histadrut erläutern und dazu eine palästinensische Perspektive auf Klassenkampf unter kolonialer Unterdrückung diskutieren. Für den zweiten Teil laden wir alle ein, mitzudiskutieren, wie eine internationalistische Gewerkschaftsarbeit in Zeiten von Krieg, Aufrüstung und Genozid aussehen kann.
50 Jahre Partnerschaftsabkommen zwischen der israelischen “Gewerkschaft” Histadrut und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) – 50 Jahre deutsche Unterstützung zionistischer kolonialer Gewalt gegen die Arbeiter:innen-Bewegung in Palästina.
Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Partnerschaftsabkommens zwischen dem DGB und der Histadrut, am 3. September von der DGB-Führung gefeiert, haben wir schlechte Nachrichten: Aus ihrem Elfenbeinturm heraus feiern sie als Errungenschaft der Entnazifizierung Deutschlands ein Abkommen mit einem Partner, der heute Teil des Genozids in Palästina ist. Die Histadrut, in die Welt als bloße Gewerkschaft schöngeredet, ist seit ihren Anfängen eine Agentur der Kolonisierung Palästinas. Seit den 1920er Jahren spielte die Histadrut eine wichtige Rolle bei der ethnischen Segregation und Entrechtung palästinensischer Arbeiter:innen in Palästina , organisierte die ethnische Säuberung 1948 mit und unterstützt bis heute materiell die Siedlungsbewegung. Sie war an der Gründung der IDF und des israelischen militärisch-industriellen Komplexes beteiligt. Trotz ihrer Interessenkonflikte mit der aktuellen rechtsextremen Regierung in Israel unterstützt sie weiterhin den kolonialen Vernichtungskrieg in Gaza.
Mit Claudio Feliziani für StopArmingIsrael Berlin Sai Englert, Sozial-und Politikwissenschaftler Leena Dallasheh, Historikerin aus Haifa
Ab 19:00 Uhr
Offenes Vernetzungstreffen für eine internationalistische Gewerkschaftsarbeit gegen Krieg Aufrüstung und Genozid
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), abgesehen von den programmatischen Erklärungen zum «Eintreten für kontrollierte Abrüstung, Frieden und Völkerverständigung»[1] – ruft nicht nur nicht zu großen Protesten auf, sondern leistet auch keinen nennenswerten Widerstand gegen die Pläne zur Militarisierung der Wirtschaft und gegen die 500 Milliarden Kriegskredite, die bereits durch Kürzungen im Sozial- und Kulturbereich bezahlt werden. Wenn Staatsräson und Interessen des militärisch-industriellen Komplexes gegen den Willen und das Interesse der Mehrheit der Arbeiter:innen in Deutschland den Völkermord in Palästina unterstützen, das endlose Massaker des Ukraine-Kriegs weiter bewaffnen und die Wirtschaft in Vorbereitung auf einen Weltkrieg aufrüsten, wird das Fehlen einer politischen und gewerkschaftlichen Vertretung der damit unvereinbaren Interessen der Arbeitnehmer:innen und das Fehlen einer Perspektive von internationaler Solidarität unerträglich.
Es gibt aber nicht nur schlechte Nachrichten. In Frankreich wie in Italien, Griechenland, Marokko und anderen Ländern zeigen zum Beispiel Hafenarbeiter:innen, dass die Waffenlieferungen gestoppt werden können. Am 4. Juni 2025 weigerten sich beispielsweise in Marseille – Golfe du Fos Hafenarbeiter:innen der Gewerkschaft CGT, Waffen nach Israel für den Genozid auszuladen [2].
CUB, USB und SICobas Basisgewerkschaften in Italien hatten am 20. Juni 2025 zu einem Generalstreik gegen Krieg und Aufrüstung aufgerufen. In den politischen Dokumenten der italienischen Basisgewerkschaften wird der Zusammenhang zwischen Sozialabbau, Kriegswirtschaft und Völkermord in Palästina deutlich [3].
Am 1. August 2025 blockierte das CALP-Kollektiv der Hafenarbeiter von Genua auf Hinweis der Hafenarbeiter von Piräus Athen das Anlegen eines mit Waffen beladenen Containerschiffs der Firma COSCO, das für Israel bestimmt war [4]. CALP Genova undAthen und Marseille haben eine Internationale Koordination der Hafenarbeiter gegründet. Am 26.9. wird ein internationales Treffen von Hafenarbeitern stattfinden.
Mehr als 200 Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen hatten in Spanien schon für den 24. September 2024 zu einem eintägigen Generalstreik aufgerufen „gegen Genozid und Besatzung Palästinas“. [5]
Auch in Deutschland sprechen sich Gewerkschafter:innen gegen den Völkermord und gegen die Aufrüstung aus. [6]
Wie bauen wir hier in Deutschland internationale Solidarität auf?
Gewerkschafter4Gaza lädt alle Interessierten ein – Gewerkschafter:innen und (Noch)Nichtgewerkschafter:innen, Forum Gewerkschaftslinke, Migrantifa, Vernetzung kämpferischer Gewerkschaften, Mo Anker (Hafenarbeiter in Hamburg und aktiv bei „Waffenlieferung Stoppen!), Ramsis Kilani (Sozialismus von unten SvU)… Je mehr interessierte Leute sich beteiligen, um so lebendiger und ertragreicher wird dieser Abend sein.
Sprachliche Entmenschlichung bereitete den Boden für Massaker und Krieg
Wer Arbeiter zu „Vieh“ erklärt, Nachbarn zu „Orks“ und eine Sprache zum Verbrechen, bereitet kein Miteinander vor, sondern ein Schlachtfeld. Der Donbass zeigt, wie Worte töten können – und warum ein Fußballspiel in Kiew 2025 mehr über diese Politik verrät als jede deutsche Talkshow.
Ein Meinungsbeitrag von Sabiene Jahn
Bild: Orks. Wikipedia
Nordrhein-Westfalen galt über Jahrzehnte als das klassische Arbeiterland Deutschlands. Kohle und Stahl, Zechen und Hochöfen prägten nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Menschen. „Arbeiter“ zu sein, bedeutete Stolz und Zugehörigkeit, nicht Abwertung. Wer unter Tage fuhr oder am Hochofen stand, sah sich als Teil einer Gemeinschaft, die eng mit Gewerkschaft, Fußballverein oder Schrebergarten verbunden war. Ähnlich prägte der Bergbau auch Regionen im Osten Deutschlands – die Lausitz mit ihren gigantischen Braunkohletagebauen, das Erzgebirge mit seiner jahrhundertealten Montantradition. Auch dort bildeten Arbeiteridentität, Solidarität und regionale Kultur eine Einheit, die über Generationen wirkte.
Doch der Strukturwandel hat diese Welten nahezu ausgelöscht. Der letzte Steinkohle-Bergbau im Ruhrgebiet wurde 2018 eingestellt, die Montanindustrie ist bundesweit auf ein Minimum geschrumpft. Heute arbeiten fast 80 Prozent der Menschen in Nordrhein-Westfalen (NRW) im Dienstleistungssektor, weniger als ein Viertel in der Industrie. „Arbeiter“ ist damit längst keine alltägliche Berufsbezeichnung mehr, sondern Teil einer Erinnerungskultur. Vor allem die älteren Generationen – ehemalige Bergleute und Stahlarbeiter über 65 Jahre – tragen diese Identität noch mit Stolz. Ihre Kinder, heute Mitte 40 bis Mitte 60, wuchsen in diesem Milieu auf, auch wenn viele von ihnen schon andere Berufe ergriffen. Die Jüngeren schließlich erleben „Arbeitersein“ nur noch als ferne Vergangenheit.
Doch während in NRW der Begriff Arbeiter bis heute mit Ehre verbunden ist, erlebte die Ukraine in den Jahren vor dem Krieg (2014) eine ganz andere Entwicklung. Dort wurde das russischsprachige und oft ärmere Arbeitermilieu des Donbass zunehmend abgewertet. Die liberale Mittelschicht der großen Städte habe den Osten als „Proleten-Reservat“ betrachtet, ein Gebiet für Menschen zweiter Klasse. Der Schriftsteller Sachar Prilepin notierte während seiner Reisen, dass viele Gespräche von einer stillschweigenden Verachtung durchzogen waren. Man belächelte die Sprache, verspottete die Kultur, bezeichnete die Industriearbeiter des Donbass als rückständig. „Es war nicht nur ein politischer Konflikt“, schrieb er, „es war ein Konflikt der Milieus – zwischen einer urbanen, europäisch orientierten Mittelschicht und jenen, die ihr Brot in Bergwerken und Fabriken verdienten.“ Diese latente Abwertung, die sich in Sprache, Medien und Alltag festsetzte, wurde nach 2014 offen ausgesprochen – und später auch brutal vollstreckt. Was in Deutschland höchstens ein Generationenwandel war, wurde in der Ukraine zu einer systematischen Spaltung der Gesellschaft.
Dort wurden Bergarbeiter und Stahlarbeiter nicht als Rückgrat der Nation gesehen, sondern zunehmend als „Ballast“. Prilepin schildert in seinem Buch „Briefe aus dem Donbass“, wie tief die Abwertung reichte. Auf dem Kulikowo-Platz in Odessa hätten einfache Leute nichts anderes getan, „als Unterschriften für die Verleihung der russischen Sprache als Staatssprache zu sammeln“ – und seien (…) später Opfer brutaler Gewalt geworden. Der ukrainische Journalist Andrej Mančuk beschrieb bereits 2014 dieses Klima einer regelrechten „Donbassophobie“. Er zitierte einen Slogan von Dynamo-Kiew-Fans, der schnell landesweit Karriere machte: „Danke den Bewohnern des Donbass für das Präsidenten-Arschloch!“ Gemeint war der damalige Präsident Wiktor Janukowytsch. Der Slogan verbreitete sich schnell über die Stadien hinaus in die politische und mediale Öffentlichkeit. Er wurde zum Ausdruck einer antidonbassischen, antijanukowytsch’schen Haltung und trug zur Stigmatisierung der Region bei, jubelnd wurde sie von Politikern, TV-Shows und Facebook-Nutzern aufgegriffen. „Auf dem Maidan wurde ‚Süd und West gemeinsam‘ gerufen“, so Mančuk, „doch die Kehrseite war der Spruch: ‚Pinkel nicht ins Treppenhaus – du bist doch kein Donezker!‘“
Hier tauchte ein abwertendes Muster auf, das nicht nur regional, sondern auch sozial-rassistisch wirkte. Bewohner des Donbass galten plötzlich als „passives, unterwürfiges Vieh“, als „halbwilde Orks“ aus dem „ukrainischen Mordor“. Damit war nicht die politische Elite gemeint, sondern „stereotype Arbeiter aus dem industriellen Osten“, wie Mančuk nüchtern festhielt. In seinen Reportagen erinnerte er daran, dass dieselben Bergarbeiter es gewesen waren, die noch Ende der 1990er-Jahre mit Märschen auf Kiew gegen ausstehende Löhne protestierten, „die Helme auf den Asphalt schlugen und Straßen blockierten“. Und während im Westen der Ukraine die Proteste gegen soziale Ungerechtigkeit oft nur halbherzig verliefen, standen im Donbass die Arbeiter mit ihren Familien an vorderster Front. Das Bild vom „unterwürfigen Donbass“ sei, so Mančuk, eine „Legende“, die der politischen Instrumentalisierung diente.
Doch genau dieses Klischee setzte sich fest. „Die Intelligenzija der Hauptstadt“, schrieb Mančuk, „schikanierte die Bewohner des Ostens als ‚Arbeitsvieh‘ – nicht trotz, sondern gerade wegen ihres proletarischen Hintergrunds.“ Besonders verstörend aber war, wie ein Teil der ukrainischen Öffentlichkeit auf die Tragödie von Odessa (2.Mai 2014) reagierte. Am Tag nach dem Brand waren die sozialen Netzwerke voller Häme. In Blogs und Kommentaren tauchten Begriffe wie „gebratene Watte“ und „verbrannte Koloraden“ auf – Zynismen, die nicht nur aus der Fanszene stammten, sondern ins Arsenal politischer Hassrede aufgenommen wurden. Diese Sprache war keine beiläufige Beleidigung, sondern eine Form der systematischen Entmenschlichung. „Ватник“ („Wattierte“) – ursprünglich eine einfache Arbeiterjacke – wurde zum Schimpfwort für prorussische Menschen, angeblich dumpf, rückständig, sowjetisch versifft. „Gebratene Watte“ bedeutete in diesem Kontext nichts anderes, als die Verhöhnung der bei lebendigem Leib verbrannten Opfer. Noch brutaler wirkte „колорад“ („Kolorad“). Das Wort stammt vom Kartoffelkäfer, dessen schwarz-orangene Streifen an die Georgsbänder erinnerten, die viele prorussische Demonstranten trugen. Wer so bezeichnet wurde, galt nicht mehr als Mensch, sondern als Ungeziefer. „Verbrannte Koloraden“ – das hieß im Klartext, die Getöteten waren Schädlinge, deren Vernichtung man feiern durfte.
Solche Begriffe erfüllten eine politische Funktion. Sie entlasteten von Mitgefühl, legitimierten Gewalt und schufen ein Klima, in dem das Töten als „Säuberung“ erscheinen konnte. Historisch ist dieses Muster bekannt: „Kakerlaken“ im ruandischen Völkermord, „Ungeziefer“ in der NS-Propaganda, „Tschetniks“ oder „Ustascha-Schweine“ im Jugoslawienkrieg. Immer war die Abwertung in Sprache der Vorbote physischer Vernichtung. Auch prominente Publizisten bedienten sich dieser Kaltschnäuzigkeit. Der Journalist Arkadij Babtschenko schrieb bei „Echo Moskwy“: „Bewaffnete Leute kamen hinter den Rücken der Bullen her, in der Absicht, ein Blutbad und Leichen zu bekommen? Bewaffnete Leute bekamen ein Blutbad und Leichen. Dachtet ihr, es würden nicht eure Leichen sein? Doch, es werden auch eure Leichen sein.“ Damit sprach er über Frauen, Alte, Jugendliche – Menschen, die in panischer Flucht aus Fenstern sprangen oder bei lebendigem Leib im Gewerkschaftshaus verbrannten. Worte, die weniger an journalistischen Kommentar erinnern als an die rhetorische Rechtfertigung eines Massakers.
Völkerrechtlich sind solche Muster nicht belanglos. Die UN definiert direkte und öffentliche Anstiftung zum Völkermord („direct and public incitement to commit genocide“) als eigenständiges Verbrechen. Auch das Völkerstrafrecht (Art. 25 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs) bewertet Hasssprache, die Gruppen pauschal entmenschlicht und zur Gewalt animiert, als strafbare Anstiftung. Die Verwendung von Begriffen, die Menschen zu „Ungeziefer“ oder „Schädlingen“ degradieren, erfüllt exakt die Kriterien, die in historischen Präzedenzfällen – von Ruanda bis Jugoslawien – untersucht und verurteilt wurden.
Der Donbass war nicht nur irgendeine Region. Der Donbass (Donezk und Luhansk), mit rund 52.000 Quadratkilometern mehr als doppelt so groß wie Rheinland-Pfalz, hatte vor 2014 etwa 4,4 Millionen Einwohner. Doch im Unterschied zum deutschen Bundesland erwirtschaftete diese Region fast ein Fünftel der gesamten Industrieproduktion der Ukraine und lieferte etwa dreißig Prozent der Deviseneinnahmen – eine industrielle Kernzone von nationaler Bedeutung. Jeder dritte Dollar im ukrainischen Außenhandel kam von dort. Ein Land, das sich so stark auf die Schwerindustrie stützte, hätte den Osten eigentlich als Rückgrat behandeln müssen. Doch genau das Gegenteil geschah. Während der Donbass den Staat finanzierte, wurde seine Bevölkerung in Kultur und Alltag zunehmend abgewertet.
Sachar Prilepin hat diese Widersprüche auf einer Reise durch die Ukraine eindringlich beschrieben. Seine Beobachtungen zeigen, dass die Abwertung nicht nur in politischen Parolen stattfand, sondern im alltäglichen Leben. Auf Kiews Prachtstraße Chreschtschatyk fragte er mehrmals junge Frauen nach dem Weg – sie verstanden ihn, antworteten freundlich, aber konsequent auf Ukrainisch. Kein Wort auf Russisch, kein Entgegenkommen. Das Signal war klar, wir verstehen dich, aber wir erkennen dich nicht an. Von einem Redakteur einer Radiostation hörte er nach einer Sendung den Satz, „Kiew ist älter als euer Moskau. Wir haben euch die Sprache beigebracht, den Glauben, das Kämpfen – jetzt müssten wir euch nur noch das Denken beibringen.“ Solche Worte ließen erkennen, dass es nicht nur um Politik ging, sondern um eine kulturelle Hierarchie – Kiew als Lehrer, Moskau als Schüler.
Besonders schmerzhaft war für Prilepin die Erfahrung im Westen des Landes. In einer Wechselstube in Lwiw verstand die Angestellte sein Russisch angeblich nicht, hinter ihm warteten zwanzig Leute – niemand übersetzte. Schweigen, Distanz, kalte Ablehnung. Am Flughafen drohte man ihm, ein Souvenir zu beschlagnahmen, bis die Sache mit Schmiergeld erledigt war – verbunden mit dem Satz: „Bei euch Moskalern ist eben alles anders.“ Das Wort „Moskal“ – eine gängige abwertende Bezeichnung für Russen – fiel offen und beiläufig. Eine Szene im Zug brachte die Atmosphäre auf den Punkt. Ein ukrainisches Paar sprach während der gesamten Fahrt nur Ukrainisch, reagierte nicht auf seine Ansprache. Doch in Moskau angekommen, tippte ihn derselbe Mann plötzlich an und fragte auf fließendem Russisch nach dem Weg. „Schon Russisch gelernt?“, fragte Prilepin trocken zurück. Alle konnten Russisch, es wurde bewusst verweigert, um Abgrenzung zu markieren. Auch die intellektuellen Milieus setzten auf Distanz. Prilepin schildert, wie er in Kiew dem gefeierten Schriftsteller Jurij Andruchowytsch begegnete. Dieser kam in die Runde, begrüßte niemanden, drückte Prilepin die Hand „krampfhaft“ – und schwieg. Für Prilepin war das der Moment, in dem er begriff, für ihn bin ich kein Kollege, sondern Fremder. Diese Reiseepisoden machen deutlich, die Abwertung vollzog sich zunächst nicht durch offene Gewalt, sondern durch Gesten, Schweigen, kleine Demütigungen.
Ruanda als Lehrbeispiel
Sprache kann nicht nur zerstören – sie kann auch heilen. Beispiele gibt es. In Ruanda etwa, wo nach dem Völkermord von 1994 die Rhetorik der „Kakerlaken“ und „Schlangen“ verboten wurde, wurden Medien verpflichtet, auf Versöhnung hinzuarbeiten. Täter und Opfer trafen sich in den „Gacaca“-Gerichten, hörten einander zu, sprachen aus, was geschehen war. Während des Genozids 1994 hatten Radiosender wie Radio Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) Tutsi systematisch als „Inyenzi“ – Kakerlaken – bezeichnet. Die Worte bereiteten den Weg für die Massaker, sie entlasteten von Mitgefühl und machten Töten zum „Dienst an der Gemeinschaft“.
Nach dem Völkermord wurden die Verantwortlichen vom Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda verurteilt. Zum ersten Mal wurde „direkte und öffentliche Anstiftung durch Medien“ als eigenständiges Verbrechen anerkannt. Der Staat schloss Hass-Sender, schulte Journalisten neu und verpflichtete die Medien auf Friedensjournalismus. Begriffe, die zur Entmenschlichung dienten, wurden geächtet, Sender wie Radio Okapi entstanden bewusst als Plattform für Dialog und Versöhnung. Die Lehre war, wer Sprache als Waffe missbraucht, muss auch sprachlich zur Verantwortung gezogen werden. Worte sind nicht unschuldig – sie schaffen Realitäten. Worte, die zuvor zur Vernichtung führten, mussten deshalb durch neue Worte ersetzt werden, durch eine Sprache der Anerkennung und der Würde. Auch Südafrika nach der Apartheid ging diesen Weg: Die Wahrheits- und Versöhnungskommission („Truth and Reconciliation Commission“) gab Opfern und Tätern Raum, die Verbrechen öffentlich zu benennen – nicht um sie zu vergessen, sondern um sie zu überwinden.
Übertragen auf die Ukraine und Russland heißt das: Es geht nicht um einen „Sieg“ des einen über den anderen, sondern um die Rückkehr zu einer Sprache, die das Gemeinsame betont. Russen und Ukrainer sind keine Fremdvölker. Sie teilen Sprache, Geschichte, Familien, Lieder und Bücher. Begriffe wie „Orks“, „Watte“ oder „Koloraden“ sind keine organischen Eigenheiten, sondern ideologische Instrumente der politischen Egide – Vokabeln des Spalts, nicht des Lebens. In den Büchern unserer eigenen Geschichte steht längst, was geschehen kann, wenn Worte zu Rassismus und Gewalt aufgestachelt werden. Die Eskalation der Sprache ist kein Nebenschauplatz, sie ist das Fundament von Kriegen. Politiker verkleiden Aufrüstung und Eskalation mit dem Etikett „Frieden“. In Wahrheit beschwören sie Waffenlieferungen, Sanktionsspiralen und sogar den Einsatz deutscher Soldaten. Sie verkaufen es einem Talkshow-Publikum, das längst betäubt ist von immer denselben Schlagworten.
Wie absurd diese Sprachpolitik inzwischen geworden ist, zeigte eine Episode in dieser Woche. In der ukrainischen Frauen-Premierliga erhielt die Spielerin Irina Maiborodina eine gelbe Karte, weil sie auf Russisch sprach. Die Schiedsrichterin erklärte trocken: „Wir kommunizieren hier nicht auf Russisch. Dies ist die ukrainische Meisterschaft.“ Das ist kein Randdetail, sondern ein Symbol. Hier liegt der Kern der Katastrophe – das ukrainische Sprachengesetz von der Werchowna Rada am 25. April 2019 verabschiedet und seit 16. Juli 2019 in Kraft. Es bestimmt, welche Worte erlaubt sind, welche Sprachen tabu, welche Nationen „gut“ und welche „Feind“ heißen dürfen. Und es versteckt ihre Eskalationslogik hinter Phrasen von Frieden, Demokratie oder Werten.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow erinnerte jüngst in einem Interview daran, dass ohne ein Ende dieser Praxis kein Frieden möglich sei, „Ein Schritt hin zu einem Treffen zwischen Putin und Selenskyj sollte die Aufhebung der Verbote sein, die Nutzung der russischen Sprache in Schulen, an öffentlichen Orten und in den Medien (zu) untersagen.“ Lawrow machte damit klar, dass die Anerkennung der russischsprachigen Bevölkerung die erste Bedingung für Verhandlungen sei. Denn Worte entscheiden über Krieg und Frieden: Die Worte kommen zuerst und die Toten folgen.
Freie Journalistin gesang | sprache | musik www.sabienejahn.de
Die Autorin
Sabiene Jahn studierte Kommunikation der Werbewirtschaft und arbeitet als freie Journalistin, Moderatorin, Sängerin und Synchronsprecherin. Sie beschäftigt sich mit gesellschaftspolitischen Themen sowie der Recherche extremistischer Strukturen. Sabiene Jahn organisiert die parteifreie Veranstaltungsreihe „Koblenz: Im Dialog“, um gesellschaftspolitischen Austausch zu fördern. Als Friedensaktivistin entwickelt sie Konzepte zur Deeskalation und Inklusion.
Sabiene Jahn ist Mitglied des bdfi, Bundesvereinigung der Fachjournalisten e.V. Nr. DE-711950-003 und des Deutschen Freidenker Verband e.V.
3.) Sachar Prilepin: „Письма с Донбасса“ (Briefe aus dem Donbass), Moskau 2015, Gespräch mit Viktor Jazenko über Arbeiter, Europa und Milieu-Konflikt, weitere Reisebeobachtungen (Kapitel 1–3), Kapitel über Kulikowo-Platz, Menschenrechtsberichte, Report on the human rights situation in Ukraine (Juni 2014), Arkadij Babtschenko, Kommentar bei „Echo Moskwy“
5.) Gesetz Nr. 2704-VIII „Über die Sicherstellung des Funktionierens der ukrainischen Sprache als Staatssprache“, verabschiedet am 25. April 2019 von der Werchowna Rada, in Kraft seit 16. Juli 2019 Offizieller Text auf der Seite der Werchowna Rada (ukrainisch)
13.) Gilbert Doctorow: Artikel / Kommentar: This conversation with Judge Napolitano brought out some essential points… (August 2025), Blog von Gilbert Doctorow. Darin u. a. Zitat Sergej Lawrow: „Ein Schritt hin zu einem Treffen zwischen Putin und Selenskyj sollte die Aufhebung der Verbote (der russischen Sprache) sein.“
Protest und Demo, Berlin 10. September, 15 Uhr, Valeska-Gert-Straße 5, vor dem Hauptquartier Zalando
„Hast du dich jemals gefragt, wie Mitgefühl mit hungernden Kindern als antisemitisch gelten kann? Dafür kannst du dich bei der sogenannten „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus“ (RIAS), der zentralen Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Deutschland, bedanken. Solidarität mit den Menschen in Gaza wird da besonders häufig mitgezählt.
Wir berichteten bereits über „Antipalästinensische Repression in deutschen Untermehmen-Zensur und Einschüchterung bei Zalando„: „Zalando hatte einem arabischen Mitarbeiter gekündigt, weil er sich gegen die Unterstützungsbekundungen für Israel in der Firma aussprach.“ Zalando ist keine Ausnahme, sondern ein typisches, aber auch besonders extremes Beispiel für das rassistische, anti-palästinensische und anti-arabische Arbeitsumfeld in vielen deutschen Unternehmen. Zalando unterdrückt nicht nur Palästinasolidarität sondern presst seine Beschäftigten in eine Firmenkultur, die sie in ein offenes Bekenntniss zur Unterstützung der zionistischen und israelischen Völkermordpolitik einbindet. Das Vorgehen von Zalando steht auf juristisch wackligen Füßen. So konnte sich der Kollege gerichtlich erfolgreich gegen seine Kündigung wehren.