“Man konnte noch weiterleben”

Der Faschismus bildet sich stets nur allmählich heran. Und dann ist er “plötzlich” da.

Von Moshe Zuckermann

Will man eine Chance haben einen drohenden Faschismus zu bekämpfen, muss man eine zutreffende Vorstellung davon haben, auf welchem Wege er ein Machtfaktor wird. Moshe Zuckermann thematisiert hier vor allem die Genesis des historischen deutschen Faschismus und seine Folgen für die jüdische Community. Er zieht daraus jedoch allgemeinere Schlussfolgerungen, die für uns auch heute von Bedeutung sind. Viel zu sehr verbindet sich die historische Erinnerung an die Nazi-Zeit mit der feierlichen Machtübertragung der Weimarer Eliten an Adolf Hitler in der Potsdamer Garnisonskirche. Die Intronisierung einer Führerdiktatur erscheint als einmaliger Akt – wie ein Paukenschlag. In Wirklichkeit hatten die Faschisten bereits vorher wichtige Felder ihrer Machtquellen bestellen können. Man denke nur an ihre paramilitärischen Kampfverbände SA und SS. 1933 bekamen diese „Annexionen“ auch ihre juristische Absicherung. Die wirkliche Gleichschaltung erfolgte dann mit dem sog. Ermächtigungsgesetz, dem das gesamte bürgerliche Weimar die Zustimmung gab. Nicht zugestimmt hatten die Parteien der damaligen Linken, die Parteien der Arbeiterklassse waren. Die SPD stimmte dagegen. Die Kommunisten konnten im Reichstag kein Votum mehr abgeben. Denn sie waren bereits illegalisiert. Dieser Prozesss ist heute noch bedeutsamer, weil die Faschist:innen unter Führung der Neuen Rechten sich demokratisch maskieren. Sie sind auf einem „Marsch durch die Institutionen“, die sie Stück für Stück in ihrem Sinne kontaminieren. Sie sind darin sehr erfolgreich, auch weil sich die bürgerliche Mitte wie auch in Weimar ihnen öffnet und ihnen den Zugang zu zentralen Bereichen der Gesellschaft verschafft. Natürlich beginnend mit den Organisationen der bewaffneten Staaatsmacht, in denen am ehesten Ordnungsvorstellungen Verbreitung finden, die auch Faschist:innen teilen. Doch dabei stehen bleibt es nicht. Gibt es erst ein gewonnenes Hinterland in der Bürgergesellschaft dann kippt auch die Justiz – eine Entwicklung, die man schon gut im Osten der Republik beobachten kann. Ein Übriges besorgt die überwachungs- und repressionssfreudige Gesetzgebung, die ein Staat benötigt, um die zu erwartenden Widerstände gegen die ersehnte Kriegstüchtigkeit und den sich abzeichnenden Absturz der sozialen Sicherheit abzuwehren. In gewisser Weise können Höcke und „Genoss:innen“ warten, bis ihnen der reife Apfel in den Schoß fällt. (Jochen Gester)

Bei Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 lebten in Deutschland etwa 522.000 Juden. Wie konnte es passieren, dass rund 160.000 von ihnen bis 1945 von den Nazis ermordet wurden. Zwar emigrierten zwischen 1933-1941 mehr als die Hälfte der Juden aus Deutschland, warum aber emigrierten nicht alle rechtzeitig?

Im Gegensatz zu den in Osteuropa lebenden Juden, konnte doch den deutschen Juden nicht entgehen, was die Nazis mit ihnen vorhatten. Gewiss, niemand hat im Jahr 1933 wissen können, dass es auf Auschwitz zugeht (auch die Nazis selbst nicht), aber von der Machtübernahme 1933 bis zum “Reichskristallnacht”-Pogrom im November 1938 verschlimmerte sich die Lage der Juden im Nazideutschland in eklatanter Weise. Schon die Nürnberger Gesetze von 1935, die die rassenideologische Legitimationsgrundlage für die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Nazismus bildeten und sich auch bald genug lebensweltlich auswirken sollten, hätten klarmachen können, dass es höchste Zeit wird, Deutschland zu verlassen. Viele verstanden das auch, wie gesagt, aber allzu viele eben auch nicht. Wie konnte das sein?

Eine in Israel lebende, in Berlin geborene ältere Dame, deren Familie erst 1939 ausgewandert war, fragte ich einmal nach dem Grund für die so späte Entscheidung ihrer Eltern. Sie antwortete mir mit entwaffnender Schlichtheit: “Mit Hitlers Machtergreifung war meine Kindheit beendet, und eine graue Wolke hing über meine gesamte Jugendzeit. Aber man konnte noch weiterleben.” Bekannt sind die historischen Erklärungen, die die Schwierigkeit deutscher Juden, sich von der geliebten Heimat (mithin von der deutschen Kultur) zu lösen, zum Inhalt haben. Auch die Weigerung zu glauben, dass es wirklich zum Schlimmsten kommen könnte, spielte bei vielen eine gewichtige Rolle. Das Entwaffnende an der Antwort der alten Berlinerin lag in der sachlich-lakonischen Feststellung, dass es zwar nicht mehr angenehm war, als Jude in Nazideutschland zu leben, aber ein Weiterleben (bis zum Ausbruch des Kriegs) doch noch möglich war. Und das sei zunächst (über alle romantisch-kulturellen Begründungen hinaus) der Grund für das Bleiben gewesen.

Man neigt dazu, historische Momente der Gefahr und Bedrohung finalistisch wahrzunehmen, d.h., ex post facto zu beurteilen. Das ist insofern verständlich, als man den Ausgang dessen, was die Bedrohung zeitigte, zu kennen vermeint; man ist gleichsam im Besitz des empirischen Kriteriums für die “volle” Einordnung des historisch Gewesenen. Was dabei jedoch übersehen wird, ist die Wahrnehmung der Realität durch die Menschen in der historischen Jetztzeit – sie können schlechterdings keine Gewissheit über den Ausgang der Dinge haben, aber sie sind es, die die die historische Zeit durchlebt haben, also die eigentlichen Protagonisten der Geschichte ausmachen, mithin als solche verstanden werden müssen. Es liegt im Wesen historischer Kontingenz, dass man sowohl pessimistische als auch optimistische Konsequenzen aus dem noch Unbestimmten, in der Zukunft Liegenden, ziehen kann; “Hellsichtigkeit” ist dabei eine Frage der Einstellung, zuweilen freilich auch der Verblendung. Das berühmte Zeichen an der Wand ist ein solches erst im Nachhinein. Es ist nie ganz evident, wann der richtige Zeitpunkt ist, die praktische Schlussfolgerung aus dem Moment drohender Gefahr zu ziehen.

Das liegt zum einen daran, dass der Vollzug besagter Schlussfolgerung für gewöhnlich mit Beschwernissen und gewichtigen Umstellungen einhergeht, was sich auch in der Aussage der alten Berlinerin kodiert findet: Man zögerte, sich den Problemen der Auswanderung auszusetzen, solange es sich in den alten Verhältnissen (die freilich keine mehr waren) noch “weiterleben” ließ. Es ist nie leicht zu emigrieren (wenn man dazu nicht ideologisch vorgeprägt ist), und zwar weder psychisch noch materiell. Zum anderen ist aber auch die Verzögerung der sich (in der nachmaligen Perspektive) notwendig aufdrängenden Tathandlung darin begründet, dass die Notwendigkeit auch dann nicht evident ist, wenn die Not sich nach und nach institutionalisiert hat; die alte Berlinerin wusste ja bereits in den 1930er Jahren um die “graue Wolke”, die über ihre Jugendzeit hing.

Der Faschismus schleicht sich allmählich in die bestehende sozial-politische Ordnung ein

Das trifft auch auf den Faschismus zu, vor dem es damals zu flüchten galt. Denn der Faschismus erscheint nie auf einen Schlag, von einem Tag auf den anderen, sondern schleicht sich allmählich in die bestehende sozial-politische Ordnung ein. Man merkt zunächst gar nicht, dass er seine Fänge ausstreckt; denn seine Parolen liegen noch nicht im Konsens, werden mithin abgewunken bzw. “nachsichtig” belächelt. Seine Wortführer müssen sich erst profiliert haben, bevor sie in die Ideologie des national Zulässigen Eingang finden. Rassistische Reden und populistische Slogans werden vorerst mit Abscheu registriert, bis man “plötzlich” merkt, dass sie viele, bislang noch nicht wahrgenommene Anhänger in der Bevölkerung haben, die sich nach und nach zur Masse bilden. Es stellt sich dann heraus, dass die in den Anfangsphasen außerparlamentarisch agierende Bewegung sich nicht nur einen merklichen Halt in der Bevölkerung etabliert hat, sondern dass diese Tatsache auch im Parlament registriert wird, was sich für gewisse Herrschaftsparteien durch Koalitionsabkommen und anderen Verbandelungen als willkommener Machzuwachs darstellt.

Es ist die herrschende politische Klasse, die dann dem Faschismus den offiziellen Eingang ins Parlament verschafft. Man hütet sich davor, das, womit man sich verbrüdert hat, Faschismus zu nennen, übernimmt aber realpolitisch die Ideologeme des Faschismus, ein Umstand, der sich erst allmählich herausstellt und vor allem mit faschistischen Prädispositionen der Regierenden korrespondiert, die ihrerseits bei ihrem Wahlvolk (der base) chauvinistisch genährte faschistische Neigungen längst schon ausgemacht haben.

Sobald sich der Faschismus im Parlament etabliert hat, setzt er alles daran, sein neues “Zuhause” zu faschisieren, was sich vor allem in der Institutionalisierung der gesetzmäßigen Zerstörung der formalen Demokratie manifestiert, allem voran in der Auflösung der Gewaltenteilung. Der erste dominante Angriff gilt dabei der Judikative und jenen Justizinstanzen des Staates, die dem Ansinnen der Faschisten, jegliche Form der Kritik an der Herrschaft und ihren Führern “legalen” Einhalt gebieten sollen.

Die machtgefräßige Kolonisierung der parlamentarischen Sphäre bedarf selbstverständlich einer markanten Führungsgestalt, die sich bei der faschistischen Expansion von Anbeginn durch eine diktatorisch-charismatische, ein Machtmonopol beanspruchende Grundeinstellung kennzeichnet. Die Anhängerschaft des Führers erweist ihm eine sich zum autoritären Personenkult steigernde Loyalität, die keine Grenzen kennt und entsprechend jeden Abtrünnigen rabiat niedermacht. So entstehen pauschal konturierte Feindbilder und zugleich eine propagandistische Giftmaschine, die sich in der rabiaten Verfolgung, perfiden Beschmutzung und Neutralisierung bzw. Ausschaltung der Feinde spezialisiert. Feinde sind dabei sowohl ausländische Mächte, die sich dem Faschismus gesinnungsmäßig widersetzen; Feinde sind zudem Gruppen und Kollektive, mit denen man sich offiziell im (kriegerischen) Konflikt befindet; Feinde können aber auch sämtliche oppositionellen Kräfte und Personen in der inneren Gesellschaft und Politik sein. Alles, was die Raison d’être des Faschismus zu unterwandern scheint, an der Autorität des Führers und seinem Machtanspruch rüttelt, die antidemokratischen Ideologeme des Faschismus demokratisch zu delegitimieren trachtet, wird zum Feind erklärt und durch Schikane, Diskriminierung und ständiger Verleumdung bekämpft.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt, an dem sich der Faschismus seiner Macht und Herrschaft gewiss genug ist, setzt auch der Terror ein, mithin die illegale Ausübung der Gewalt durch die “legalen” Apparate, die sich der Faschismus errichtet hat. Begleitet wird dies von einer systematischen Entmachtung der feindlichen Medien, die entweder direkt angegangen oder durch Usurpation auf Linie gebracht werden – Selbstzensur ist an der Tagesordnung, die unübersehbare Vernashornung kritischer Protagonisten verbreitet sich, und zwar in der gesamten Medien- und Kultursphäre.

Der antifaschistische Bürger stellt mit Bestürzung fest, dass das Unglaubliche passiert ist. Seine Gesinnung hat ihn stets wachsam gehalten, er hat die Entwicklungen verfolgt, sah die Zeichen an der Wand, hat protestiert, demonstriert, weigerte sich aber dennoch, daran zu glauben, dass es zum Schlimmsten kommen könnte, dass der Faschismus sich etablieren, zur normierten Realität seines Daseins gerinnen würde. Das Unfassbare hat sich nun verwirklicht – er lebt schon längst im Faschismus; das kollektive Umfeld ist nunmehr faschistisch durchseucht. Er kann nichts mehr an der ihn einfassenden Realität bewirken, schon gar nicht, sie wesentlich verändern. Emigration stand trotz aller Anzeichen einer herannahenden Finsternis nicht wirklich zur Debatte. Er kann im unfassbar Bestehenden nur “weiterleben”. Die alte Berlinerin ist schon vor vielen Jahren in Israel gestorben. Was würde sie heuten über das Land sagen, in das ihre Familie 1939 emigrierte, um dem nazistischen Deutschland zu entkommen?

Moshe Zuckermann

Moshe Zuckermann wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete. 2018 wurde er emeritiert.
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Erstveröffentlicht im Overton Magazin v. 29.11. 2025
https://overton-magazin.de/top-story/man-konnte-noch-weiterleben/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Solidarität mit Ver.di Vertrauensmann – Solidarität mit Palästina ist kein Verbrechen

Solidarität mit ver.di Vertrauensmann Christopher gegen seine Kündigung durch DHL

Kundgebung & solidarischer Besuch des Gerichttermins

Dienstag, 9. Dezember 13:30 Uhr Kundgebung, anschlieẞend gemeinsamer Besuch der Verhandlung, Arbeitsgericht Leipzig Wilhelm-Liebknecht-Platz (StraBa 9,10, 11, 16)

,,Kein Transport für Völkermord!“ – diese klare, mutige Forderung des ver.di Vertrauensmanns Christopher beantwortete DHL mit seiner fristlosen Kündigung.

Christopher (wir berichteten) hatte auf unserem Marsch zum Flughafen Leipzig/Halle im August gegen die Lieferung von Militärgütern über den Flughafen gesprochen. Er verwies auf Beispiele aus Griechenland und Italien, wo Hafenarbeiter durch Streiks und Blockaden Waffenlieferungen an den Staat Israel gestoppt hatten.

Wir lassen nicht zu, dass er dafür bestraft wird, dass er sich gegen Waffen- und Kriegstransporte ausspricht.
Wir lassen nicht zu, dass DHLmit der Kündigung Christophers die Diskussion über Rüstungstransporte am Flughafen zu unterdrücken versucht.
Diese Kündigung richtet sich nicht nur gegen Christopher – sie richtet sich gegen:

  • gewerkschaftliche Organisierung bei DHL,
  • politische Meinungsfreiheit,
  • und den Widerstand gegen Rüstungsexporte & Genozid.

Wir kämpfen deshalb für die Rücknahme der Kündigung und für Arbeiteraktionen gegen Waffenlieferungen!

Kommt zur Kundgebung am ersten Gerichtstermin vor dem Arbeitsgericht Leibzig.

Wir werden berichten, wie sich die deutsche Justiz an internationales Recht hält. DHL deckt mit seiner Kündigung letztlich den Völkermord in Gaza.

@palaestinaaktionsbuendnisle

Titelbild: Collage Peter Vlatten

Antifaschistischer Protest in Giessen: Alle zusammen gegen den Faschismus! Aber wie?

„Wenn man in einen falschen Zug einsteigt, nützt es nichts, wenn man im Gang gegen die Fahrtrichtung läuft.“ (Dietrich Bonhoeffer, Gedanken zum antifaschistischen Protest in Giessen, 29.11.2025 [1])

Von Hans Christoph Stoodt

Um die Frage, wie der drohende Faschismus mit Aussicht auf Erfolg bekämpft werden kann, gibt es in der antifaschistischen Bewegung verschiedene Vorsstellungen. Die beiden entgegengesetzten sind: Die erste sagt: Man muss Druck auf die bürgerliche Mitte ausüben, damit sie die Brandmauer nach rechts aufrechterhält. Die zweite hält dagegen: Man muss sich auf ein antikapitalistisches Projekt schützen, das eine wirkliche Alternative formuliert, die andere Antworten gibt als die Rechten. Der Autor formuliert Argumente für die zweite Strategie. (Jochern Gester)

Demo gegen die AfD in Giessen am 29. November 2025. Foto: ‪Black Mosquito

Die Aktionen gegen die Gründung des AfD-Jugendverbands „Generation Deutschland“ sind zuende. Sie waren von einer beispiellos breiten und vielfältigen Mobilisierung und Bandbreite der Aktionsformen gekennzeichnet: von der Protestkundgebung der staatstragenden, bürgerlich-demokratischen Parteien (mit selbst so entschiedener Ausnahme der CDU) auf dem Berliner Platz, kilometerweit vom Ort des Geschehens entfernt, bis hin zu der in dieser Form neuen Kooperation des Aktionsbündnis „widersetzen!“ mit dem DGB, die bis zur absoluten Erschöpfung alles dafür gaben, den Gründungskongress der Jungnazis erfolgreich zu verhindern.

Schon im Vorfeld hatten Staat und Kommune das ihre getan, um sich von jedem effektiven Protest, jeder noch so friedlichen Sitzblockade, jeder Form von effektivem Protest gegen die Gründung der AfD-Jugend zu distanzieren. Der Oberbürgermeister Giessens beteuert mehrmals, leider, leider könne er gegen die Vermietung der „Hessenhallen“ auf dem Giessener Messegelände nichts tun. Der hessische Innenminister versicherte, die Polizei sei im Konflikt mit dem Faschismus „neutral“ (was in sich bereits eine pro-faschistische Äusserung darstellt), während er gleichzeitig eine Armada von hochgerüsteten riot-cops, Drohnen, Hubschraubern, Reiter- und Hundestaffeln, Wasserwerfern und Räumpanzern gegen die bedrohlichen Antifaschist:innen von der Kette liess.

Gegen die angelaufene bundesweite Mobilisierung wurden grossräumige Demonstrationsverbote verhängt und juristisch gegen alle Einsprüche bis zur letzten Instanz der bürgerlichen Justiz durchgesetzt, damit niemand auf den Gedanken kommen sollte, daran zu zweifeln, wo Kommune Giessen, Land Hessen und die Polizei stehen: auf der Seite der Jugendorganisation, deren designierter Vorsitzender Hohm wenige Tage zuvor in social media – Kanälen damit aufgefallen war, die ersten Worte des „SS-Treuelieds“ zu posten – man tut ihm also nicht Unrecht, sondern dürfte, falls er nicht bewusstseinsgespalten ist, auf seine zumindest innere Zustimmung treffen, wenn man ihn als Nazi einstuft.

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„Breite Bündnisse gegen den Rechtsruck“

Was tun gegen den Rechtsruck! Aber wie?

Die aus fünfzehn Bundesländern zusammengezogene Polizei belohnte diese „Ehre und Treue“ der AfD-Jungnazis, indem sie zunächst die auf den Strassen rund um Giessen blockierenden Antifaschist:innen beiseite boxte, trat, schlug und 26 von ihnen verletzte, die aus der Innenstadt die Lahn zu überschreiten dohenden Antifas auf den Brücken blockierte, mit Wasserwerfern bedrohte.

Hierbei forderten die Träger:innen des Gewaltmonopols blechern tönend wieder und wieder, wir sollten uns „friedlich und gewaltfrei“ gegen die zu allem bereiten Nachahmungswilligen der Täter von Buchenwald und Auschwitz verhalten, wobei die Hüter:innen der „öffentlichen Ordnung“ ein martialisches Auftreten zur Schau trug, das wohl sagen sollte: „Glaubt bloss nicht, wir wüssten nicht, auf welcher Seite wir stehen!“ – nämlich mit den Rücken zu den Nazis.

Am Verhalten von Nazis, Staat und Polizei können wir wenig oder nichts ändern. Wir kennen es genauso seit Jahrzehnten. Aber wir können die Gelegenheit nutzen, uns jetzt ernsthaft zu fragen: was können, was müssen wir tun, damit Antifaschismus endlich erfolgreich wird? Denn natürlich, trotz aller Mobilisierungserfolge, trotz des riesigen und höchst anerkennens- und dankenswerten Einsatzes vor allem von „Widersetzen!“ ist dies eine weitere Niederlage und nicht ein Erfolg.

„Wenn man in einen falschen Zug einsteigt …“ wir haben es vor den Wasserwerfern stehend gesungen.

Der Zug, in dem sich (nicht nur) die deutsche Gesellschaft bewegt, braust auf den Abgrund zu, in dem Klimakatastrophe, Weltkrieg und Faschismus schon auf ihn warten. Eigentümer des Zuges ist der Zusammenhang, der diesen Abgrund und die in ihm wartenden Höllengestalten drohen: der Kapitalismus, dessen Ausgeburten sie sind.

Wir können im Zug stehen oder sitzen, toben, schreien, brüllen, gegen die Fahrtrichtung demonstrieren, von innen an die Türen treten, gegen die Fenster hämmern, uns betrinken oder die Situation zu ignorieren versuchen, wir können die Kontrolleure im Zug beleidigen oder in Wahlen beschliessen, dass der Zug künftig von Heidi Reichinnek statt von Friedrich Merz als Lokomotivführer:in gefahren wird – das wird nichts wesentliches ändern. Der Zug wird weiter in Richtung Abgrund brausen. Wir können, so schnell wir wollen, im Richtung Abgrund fahrenden Zug gegen die Fahrtrichtung rennen – es hilft nichts.

Das Einzige was hilft ist: die Notbremse ziehen, aussteigen, den Zug verlassen, das Gleisbett verlassen. Den Kapitalismus verlassen, was sicher nicht „friedlich und gewaltfrei“ möglich sein wird – nicht weil wir Gewalt toll finden, sondern weil die Herren und Damen des bisherigen ancien régime wie schon tausendmal bewiesen alles, buchstäblich alles tun werden, um uns in den Abgrund zu befördern.
Das ist keine Verleumdung: sie tun schliesslich weltweit, in aller Öffentlichkeit und tagtäglich Schritte in Richtung Klimakatastrophe, Krieg und Faschismus, und sie ermorden seit Jahrzehnten, ohne mit der Wimper zu zucken, alle und jeden, der es wagt, von innen an der Tür zu rütteln.

Die bisherige antifaschistische Politik „breiter Bündnisse“ ist gescheitert, weil sie es versäumt, die gesellschaftliche Machtfrage so unauflöslich mit der Frage des Antifaschismus zu verbinden, wie es die Gegenseite seit je tut und damit mal um Mal siegt. Gegen uns, gegen die riesige Mehrheit der Gesellschaft, gegen die Zukunft der menschlichen Zivilisation.

„Alle zusammen gegen den Faschismus“ – das funktioniert, es muss funktionieren: aber nur auf der Basis des Kampfs gegen ihn „und seine gesellschaftlichen Wurzeln“. Alles unterhalb dieser Herausforderung ist verkürzt und lässt uns wie im Hamsterrad das ewig und immer selbe erleben, während der Zug dem Abgrund entgegendonnert.

Was können wir, müssen wir besser machen?

Wir brauchen Bündnisse und eine antifaschistische Einheit, die wirklich von unten aufbauen. Wir sollten eine einzige Vorbedingung für die Mitarbeit in diesen Bündnissen machen: den ehrlichen Willen, Faschismus, Krieg und Klimakatastrophe, soziale Ungleichheit in allen Formen, Nationalismus und Rassismus mit ihrer gemeinsamen gesellschaftlichen Wurzel kompromisslos zu bekämpfen – so, wie es die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald schworen: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“[2]

Zu meinen, es können Antifaschismus ohne Kampf gegen den Kapitalismus geben – das ist die heutige Form selbst vieler Antifaschist:innen, „im Gang gegen die Fahrtrichtung zu laufen“.

An solchen Bündnissen sollten sich unabhängig von jeglicher Partei-, Gewerkschafts- oder sonstigen Mitgliedschaft alle beteiligen: in Initiativen, Bündnissen, Komitees zu allen speziellen Fragen, um die sie sich gerade kümmern wollen oder müssen. Und nie, ohne die grosse, alles entscheidende Frage aus den Augen zu verlieren: dass wir uns dem Abgrund Tag für Tag nähern. Organisationen sein, die sich – als Organisationen – nicht klar gegen den Faschismus, den Krieg, die Klimakatastrophe „mit ihren gesellschaftlichen Wurzeln“ wenden – die brauchen wir nicht. Denn sie haben seit Jahren und Jahrzehnten bewiesen, dass sie den Zug, in dem wir alle zum Abgrund rasen, entweder nicht stoppen wollen oder es nicht können – und dass sie erwiesenerermassen bereit sind, uns gewaltsam entgegenzutreten, wenn wir den Zug stoppen wollen.

Solche Bündnisse von unten und für ein Leben gegen den Abgrund hätten sicher auch Dietrich Bonhoeffers Beifall und Mitdenken gefunden.

Passend zum Thema…

Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten an einer Demonstration in Frankfurt am Main, 11. April 2021.

Eine Polemik von links gegen Lucius Teidelbaums […]

Der Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten auf dem Weg in die […]

Auch Bertolt Brecht würde zustimmen. In seinem Text „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ aus der Jahreswende 1934/35 schrieb er:

„Die Wahrheit muss der Folgerungen wegen gesagt werden, die sich aus ihr für das Verhalten ergeben. Als Beispiel für eine Wahrheit, aus der keine Folgerungen oder falsche Folgerungen gezogen werden können, soll uns die weitverbreitete Auffassung dienen, dass in einigen Ländern schlimme Zustände herrschen, die von der Barbarei herrühren. Nach dieser Auffassung ist der Faschismus eine Welle von Barbarei, die mit Naturgewalt über einige Länder hereingebrochen ist.

Nach dieser Auffassung ist der Faschismus eine neue dritte Macht neben (und über) Kapitalismus und Sozialismus; nicht nur die sozialistische Bewegung, sondern auch der Kapitalismus hätte nach ihr ohne den Faschismus weiter bestehen können usw. Das ist natürlich eine faschistische Behauptung, eine Kapitulation vor dem Faschismus. Der Faschismus ist eine historische Phase, in die der Kapitalismus eingetreten ist, insofern etwas neues und zugleich altes. Der Kapitalismus existiert in den faschistischen Ländern nur noch als Faschismus und der Faschismus kann nur bekämpft werden als Kapitalismus, als nacktester, frechster, erdrückendster und betrügerischster Kapitalismus.

Wie will nun jemand die Wahrheit über den Faschismus sagen, gegen den er ist, wenn er nichts gegen den Kapitalismus sagen will, der ihn hervorbringt? Wie soll da seine Wahrheit praktikabel ausfallen?

Die gegen den Faschismus sind, ohne gegen den Kapitalismus zu sein, die über die Barbarei jammern, die von der Barbarei kommt, gleichen Leuten, die ihren Anteil vom Kalb essen wollen, aber das Kalb soll nicht geschlachtet werden. Sie wollen das Kalb essen, aber das Blut nicht sehen. Sie sind zufriedenzustellen, wenn der Metzger die Hände wäscht, bevor er das Fleisch aufträgt. Sie sind nicht gegen die Besitzverhältnisse, welche die Barbarei erzeugen, nur gegen die Barbarei. Sie erheben ihre Stimme gegen die Barbarei und sie tun das in Ländern, in denen die gleichen Besitzverhältnisse herrschen, wo aber die Metzger noch die Hände waschen, bevor sie das Fleisch auftragen.“[3]

Wir sollten aufhören, es uns selbst leichter zu machen, als es ist.

Ja – wir brauchen dringend breitestmögliche antifaschistische Bündnisse – aber es sollten Bündnisse im Sinn von Bonhoeffer und Brecht, Bündnisse gegen den Faschismus „und seine gesellschaftlichen Wurzeln“ sein. Es wird Zeit, dass wir in unseren eigenen Reihen diskutieren, wie wir die bisherigen Pfade der trotz solch grossen Enthusiasmus immer wieder erfolglosen Pfade verlassen, endlich den Zug stoppen, dem Abgrund den Rücken und uns dem Leben zuwenden.

Fussnoten:

[1] Der zitierte Satz wird immer wieder Dietrich Bonhoeffer zugeschrieben, ohne dass sich das so eindeutig verifizieren liesse wie jener andere des Theologen und kurz vor der Befreiung 1945 vom Staat ermordeten antifaschistischen Widerstandskämpfers. Angesichts des ersten staatlich angeordneten Boykotts jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 forderte Bonhoeffer, man müsse „dem Rad in die Speichen fallen“ anstatt sich nur unter die unter Räder Gekommenen zu kümmern.

[2] Ansprache in französischer, russischer, polnischer, englischer und deutscher Sprache auf der Trauerkundgebung des Lagers Buchenwald am 19. April 1945“, Buchenwaldarchiv Sign. NZ 488, hier ziziert nach: Carlebach, Emil; Schmidet, Willy, Schneider, Ulrich: Buchenwald. Ein Konzentrationslager. Berichte – Bilder – Dokumente, herausgegeben im Auftrag der Lagergemeinschaft Buchenwald-Dora, Köln 2000, Faksimile des Textes der Ansprache auf der inneren hinteren Umschlagseite.

[3] Brecht, Bertolt, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit (1934/35), Online: http://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/brecht2.html.

Erstveröffentlicht im Untergrundblättle v. 1.12. 2025
antifaschistischer-protest-in-giessen-alle-zusammen-gegen-den-faschismus-aber-wie?

Wir danken für das Publikationsrecht.

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