Von Kürzungen zu #unkürzbar!

Ein Flugblatt am 10. Oktober, dass viele überzeugt. Uns auch. Eine schlüssige Strategie, mit der wir bei unseren Protesten vom Fleck kommen .(Peter Vlatten)

Arbeiterinnenmacht-Flugblatt, Infomail 1294, 10. Oktober 2025

Kürzungen sind für Berliner Kulturschaffende und sozial Arbeitende nichts Neues. Der Senat verfolgt dabei seit Jahren dieselbe Strategie – mit Erfolg. Kürzungen werden angedroht, nach Protesten teilweise zurückgenommen, zwischen den Bereichen hin- und hergeschoben und letztlich doch durchgesetzt. Es wird selektiv verhandelt, und Bereiche werden gegeneinander ausgespielt – Soziales gegen Kultur, Klein gegen Groß. Währenddessen vertröstet der Senat oder informiert gleich gar nicht. Das zeigt Wirkung: Wenn der Senat kürzen wollte, kürzte er. Bisher.

Was können wir dieser Strategie entgegensetzen? Wie werden wir wirklich #unkürzbar?

Zunächst muss man leider bilanzieren: Demonstrationen und Veranstaltungen werden vom Senat einfach in diese Strategie integriert. Lautstarke Versammlungen vor dem Abgeordnetenhaus und Versuche einer medialen Druckkampagne sind dem Senat sicher unangenehm, hinderten ihn jedoch bisher nicht daran, die Axt anzulegen. Einzelne Kürzungsvorhaben wurden zurückgenommen, teilweise in reduzierter Form durchgesetzt.

Schon letztes Jahr wurde gekürzt – doch diese Angriffe sind kein Zufall. Sie sind Ausdruck der Krise des deutschen Imperialismus und Vorboten eines Generalangriffs auf unsere Lebensbedingungen. Wenn wir dem etwas entgegensetzen wollen, müssen wir uns gut organisieren und vorbereiten!

Wir müssen den Senat endlich dort treffen, wo es wehtut!

Wir sind nicht die Autoindustrie. Wir sind keine Fluglots:innen. Einzelne Arbeitsniederlegungen und symbolische Schließtage bauen keinen Druck auf den Senat auf. Echten Widerstand können wir nur aufbauen, wenn wir wirklich zusammenarbeiten – und uns nicht spalten lassen! Das heißt konkret: Einzelne Projekte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, große Träger nicht gegen kleine. Wenn wir uns spalten lassen, spielt das nur dem Senat in die Hände.

Das heißt: Über Betriebe hinweg, über Bereiche hinweg – mit Solidaritätsstreiks! Denn selbst wenn alle Lehrer:innen, Kulturschaffenden und Sozialarbeiter:innen streiken, wird das nicht reichen. Aber die BVG, die BSR, die Krankenhäuser – sie alle sind indirekt von den Kürzungen betroffen. Wenn wir uns zusammenschließen und gegenseitig stärken, können wir mehr Druck aufbauen als der Senat aushalten kann!

Da müssen wir erst mal hinkommen. Das bedeutet unter anderem: unsere eigenen Kolleg:innen informieren, in anderen Betrieben informieren, Betriebsgruppen aufbauen, unsere Gewerkschaften dazu bringen, eine Kampagne zu starten. All das ist möglich. Die Erzieher:innen haben es uns letztes Jahr vorgemacht!

Das funktioniert nicht ohne eine Koordination aller Anstrengungen gegen die Kürzungsoffensive – mindestens auf berlinweiter, besser auf nationaler Ebene. Ein Aktionsbündnis anstelle mehrerer kleinerer Bündnisse, die unterschiedliche Bereiche vertreten! So brechen wir die Hinhalte- und Spaltungstaktik des Senats!

Geld für Soziales und Kultur statt für Krieg und Aufrüstung!

Wenn wir nicht wollen, dass mehr und mehr weggekürzt wird, müssen wir dabei nicht nur gegen die Kürzungen, sondern auch für konkrete Verbesserungen eintreten – etwa für einen höheren Mindestlohn, kürzere Arbeitszeiten oder bessere Personalschlüssel. Ein Kampf gegen die Kürzungen funktioniert nicht, ohne zu benennen, worin die Gründe für den Kahlschlag im Sozial- und Kulturbereich liegen: Die beispiellose Militarisierung, die derzeit betrieben wird und von der die Reichen weiter profitieren, ist direkt verantwortlich für unsere Misere.

Wir müssen fordern: Geld für Soziales und Kultur statt für Aufrüstung und Krieg – und uns doppelt organisieren! Einerseits gegen die Angriffe des Senats, andererseits in den Gewerkschaften, um gemeinsam für eine Politik ohne Kürzungen und Krieg zu kämpfen, gegen die Politik der Sozialpartnerschaft, die aktuell dort vorherrscht.

Keine Kürzungen, nirgendwo! Erstreiken wir uns unsere Zukunft! Gemeinsam auf die Straße – für ein großes Aktionsbündnis und flächendeckende Mobilisierungen der Gewerkschaften!

Gegen den Markt!

Linke Strategie: Warum Umverteilung durch Vergesellschaftung ergänzt werden sollte

Von Ralph Hoffrogge

Hohe Mieten, teure Lebensmittel – niedrige Renten und Löhne. Weil sie diesen Widerspruch offen aussprach, schaffte die Linkspartei im Bundestagswahlkampf 2025 ein sensationelles Comeback. Ihr Spitzenduo versprach »eine andere Wirtschaftspolitik«, »damit das, was wir gemeinsam erarbeiten, auch fair verteilt wird«. Doch ändert sich dann die Arbeit selbst oder ändern sich gar die Eigentumsverhältnisse? Oder geht es allein um eine Umverteilung des Überschusses? Beides schließt sich nicht aus – doch zeigt sich eine Lücke zwischen Tagesforderung und Transformation, die geschlossen werden muss.

Antifaschistische Wirtschaftspolitik

Der von der Linken erhobene Ruf nach Wiedereinführung der Vermögenssteuer ist eine alte Forderung der SPD. Der Mietendeckel eine Preiskontrolle, wie sie die Ökonomin Isabella Weber vorgeschlagen und nach der Wahl Trumps als »antifaschistische Wirtschaftspolitik« gerahmt hat. Beide Maßnahmen sind notwendig, verlassen jedoch nicht den keynesianischen Korridor, in dem sich die Linke seit ihrer Gründung 2007 bewegt. Sie wollte die Sozialdemokratie beerben – und bekam all ihre Dilemmata. Schon oft ist kritisiert worden, dass Verteilungspolitik die Funktionsweise des Kapitalismus nicht außer Kraft setzt. Wenn die Steuerlast von Löhnen auf Unternehmensgewinne umgeschichtet werden soll, ist der Staat auf profitable Unternehmen angewiesen. Daraus ergibt sich das Dilemma linker Standortpolitik: Vor Ort will man blühende Unternehmen, global den Kapitalismus überwinden. Dieses Problem hat die Sozialdemokratie dahin gebracht, wo sie heutzutage ist. Bereits 1981 beugte sich Kanzler Helmut Schmidt einer Unternehmerkampagne über die »Grenzen des Sozialstaats«. Er setzte per Sparhaushalt Austerität durch, während seine Partei noch über Wirtschaftsdemokratie diskutierte. Ebenso verfuhr der rot-rote Berliner Senat von 2002 bis 2011. Selbst ein gestandener Sozialist wie Gregor Gysi, damals kurzzeitig Wirtschaftssenator, konnte sich den Zwängen nicht entziehen.

Das Kapital selbst umverteilen

Um alte Fehler nicht zu wiederholen, braucht die Linke eine Wirtschaftspolitik, die an ihre sozialistische DNA anknüpft. Sie darf Umverteilung nicht aufgeben, denn diese nützt den Arbeitenden schnell und konkret. Doch braucht es darüber hinaus eine Perspektive für den ökonomischen Systemwechsel. Sie darf nicht akademisch bleiben, sie muss laut sein und durchdringen. Eine Blaupause dafür liefert die Mietenbewegung. Sie hat linkssozialistische Forderungen aus den 1920er Jahren abgestaubt und wieder politikfähig gemacht. Etwa die Erneuerung der »Hauszinssteuer« – jene 1924 eingeführte Steuer auf Mieteinnahmen, die den öffentlichen Wohnungsbau von Architekten wie Bruno Taut ermöglichte. Die Mietenbewegung verlangte öffentliche Gelder nur für kommunale Wohnungen und durchbrach damit die Logik von Bauen als Konjunkturförderung, bei der der Staat bestenfalls soziale Preisbindungen für einige Jahre erkaufte. Zwischen 2016 und 2021 reaktivierte die Mietenbewegung schließlich Forderungen nach Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft, verlangte eine Überführung von Wohnungen privater Wohnkonzerne in öffentliches Eigentum. Umverteilt würden damit nicht Gewinne – sondern das Kapital selbst. Damit ging die Mietenbewegung über Bewegungen für Rekommunalisierung hinaus, die den antineoliberalen Protestzyklus der 2000er Jahre geprägt hatten. Gleichzeitig griff sie globale Finanzakteure direkt an. Die Mietenbewegung bemühte gegen die Zwänge der Globalisierung nicht den nationalen Wohlfahrtsstaat – ein Dilemma, das nicht nur Wagenknechts Linkskonservatismus, sondern auch humanere Konzepte wie das Grundeinkommen plagt.

Bewegungen für Vergesellschaftung

Im Volksentscheid der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« stimmte 2021 in Berlin eine Mehrheit für die Vergesellschaftung großer privater Wohnungsunternehmen. Die Vergesellschaftungsforderung wurde bisher nicht umgesetzt – und zeigt doch Wirkung. Das Gespenst der Enteignung führte zur Rekommunalisierung mehrerer zehntausend Wohnungen in Berlin und erzeugte jenen Druck, der die Einführung des Mietendeckels 2020 möglich machte.

Nach dem Berliner Volksentscheid gab es Anläufe einer breiteren Bewegung für Vergesellschaftung. Im Jahr 2021 gründete sich die Initiative »Hamburg enteignet«, die einen ähnlichen Volksentscheid für die Hansestadt anstieß. Nach der ersten Unterschriftensammlung im März 2023 liegt das Vorhaben nun vor Gericht, die Bewegung ist ausgebremst. Im Energiesektor gründete sich die Kampagne »RWE & Co enteignen«, die einen der größten deutschen Stromkonzerne in Gemeineigentum überführen will, um ihn von der Braunkohle loszueisen. Eine Vergesellschaftungskonferenz in Berlin wurde 2022 zum Diskussionsforum für Klima- und Mietenbewegung, es gab mehrere Fortsetzungen. Auch im Gesundheitssektor gab es Kämpfe für Gemeinwirtschaft: Rund 18 000 Menschen forderten 2021 in einer Petition an den hessischen Landtag die Vergesellschaftung der Universitätskliniken Gießen und Marburg. Im selben Jahr sammelten Mitglieder der Berliner Krankenhausbewegung Unterschriften für »Deutsche Wohnen & Co enteignen«.

Bleibt die parlamentarische Linke bei Verteilungspolitik stehen, wird sie sich im Gewirr marktwirt­schaft­licher Sachzwänge verheddern.

Wohnen, Energie und Gesundheit sind Sektoren, in denen sich Keime einer Vergesellschaftungsbewegung herausbildeten. Es geht um Bereiche, die nicht wegglobalisiert werden können. Anders als in der klassischen Arbeiterbewegung stehen meist die Nutzerinnen und Nutzer auf für Gemeineigentum – nur die Krankenhausbewegung wird von den Beschäftigten getragen. Obwohl Vergesellschaftung bisher eher eine Bewegung der Konsumierenden ist, liegt ihr Fokus auf dem Eigentum an Produktionsmitteln.

Dies hat besonders in der Klimabewegung eine konsumistische Perspektive korrigiert. Grüne Klimapolitik bedeutete bisher höhere Preise: Die Erneuerbare-Energien-Umlage erhöhte den Strompreis, die energetische Modernisierung die Miete, der CO2-Preis ist ein Joker, der alle Warengruppen verteuern wird. Erst spät kam die Forderung auf, dies mit einem Klimageld zu korrigieren. Vergesellschaftung kann diese Schieflage richten, die Treibstoff für rechte Hetze ist. Sie verteilt Gewinne nicht erst um, wenn diese in der Bilanz eines Unternehmens oder auf dem Konto der Aktionäre auftauchen – sondern richtet die Arbeit der Beschäftigten direkt auf einen sozialen Zweck aus.

Damit geht sie zwei weitere Probleme an, die die Linke nie so recht gemeistert hat: die Demokratisierung der Produktion und ihre Planung. Der Klimakollaps zeigt, wohin ungeplante, von oligarchischen Klüngeln kontrollierte Produktion führt. Dennoch ist es weiterhin »common sense«, dass das Problem mit dem Klima in unreguliertem Konsum liegt und durch Marktmechanismen wie CO2-Märkte gelöst werden könnte.

Die keimende Vergesellschaftungsbewegung ist jedoch ins Stocken geraten, weil ihr Druckmittel fehlen. Im Gesundheitsbereich steht den Beschäftigten vor allem der Streik als Druckmittel zur Verfügung. Sie konzentrieren sich bislang jedoch auf tariffähige Forderungen wie Entlastungstarifverträge, teils auch Rekommunalisierung. Vergesellschaftung ist präsent, aber randständig. Gewerkschaften unterstützten Vergesellschaftung, doch entwickelten sie noch keine eigene Praxis dazu. Selbst fortschrittliche, für Vergesellschaftung offene Kräfte in den Gewerkschaften sind vollends beschäftigt mit Abwehrkämpfen gegen Unternehmeroffensiven und staatliche Austerität.

Auch in der Klimabewegung ist Vergesellschaftung bisher eher Diskurs als Praxis, weil es nicht gelang, einen Volksentscheid ähnlich wie beim Wohnen zuzuschneiden oder anderweitig Druck aufzubauen. Selbst der Berliner Vergesellschaftungs-Volksentscheid konnte bislang ignoriert werden, weil hinter ihm eine Bevölkerungsmehrheit, aber bisher keine parlamentarische Mehrheit steht. Will die Vergesellschaftungsbewegung an Fahrt gewinnen, muss sie sich auf die Machtfrage konzentrieren. Dabei ist sie mehr denn je auf Unterstützung aus den Parlamenten angewiesen.

Dies bringt Chancen für die Linke, aber auch Risiken. Die Linke kann auf absehbare Zeit nur in Koalitionen regieren. Und auch deren Politik wird durch Gerichte zurechtgestutzt, wie beim 2021 gekippten Berliner Mietendeckel. Dennoch muss eine parlamentarische Linke die Eigentumsfrage nicht nur stellen, sondern beantworten. Bleibt sie bei Verteilungspolitik stehen, wird sie sich im Gewirr marktwirtschaftlicher Sachzwänge verheddern. Eine denkbare Strategie gegen den Markt wären Konzepte der schrittweisen Sozialisierung: Rekommunalisierungen im Verein mit Regulierungen, die Wohnen, Gesundheit und Wasserversorgung für Investoren unattraktiv machen. Auf dem Wohnungsmarkt könnte das von Linken und Grünen in Berlin diskutierte »Sicher-Wohnen-Gesetz« so eine Rolle spielen. Es würde das Vermieten regeln – und Eigentümer unter anderem verpflichten, ein Drittel ihrer Bestände zu leistbaren Mieten an Haushalte mit Wohnberechtigungsschein zu vermieten. Dies nützt den Mietenden, würde die Immobilienpreise senken und Rekommunalisierung erleichtern – und die Entschädigung im Vergesellschaftungsfall senken. Kann es gelingen, Umverteilung zu ergänzen? Etwa durch eine Kombination aus Polemik gegen den Markt, Regulierungsvorschlägen und Perspektiven für Sozialisierung? Dies würde ein Dilemma der Linken lösen – und vielleicht den stotternden Motor der Vergesellschaftungsbewegung neu starten.

Ralf Hoffrogge ist Historiker und aktiv in der Berliner Mietenbewegung. Im September erscheint im Brumaire-Verlag sein Buch »Das laute Berlin – Deutsche Wohnen & Co enteignen und die Wiederkehr der Vergesellschaftung«.

Erstveröffentlicht im nd v. 25.7. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192857.sozialisierungs-konzepte-gegen-den-markt.html?sstr=Hoffrogge

Wir danken für das Publikationsrecht.

Ein Richterstuhl als Schlachtfeld

Wir sollten uns keinen Illusionen hingeben: die Justiz der BRD ist noch nie ein Bollwerk gegen Rechts gewesen und wird es von ihrem Wesen her auch nie sein. Aber es geht deutlich schlimmer als „schlimm“. Das beschreibt Sascha Schlenzig treffend in dem folgenden Beitrag und ruft vollkommen richtig zur breiten gesellschaftlichen Offensive gegen die immer weitere Verschiebung nach Rechts auf. Die Sozialdemokratie, stark „in die Logik der institutionellen Mitte eingepasst“, reagiert defensiv. Wer das Spiel der neoliberalen Politik spielt und die militaristische Zeitenwende ausruft, hat gegen Rechts eben nicht mehr viel zu melden. Die Verhinderung des rechten Vormarschs geht nur, wenn mit der aktuell vorherrschenden Politik gebrochen wird. (Peter Vlatten)

Wie Spahn rechte Hegemonie testet – und die SPD zwischen Verteidigung und Selbstaufgabe zögert

Von Sascha Schlenzig, 13.Juli 2025

Die Besetzung eines Sitzes im Bundesverfassungsgericht ist zur Machtdemonstration geworden – und zur Probe für eine neue autoritäre Konstellation in der Bundesrepublik. Während Jens Spahn in bester Orbán-Manier mit Moralisierung, medialer Vorverurteilung und kalkulierter Eskalation arbeitet, zögert die SPD – und liefert damit unfreiwillig das Drehbuch für den nächsten Angriff auf unabhängige Institutionen.

Die Wahl der renommierten Juristin Frauke Brosius-Gersdorf wurde auf unbestimmte Zeit verschoben, ihr Name durch die Debatte beschädigt. Die Union laviert, die SPD verteidigt, aber ohne strategischen Kompass. Was hier verhandelt wird, ist mehr als ein Personalstreit: Es geht um die Frage, ob das höchste deutsche Gericht politisch domestiziert werden kann – und ob eine Partei wie die SPD noch versteht, was hier auf dem Spiel steht.

Das Spahn-Schema: Rechter Kulturkampf durch Institutionen

Spahn hat nicht argumentiert, er hat attackiert. Nicht die juristische Qualifikation der Kandidatin stand zur Debatte, sondern moralische Andeutungen: Plagiatsvorwürfe, politische Nähe zu Grünen und Linken, Kritik am Selbstbestimmungsgesetz. Die Strategie ist durchsichtig – und brandgefährlich. Was in den USA längst zum Standardrepertoire rechter Akteure gehört, kommt nun im Gewand deutscher Koalitionslogik daher: Diskreditierung durch Skandalisierung, Zermürbung durch mediale Überinszenierung, Blockade durch Nebelkerzen.

Es ist ein Lehrstück: Wer die symbolischen Schlüsselstellen besetzen kann – Universitäten, Justiz, Medien – kann politische Hegemonie verschieben, ohne einen Wahlsieg. Antonio Gramsci hätte es nicht besser beschreiben können.

Die SPD – Verteidigerin ohne Stimme?

Die SPD hat sich diesmal gewehrt. Sie will an ihrer Kandidatin festhalten, und das ist mehr als bloßer Koalitionsgehorsam. Doch die Art ihrer Verteidigung bleibt schwach. Kein offensiver Einsatz für juristische Unabhängigkeit, keine breite gesellschaftliche Mobilisierung, keine Koalition mit progressiven Kräften – nur ein verwalteter Konflikt. Die SPD reagiert, wo sie führen müsste.

Das Problem ist tiefer: Die Sozialdemokratie hat sich so stark in die Logik der institutionellen Mitte eingepasst, dass sie in Momenten der Polarisierung keine Sprache mehr hat. Sie verteidigt, was längst verloren geht – anstatt selbst zu attackieren. Damit bleibt sie im Machtspiel nur Staffage: legitimierend, aber nicht gestalterisch.

Der Richter:innenstuhl als Testfeld für rechte Macht

Die Idee, die Besetzung des Verfassungsgerichts zu politisieren, ist nicht neu. Doch was sich jetzt zeigt, ist ein Tabubruch: Die CDU nutzt ihre Vetomacht nicht zur Prüfung der Eignung, sondern zur Durchsetzung ideologischer Positionen. Dass das Gericht in Zukunft auch über die Legitimität der Ampelpolitik urteilen wird – etwa zum Selbstbestimmungsgesetz – ist kein Zufall. Die Besetzung ist ein Hegemoniekampf. Und der Konservatismus spielt auf Zeit – mit dem Ziel, das politische Klima weiter nach rechts zu verschieben.

Das wahre Problem: Keine Gegenmacht in Sicht

Während rechte Akteure strategisch agieren, fehlt auf der anderen Seite eine politische Gegenmacht. Die SPD ist institutionell eingebunden und taktisch gelähmt. Und progressive Bewegungen? Sie beobachten – aber intervenieren nicht.

Dabei wäre genau jetzt der Moment, um zivilgesellschaftliche Allianzen zu schmieden: für eine demokratische Justiz, für antifaschistische Rechtspolitik, für soziale Verteidigung gegen autoritäre Verschiebungen. Denn diese Wahl war kein Einzelfall. Sie war ein Vorbote.

Was jetzt zählt: Rechte Strategien benennen – und öffentlich zurückdrängen

Was wir brauchen, ist nicht nur die Wahl einer progressiven Juristin – sondern eine demokratische Erzählung, warum das wichtig ist. Wir müssen benennen, was hier geschieht:

  • ein Angriff auf den Rechtsstaat durch die Hintertür,
  • ein Kulturkampf von rechts,
  • und eine SPD, die sich entscheiden muss: Reine Verteidigung – oder offensive Hegemoniearbeit.

Die Justiz ist nicht neutral. Sie ist ein Terrain politischer Kämpfe – und sie wird entweder zum Bollwerk gegen autoritäre Transformation oder zu deren Werkzeug. Wer sich nicht wehrt, hilft mit.

Schlussfolgerung: Der Kampf beginnt nicht im Gericht, sondern in der Gesellschaft

Wenn eine progressive Nominierung durch rechte Kulturkampfstrategien verhindert werden kann, ist es an der Zeit, die Debatte zu drehen: Weg vom Koalitionsgezänk – hin zu einer öffentlichen Auseinandersetzung über Demokratie, Gerechtigkeit und Autoritarismus.

Nicht die Union muss blockieren dürfen – sondern die Gesellschaft muss schützen lernen. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht sakrosankt – aber es ist ein Symbol. Und wer es kampflos dem rechten Kalkül überlässt, hat den Ernst der Lage nicht erkannt.

Der Beitrag von Sascha Schlenzig ist am 13.Juli 2025 zuerst erschienen in Kritik & Praxis – Verstehen. Hinterfragen. Verändern. Wir danken für das Publikationsrecht.

Siehe auch aktuell zum Thema: Berufsverbote gegen AFD Mitglieder im Staatsdienst? Oder trifft es am Ende wieder ganz andere? 

Titelbild:Collage Kritik & Praxis

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