Brief aus Moskau: 1993 und der Preis der „Demokratie“


Bild: You Tube Screeshot

Von Stefano di Lorenzo

(Red.) Die Geschichte befasst sich meistens mit politischen und/oder militärischen Auseinandersetzungen zweier verfeindeter Seiten. Und – leider – meistens wird sie so geschrieben, dass die eine Seite positiver und die andere Seite negativer beschrieben wird. Das trifft auch auf die 1990er Jahre in Russland zu. Boris Jelzin, der damalige russische Präsident, war mit Bill Clinton befreundet und wird im Westen deshalb als jener gefeiert, der Russland die Demokratie brachte, in Russland selbst erinnert man sich aber vor allem daran, dass er mit der Privatisierung der Wirtschaft einer kleinen – „cleveren“ – Minderheit die Chance zum Reichwerden brachte, die große Mehrheit aber in die Armut führte. Jetzt gibt es zu diesem Thema auch einen russischen Film. (cm)

Einer der am meisten diskutierten Filme der letzten Wochen in Russland heißt schlicht „1993“. Es ist die Geschichte einer Familie, die während der blutigen Ereignisse vom Oktober 1993 gespalten ist und eine Krise erlebt. Oktober 1993 gilt allgemein als eines der vielen schicksalhaften Daten in der jüngeren russischen Geschichte. Der Film löste viele Diskussionen aus, die russische Zeitung «Kommersant» nannte ihn „vielleicht den bedeutendsten russischen Film der letzten Jahre“.

Die Ereignisse vom Oktober 1993 sind einfach als „Verfassungskrise von 1993“ in die allgemeine Geschichte eingegangen. Aber die Bedeutung dieser Tage geht weit über das hinaus, was wie eine trockene, legalistische Formel erscheinen mag. Dreißig Jahre sind seit dem Ereignis vergangen. In den westlichen Medien blieb dieser Jahrestag bis auf wenige Ausnahmen unbeachtet. So fasste beispielsweise die deutsche „Die Welt“ die Ereignisse zusammen: „Er [Jelzin] ließ ein Parlament zusammenschießen, um die Demokratie zu retten“. Ein Titel, der am Anfang als Ironie daherzukommen scheint, aber wenn man den Artikel liest, stellt man fest, dass es keine Ironie ist, es ist alles ernst gemeint.

Die Ereignisse vom Oktober 1993 in Moskau sind Tatsachen, die nicht allzu gut in das einfache Interpretations-Schema der sowjetischen und russischen Geschichte passen, wie diese normalerweise der europäischen und westlichen Öffentlichkeit dargestellt wird. Zuerst die schreckliche sowjetische Diktatur, dann der Beginn der Perestroika mit Gorbatschow (im Westen sprach man von „Gorbymania“), dann der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, endlich die Demokratie und die Liberalisierung der 90er Jahre, symbolisiert durch die herzliche Freundschaft zwischen Jelzin und dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Eine Demokratie notabene, die, wie da im Westen erzählt wird, durch die Rückkehr der Diktatur unter Putin leider wieder verloren ging. Aber wie lässt sich dann erklären, dass Jelzin, der Held, der Befreier von Russland und Verteidiger der Demokratie, 1993 beschloss, auf das Parlament (sic!) schießen zu lassen, um „die Demokratie zu retten“?

Nach dem Ende der Sowjetunion am 25. Dezember 1991 hatte das neue Russland unter der Leitung renommierter westlicher Wirtschaftsexperten ein sehr ehrgeiziges Programm radikaler Wirtschaftsreformen gestartet. Auch der amerikanische Professor Jeffrey Sachs war mit von der Partie, der bereits am Übergang von der Planwirtschaft zum kapitalistischen Modell in Polen mitgearbeitet hatte. 

Wirtschaftliche Therapie als Schock

Aber in Russland hatten die wirtschaftlichen Liberalisierungsreformen, die sogenannte «Schocktherapie», verheerende Auswirkungen auf den gigantischen Industriekomplex sowjetischer Herkunft und auf große Teile der Bevölkerung durch die Hyperinflation. «Schocktherapie» war kein zufällig gewählter Name. Für viele Menschen, die an das Sowjetsystem und die Vorhersehbarkeit der von oben gesteuerten Wirtschaft gewohnt waren, erwiesen sich die neuen Lebensbedingungen, in denen alles von dem eisernen Gesetz des freien Markts entschieden wurde, als fatal. Die organisierte Kriminalität dagegen zeigte sich bei der Anpassung an das neue System als wesentlich agiler und flexibler als der durchschnittliche russische Bürger.

Ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfreuten sich Jelzin und Jegor Gaidar, ehemaliger Finanzminister und Interims-Premierminister, der als Hauptverantwortlicher radikaler Wirtschaftsreformen galt, keiner großen Popularität. Gaidar, gestorben im Jahr 2009 im Alter von 53 Jahren, gilt bis heute für die meisten Russen als Hassfigur. Jelzin, der Held des August 1991, der sich dem Putschversuch der kommunistischen Hardliner gegen Gorbatschow widersetzen konnte, schien bis 1993 bereits in Ungnade gefallen zu sein.

Die Wurzel des Konflikts

Der Oberste Sowjet, das russische Parlament, war im März 1990 gewählt worden, noch in der Zeit der Perestroika, als niemand wirklich glauben konnte, dass die Sowjetunion innerhalb von 21 Monaten zu existieren aufhören würde. Der Oberste Sowjet, voll gepackt mit ehemaligen und weniger ehemaligen Kommunisten, schien nur noch ein Überbleibsel einer anderen Ära zu sein. Ironischerweise war es der Oberste Sowjet gewesen, der Jelzin im Mai 1990 zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets wählte, praktisch zum mächtigsten Mann in der russischen Republik, damals noch innerhalb der UdSSR. Jetzt aber stand dieser selbe Oberste Sowjet Jelzins Reformen oft im Wege. 

Am 20. September 1993 unterzeichnete Präsident Jelzin ein Dekret zur Auflösung des russischen Parlaments. Die Abgeordneten reagierten, indem sie das Dekret auf der Grundlage der Verfassung für ungültig erklärten. Sie beschlossen, Jelzin vom Amt des Präsidenten zu entfernen und den damaligen Vizepräsidenten Alexander Ruzkoi zum Staatsoberhaupt zu ernennen. In dieser Situation wurde ein offener Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem Parlament unvermeidlich.

Im Regierungsgebäude der Russischen Föderation, auch bekannt als «Weißes Haus», dem damaligen Sitz des russischen Parlaments, wurden Strom und Wasser abgeschaltet. Früher oder später würden die Parlamentarier das Gebäude verlassen und die Krise würde enden, so das Kalkül. Doch die parlamentarische Jelzin-Opposition schien entschlossen, in der Duma – im Parlament – Widerstand zu leisten. Auch auf den Straßen Moskaus wurde die Lage mittlerweile unruhig.

Der Showdown

Nach zwei Wochen, am 3. Oktober, durchbrachen pro-parlamentarische Demonstranten die Polizeiabsperrungen rund um das Weiße Haus. Einigen Quellen zufolge befahl Ruzkoi den Demonstranten damals, das Moskauer Rathaus und das Fernsehzentrum Ostankino zu besetzen. Beide Angriffe wurden aber abgewehrt. Die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten der parlamentarischen Opposition und Jelzin-treuen Regierungstruppen verliefen blutig. Am nächsten Tag beschossen acht Panzer, die von der Jelzin-treuen Armee geschickt wurden, das Weiße Haus. Gegen 17 Uhr verließen 300 Menschen im Gänsemarsch das Gebäude, die Hände über dem Kopf. Das Parlament wurde aufgelöst. Damit endete das, was beschönigend als „Verfassungskrise von 1993“ in die Geschichte einging.

„Wir haben uns nicht auf den Krieg vorbereitet. Wir hielten es für möglich, einen Deal zu machen und den Frieden in der Hauptstadt zu wahren. […] Alles, was in Moskau geschah und geschieht, war ein im Voraus geplanter bewaffneter Aufstand“, sagte Jelzin. „Dieser wurde von rachsüchtigen Kommunisten, faschistischen Führern und einigen ehemaligen Parlamentariern organisiert. Es kann deshalb keine Vergebung geben, weil sie ihre Hand gegen friedliche Menschen erhoben haben.“

Die Zahl der damals bei den Protesten getöteten Menschen bleibt unklar. Offizielle Quellen nennen eine Zahl von etwa 200, andere sprachen sogar von 2000 Opfern. Dazu muss gesagt werden, dass von den Abgeordneten keiner getötet wurde. Ruzkoi und die Oppositionsführer wurden festgenommen und inhaftiert, überraschenderweise erhielten sie aber bereits ein Jahr später eine Amnestie.

Und der Westen?

Westliche Politiker wurden damals vor dem Angriff auf das Weiße Haus gewarnt. Sie erklärten umgehend ihre Unterstützung.

„Es ist klar, dass die Oppositionskräfte den Konflikt begonnen haben und Präsident Jelzin keine andere Wahl hatte, als zu versuchen, die Ordnung wiederherzustellen“, erklärte der damalige US-Präsident Bill Clinton unmissverständlich. „Die USA haben Jelzin unterstützt, weil er Russlands demokratisch gewählter Führer ist“, sagte er. „Ich habe keinen Grund, an der persönlichen Verpflichtung von Präsident Jelzin zu zweifeln, das russische Volk in Wahlen über seine eigene Zukunft entscheiden zu lassen.“

Die Regierungen westlicher Länder, die stets auf die Menschenrechte bedacht sind und die demokratische Souveränität gegen tyrannische Usurpatoren verteidigen, unterstützten also Jelzin während der sogenannten Verfassungskrise von 1993 klar. Als der russische Präsident auf das Parlament schießen ließ, wurden keine Sanktionen gegen Russland verhängt. Auch große Reden und Predigten zur Meinungs- und Pressefreiheit in Russland blieben aus, sogar nachdem Jelzin mehrere Zeitungen geschlossen und ganze Parteien verboten hatte.

Die Auferstehung Jelzins und sein Untergang

Tatsächlich war drei Jahre später eine Gruppe amerikanischer Politikberater, die dem Weißen Haus in Washinton nahe standen, maßgeblich an Jelzins Wiederwahl 1996 beteiligt. Nach vier Jahren Schocktherapie lag Jelzins Zustimmungsrate bei nur noch etwa 5%. Die Zauberkunst amerikanischer Wahlberater ermöglichte Jelzin aber ein wundersames Comeback. Während des Wahlkampfs agierten die Amerikaner im Verborgenen, um den Kommunisten, Jelzins Hauptgegner, keinen Vorwand zu geben, den Präsidenten zu beschuldigen, eine Marionette in den Händen der USA zu sein. (Siehe dazu die Anmerkung am Ende dieses Artikels.)

Und wie sehen die Russen heute die Ereignisse vom Oktober 1993? Während vor 30 Jahren die Mehrheit der Russen trotz allem die entschlossene Geste des Präsidenten zur Liquidierung der letzten Reste der Sowjetmacht zu rechtfertigen schien, sind die Meinungen derjenigen, die sich an die Ereignisse erinnern, heute viel kritischer. Jeder zweite informierte Russe glaubt, dass die gewalttätigen Methoden zur Kontrolle der Lage damals ungerechtfertigt waren. Der Anteil der Unterstützer von Boris Jelzin im Vergleich zum Parlament ist zurückgegangen: 18% der „Informierten“ antworteten, dass sie auf der Seite des ersten Präsidenten Russlands stehen würden, während es vor zehn Jahren noch 26% waren.

Dies hängt möglicherweise mit einem natürlichen Gefühl von kritischer Distanz zusammen. Heute ist der Konflikt zwischen der neuen, chaotischen, oft brutalen Welt des Kapitalismus und der „Demokratie“, einerseits, und der alten Welt der Planwirtschaft, der „Welt der Sicherheit“, andererseits, nicht mehr so direkt auf der Haut spürbar wie gerade nach dem Zerfall der UdSSR. Russland überlebte die Zeit der Schocktherapie. Die nostalgischen „stalinistischen“ Kommunisten der Sowjetunion kehrten nicht an die Macht zurück. Doch die Ereignisse von 1993 waren kein einfacher Konflikt zwischen Anhängern der Demokratie und ihren Feinden. Aber die Russen sahen mit eigenen Augen und erlebten am eigenen Leib die Art von Jelzinscher „Demokratie“, die im Westen so hochgepriesen wurde. Und am Ende waren sie davon nicht ganz überzeugt.

Der Film „1993“ wurde mit großer Spannung erwartet und viel diskutiert. Doch kann man nicht sagen, dass er beim Publikum wirklich ein großer Erfolg war, ein Blockbuster wurde er nicht. Dreißig Jahre später wollen die Leute offenbar lieber an etwas anderes denken: Verdrängung als der beste natürliche Schutzmechanismus also.

Anmerkung der Redaktion Globalbridge.ch:

In der «Süddeutschen Zeitung» vom 23.2.2017 findet sich ein Interview mit zwei Wissenschaftlern, die Einmischungen einzelner Länder in die Wahlen anderer Länder erforschen. Zur Unterstützung Präsident Boris Jelzins durch US-Präsident Bill Clinton bei den Wahlen in Russland im Jahr 1996 kann man dort die folgenden Aussagen lesen:

„Die Amerikaner mischten sich 1996 intensiv bei den Wahlen in Russland ein. Sie waren besorgt, dass Gennadi Sjuganow, der Kandidat der Kommunistischen Partei, Präsident werden könnte. Sie unterstützten die Wiederwahl von Boris Jelzin. Das Problem war nur, dass Jelzin keine gute Figur abgab: In einigen Umfragen lag er bei gerade mal acht Prozent.

Frage: Wie haben die USA das geändert?

„Sie schickten Wahlkampfberater und konzipierten für Jelzin eine neue Kampagne. Außerdem überredeten die USA den Internationalen Währungsfonds (IWF), Russland – und damit dem amtierenden Präsidenten Jelzin – eine Anleihe von zehn Milliarden Dollar zu gewähren, obwohl das Land die ökonomischen Kriterien nicht erfüllte. Wir reden hier vom zweithöchsten Betrag, den der IWF bis dahin je vergeben hatte. Etwa zwei Milliarden erreichten Russland noch vor der Wahl.“

Frage: Das geschah doch ganz offen, oder?

„Ja, die Unterstützung war sehr offensichtlich. Jelzin erschien sogar im russischen Fernsehen und bedankte sich bei seinem guten Freund Bill Clinton. Außerdem drohte der Chef des IWF: Falls die Kommunisten gewinnen und die Reformen Jelzins rückgängig machen, würde der Geldfluss versiegen. Das gab Jelzin großen Aufwind.“

(cm, Christian Müller)

Erstveröffentlicht bei GlonalBridge
https://globalbridge.ch/brief-aus-moskau-1993-und-der-preis-der-demokratie/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Aufstand der Verzweiflung

Wir publizieren im Rahmen unseres linken Diskurses zum Nahost Konflikt die Einschätzung eines ausgewiesenen Experten für Völkerrecht. Norman Paech gehört zu den renomierten Völkerrechtlern Deutschlands und ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht. Zwischen 2005 und 2009 saß er für die Partei Die Linke im Deutschen Bundestag. Sein Beitrag erschien zuerst am 19.10.2023 in der Jungen Welt. (Peter Vlatten)

Von Norman Paech

Aufstand der Verzweiflung

Kolonialer Hintergrund des Kriegs zwischen Israel und der Hamas und ihren Verbündeten wird in Politik und Medien übersehen.

Die politische Klasse, ob in der Regierung, den Parteien oder den Medien, hat offensichtlich ihr Ceterum censeo: Hamas muss vernichtet werden – um welchen Preis auch immer. Lassen wir die politische Fragwürdigkeit dieser Devise einmal beiseite, so liegt in ihr ein grundsätzlicher Fehler. Sie reduziert den Überfall und den Ausbruch der Gewalt auf die Verantwortung einer einzigen Organisation, der Hamas. Sie hat die Geschichte der kolonialen Befreiungskämpfe in Afrika vergessen, deren militärische Spitze immer von einer oder zwei Organisationen gebildet wurde. Ob die FLN in Algerien, der ANC in Südafrika, die SWAPO in Südwestafrika, die MPLA in Angola, die PAIGC in Guinea-Bissau, die Frelimo in Mosambik oder die PLO in Palästina, sie wurden alle als Terroristen bekämpft. Sie waren aber nur der politisch-­militärische Arm eines Volkes, welches für seine Befreiung kämpfte. In allen diesen Befreiungskriegen hatte das internationale Recht einen verzweifelten Stand.

Politik und Medien wollen auch jetzt nicht begreifen, dass es hier in Gaza ebenso wie in der Westbank um einen Befreiungskampf des ganzen palästinensischen Volkes gegen jahrzehntelange Unterdrückung, Enteignung, Gewalt und Entwürdigung geht. Wir dürfen nicht vergessen und verdrängen, dass die palästinensische Bevölkerung die furchtbare Gewalt, die jetzt so bild- und wortreich beklagt wird, in mehr als 75 Jahren in Überfällen und Massakern von Deir Jassin bis Masafer Jatta immer wieder und geradezu täglich erfahren hat. Sie ist immer wieder dagegen aufgestanden – vergeblich. Jetzt hat die verzweifelte Situation wie bei einer Revolte im Gefängnis zu einer Explosion geführt.

Rache löst nichts

Wenn Israel mit Unterstützung von USA und NATO-Bündnis darauf besteht, Hamas als Reaktion auszulöschen, zu vernichten, und sei es um den Preis Tausender ziviler Opfer Gaza in Schutt und Asche zu legen, so begeht es den zweiten Fehler: Dadurch würde der Widerstand des palästinensischen Volkes gegen die Gewalt der Apartheid nicht gebrochen. Man kann eine Organisation vernichten, aber nicht ein Volk. Das würden heute die UNO und ein immer noch vorhandenes antikoloniales Gewissen in der Welt verhindern. Man kann sein Rachegefühl befriedigen, aber damit nicht den Frieden sichern. Alle klassischen Kolonialmächte mussten sich aus ihren Kolonien zurückziehen. Israel, eine Siedlerkolonie, wird hier keine Ausnahme machen.

Das internationale Recht und die Menschenrechte haben in diesem Konflikt schon lange keine Rolle mehr gespielt. Sie wurden seit der israelischen Staatsgründung gegenüber dem palästinensischen Volk ständig vernachlässigt und verletzt. Israel hat nie die Genfer Konventionen für die besetzten Gebiete anerkannt. Israels Garantiemächte, vor allem die USA und die BRD, haben alle Verletzungen des internationalen Rechts gedeckt und akzeptiert. Die Internationalen Gerichtshöfe wurden erst in den letzten Jahren zur Überprüfung der Siedlungspolitik und der Kriegsverbrechen aufgefordert, was sofort aufgrund des Widerstands der Garantiemächte abgeblockt wurde.

Während die afrikanischen Völker noch in der UNO um die politische und juristische Anerkennung ihres Kampfes ringen mussten, ist dieser Kampf jetzt in den Resolutionen der Vereinten Nationen und den Zusatzprotokollen der Genfer Konventionen fest verankert. Dennoch spielen das internationale Recht und die Menschenrechte seit Beginn dieses Konfliktes nur auf Pressekonferenzen und in den öffentlichen Erklärungen der Regierungen eine Rolle. Sie existieren, konnten aber bisher zum Frieden in der Region nichts beitragen.

Die politische Reaktion gegenüber den Palästinensern in der Bundesrepublik erinnert mich an die Zeit unmittelbar nach dem Überfall der PFLP auf das israelische Olympiateam 1972 in Fürstenfeldbruck. Es herrschte eine Pogromstimmung, die viele Palästinenser veranlasste, die Bundesrepublik zu verlassen. Wenn das größte deutsche Boulevardblatt Bild auf der ersten Seite mit der erwiesen falschen Meldung »Babys mit abgeschnittenen Köpfen« titelt, so bleibt das lange in den Köpfen der Leser und erzeugt nachhaltigen Hass gegen alle Palästinenser. Ihre Demonstrationen und Veranstaltungen werden verboten und ihre Netzwerke mit Schließung bedroht, auch vor Abschiebung können sie nicht mehr sicher sein. Die rechtliche Basis dieser Maßnahmen ist meistens strittig, über sie entscheiden die Gerichte mal so, mal so.

Besatzung muss enden

Nein, diese Zeilen sind keine Rechtfertigung der mörderischen Orgie, die die Kämpfer der Hamas bei ihrem Überfall anrichteten, keine verschwiegene Zustimmung zu den Siegesgesängen auf Europas Straßen. Sie werden von der Furcht diktiert, dass das »Terrorbild« der Hamas bei aller Grausamkeit des Überfalls den wahren Charakter dieser Gewalt als Aufstand der palästinensischen Gesellschaft verdeckt. Dass man sich weiterhin weigert, das Elend der palästinensischen Existenz sowohl in Gaza wie in der Westbank wahrzunehmen und die jahrzehntelange koloniale Besatzung und Apartheid als wahren Grund der plötzlichen Gewalt zu erkennen. Sie hatte sich seit langem angekündigt und wird durch keinen Vernichtungskrieg verschwinden.

Auf ihren Pilgerreisen nach Jerusalem werden die Regierungschefs der USA und Deutschlands nur ihre Solidaritätsadressen abliefern und für eine humanitäre Kriegführung plädieren. Sie werden es wiederum versäumen, Druck auf die israelische Regierung auszuüben, um das einzige Mittel zur Beseitigung der Gewalt durchzusetzen: die Besatzung aufzugeben und den Palästinenserinnen und Palästinensern die versprochene Gründung eines eigenen Staates zu ermöglichen. Zu Hause aber wird der Druck auf die arabische Bevölkerung dazu führen, den Hass gegen sie anwachsen zu lassen, sie auszugrenzen und auszuschließen. Das spaltet die Gesellschaft und fördert den Rassismus. In der Folge wird die jüdische Bevölkerung immer häufiger angegriffen und der Antisemitismus wird noch stärker werden. Schließlich wird die Gewalt zunehmen und der Einsatz der Polizei die feindliche Stimmung nicht beruhigen können. Eine nicht sehr kluge Politik mit absehbar schädlichen Konsequenzen.

Wir danken Norman Paech für die Publikationsrechte

Kriegstüchtig – die Katze ist aus dem Sack und was sind die Konsequenzen?

Jetzt ist die Katze aus dem Sack. Deutschland muss „kriegstüchtig“ werden, erklärte am 29.10. der dafür zuständige Minister im ZDF. Konkret sagte er „Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.

Es hatte sich im Zuge der Nahosteskalation bereits angekündigt.

Kaum war der  Konflikt “Naher Osten” durch das HAMAS Massaker eskaliert fanden einige bekannte Akteure aus der “Ukraine – Kriegseskalation” eine neue Gelegenheit, Rote Linien zu durchbrechen. Hofreiter (Grüne), Kiesewetter (CDU), Strack-Zinmermann und auch der FDP Generealsekretär erklärten immer wieder unermüdlich in Talk Shows, dass bedingungslose Solidarität mit Israel als Staatsräson, wie es Kanzler und Aussenministerin unzweideutig erklärt haben, nicht nur “unlimitierten“ Einsatz von Geld- und Militärhilfen bedeute, sondern auch den Einsatz “deutschen Lebens”.

Das Handelblatt sprach am Tag 1 nach dem 7.Oktober von “Zeitenwende Nummer ZweiDen meisten in Deutschland sei noch lange nicht klar, welche weitgehenden Konsequenzen das habe.  Unsere Parole “Wir zahlen nicht für Eure Kriege” erhält unter diesen neuen Aspekten eine ganz andere Tragweite und Bedeutung!

Inzwischen wurde laut FAZ deutsches Militär zunehmend direkt in das Krisengebiet des Nahen Ostens verlegt. Und zwar nicht nur, um deutsche Staatsangehörige zu evakuieren sondern um erforderlichenfalls wohl auch zugunsten Israels einzugreifen. Bereits jetzt sollen deutsche Kriegsschiffe vor der Küste des Libanon patrouillieren, um Waffenlieferungen abzufangen. Was ist, wenn deutsche Soldaten dabei zu Schaden kommen? Ein Angriff auf Deutschland und der Eintritt des Kriegsfalls?

Der Sicherheitsexperte Christian Mölling erklärte am 30.Oktober In der ARD [1].  … Continue reading, was sich hinter der Ankündigung von Pistorius verbirgt:

„… Es braucht eben nicht nur Streitkräfte, sondern es braucht tatsächlich auch eine funktionsfähige Rüstungsindustrie. Und es braucht vor allen Dingen das Verständnis der Bevölkerung, einen möglichen Krieg tatsächlich mitzutragen. Das ist, glaube ich, das Schwerste. “ Und fast seufzend klingt sein Zusatz : “ Stellen Sie sich vor, der Bundeskanzler möchte den Artikel fünf der NATO ausrufen, und die Bevölkerung sagt: „Ich finde das eine schlechte Idee“ . Dann ist es in Demokratien nicht tragbar, in den Krieg zu ziehen.“ Am Schluss des Interviews macht der Experte nochmal ganz deutlich, dass es um nichts anderes als um die komplette Militarisierung der Gesellschaft geht: „Mit den zwei Prozent, die oft genannt werden, werden wir sicherlich nicht weit kommen. Es geht ja nicht nur um Waffen, sondern um Katastrophenschutz, kritische Infrastrukturen – das, was man Gesamtverteidigung nennt.“ Vor allem weist der Experte darauf hin: „Wir brauchen gleichzeitig eine Bevölkerung, die bereit ist und versteht ..“ Die mentale Haltung, sprich geringe Kriegsbegeisterung, der meisten Deutschen scheint dem Experten wie auch der ganzen politischen Elite wohl noch die größten Kopfschmerzen zu bereiten.

Viele halten es für unwahrscheinlich, daß Deutschland direkt angegriffen wird, denken aber nicht darüber nach, dass unser Land Teil des Kriegsbündnisses NATO ist , in dem sich Teile immer aggressiver verhalten. Nicht nur die Türkei, die zum Beispiel völkerrechtswidrig Nordsyrien oder Teile des Iraks angreift. Es gibt kaum einen Konflikt weltweit, in dem die USA, an deren Seite unser Staat agiert, nicht involviert ist. Je mehr die Konflikte in der Welt eskalieren, desto wahrscheinlicher, dass der Bündnisfall eintritt, zu dem sich unser Land verpflichtet hat.

Zwei Komentare zum Thema, die für viele stehen

Kurt Weissenboek am 1. November: „Vizekanzler Robert Habeck spricht sich bereits heute ausdrücklich für ein zweites Schuldenprogramm zur Finanzierung der weiteren Waffenbeschaffung aus. Weil Deutschland militärisch auf Bündnisse angewiesen sei, erklärt Pistorius Kritik an NATO und EU zur Gefährdung der „Sicherheit Deutschlands“; er engt damit die Bandbreite öffentlich akzeptierter Meinungen weiter ein. Darüber hinaus dringt er auf einen „Mentalitätswechsel“ in der Bevölkerung hin zu größerer „Wehrhaftigkeit“. …“

Christian Bechmann am 31.10. : „BORIS PISTORIUS versucht gerade Alle und Alles „Kriegstauglich“ zu machen.
Nicht nur die Bundeswehr sondern auch die
„ganze Gesellschaft muß es werden“ (ZDF 29.Okt.)
Ohne mich ! – Sage ich als alter Sozialdemokrat.
Herr Pistorius, laut Umfragen angeblich beliebtester Politiker des „neuen Deutschland“ nach der „Zeitenwende“ , hat damit , wieder einmal, die sozialdemokratische Rote Linie überschritten.
Soviel Einsatz für eine militaristische Gesellschaft ist neu !
Die Partei von Willy Brandt und Egon Bahr scheint in eine
„mehr-Krieg-riskieren-Partei“ umgewandelt zu werden. Ohne dafür ein demokratisches Mandat, welcher Art auch immer, zu haben.
Diskussionen darüber in der SPD, mit wenigen Außnahmen, schlicht unerwünscht. Die Bundestagsfraktion der SPD taucht ab, bis zum Absaufen. – Schöne neue Ampel-Welt.“

Es ist selbstredend, dass nicht nur innerhalb der Partei SPD kritische Meinungen gegen den Militärkurs unerwünscht sind, sondern auch gesamtgesellschaftlich. Die Debatte um Waffenlieferungen im Ukainekonflikt in den öffentlichen Medien dürfte davon nur ein harmloser Vorgeschmack sein.

Für die SPD kann es knüppeldicke kommen. Hat sie mit der Agenda 2010 ihre soziale Glaubwürdigkeit eingebüßt, „Zeitenwende 2“ könnte bedeuten, daß sie auch ihre friedenspolitische Glaubwürdigkeit endgültig aufs Spiel setzt.

Den Grünen blüht dieser Glaubwürdigkeitsverlust wohl in allen Fragen nach einer einzigen Legislaturperiode, ausgenommen bei den Profiteuren eines grünangestrichenen Kapitalismus.

Wer was gegen „Zeitenwende 2“ tun will, der kommt diesen Samstag zur Bundesweiten Demonstration nach Berlin „FREE PALESTINE will not be cancelled“ und streicht sich den 25. November dick im Kalender an: „Es ist an der Zeit: Bundesweiter Protest gegen Krieg und sozialen Niedergang„.

Also Linke aller Couleur und Friedensbewegte. Letzten Samstag sollen vor allem junge Genossen dabei gewesen sein. Raus aus den Diskutiersalons und der eigenen Wolke. Da draussen tut sich was und muss sich was tun.

Kriegstüchtig. Wir sollten es aus unserer Vergangenheit kennen und wissen wie es endet.

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