Es gibt schon lange Appelle und eine lange Liste, was jeder tun kann und sollte, angesichts dessen, was sich vor unseren Augen in Palästina ereignet. Der Beitrag von Rana Issazadeh ist aktueller denn je! Das Datum der Quellen zeigt: wer beansprucht Politik generell gegen Unterdrückung zu machen, hätte schon lange energisch seine Stimme erheben und handeln können und müssen! Endlich nach zwei Jahren Massaker haben sich jetzt auch Teile des Vorstands der Linken – nach einem großen Teil der Mitgliedschaft – dazu durchgerungen, sich den Protesten gegen den Genozid in Gaza anzuschliessen! Die Massendemonstrationen in Berlin auf Düsseldorf letztes Wochenende machen ein klein wenig Mut. Wir berichteten! Aber es kann nur ein Auftakt sein, damit sich tatsächlich etwas ändert. Der Protest am Samstag darf keine Eintagsfliege bleiben. (Peter Vlatten)
Rana Issazadeh,23. Mai 2025
Die Lage der Menschen in Gaza ist schon seit langer Zeit eine Hölle. Mir fällt kein besseres Wort ein. Hölle, durch Menschen verursacht. Keine Naturkatastrophe, keine humanitäre Krise, die vom Himmel gefallen ist. Von den mächtigsten Staaten der Welt, auch von unserer Regierung verursacht. Was sich geändert hat, ist, dass sich die absolute Realitätsverweigerung in Deutschland zugunsten einer relativen Realitätsverweigerung verschoben hat.
Dass Israel Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie einen Genozid gegen die palästinensische Bevölkerung Gazas begeht, ist in der internationalen Fachwelt bereits seit geraumer Zeit Konsens. Demgegenüber steht, dass das Wort Genozid in deutschen Medien – wenn überhaupt – nur mit den berühmten Anführungszeichen zu lesen ist.
Dass die deutsche Regierung diese Verbrechen seit nunmehr 19 Monaten aktiv unterstützt, ist aus rechtlicher Sicht ein Verbrechen. Dass Menschen wie ich, die seit 19 Monaten fordern, die deutsche Regierung solle sich an Recht und Gesetz halten, derart diffamiert und kriminalisiert werden, hat auch mit Rassismus zu tun.
Ich habe 2001 als Studentin mit meiner politischen Arbeit zu Palästina begonnen. Seitdem werde ich persönlich angegriffen. Seit über 20 Jahren, von Menschen, die ich nicht einmal kenne, die mich aber kennen. Von Menschen mit Rang und Machtposition in diesem Land. Von Menschen, die denken, ich ließe mich einschüchtern. Ich möchte diesen Menschen heute sagen: Nicht einmal als Studentin habe ich mich einschüchtern lassen, heute bin ich doppelt so alt, bin Juristin, bin sehr gut vernetzt. Ich bekomme alles mit, mir sind sämtliche Namen bekannt. Ihr habt Euch definitiv die falsche Person ausgesucht. Zur adäquaten Zeit werde ich sowohl juristisch als auch politisch reagieren. Selbstverständlich werde ich die Dinge auch öffentlich machen. Alles zur gegebenen Zeit.
Diese Angriffe auf mich persönlich als auch auf die politischen Organisationen, in denen ich aktiv bin, haben mir in den vergangenen Monaten sehr viel Energie und Zeit geraubt. Auch das möchte ich hier ganz klar sagen. Zeit und Energie, die mir an anderer Stelle gefehlt haben.
Allerdings ordne ich diese Angriffe als Teil größerer politischer Zusammenhänge ein: Weltweit werden Menschen und politische Organisationen angegriffen, eingeschüchtert, mundtot gemacht.
Dass Deutschland im Jahr 2025 in Bezug auf die internationale Anti-Genozid-Bewegung der repressivste Staat der Welt ist, bestätigte auch Francesca Albanese, eine italienische Juristin, eine Expertin im internationalen Recht und seit 2022 UN-Sonderberichterstatterin zur Menschenrechtssituation in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten. Als ich ihr bei einer Konferenz im letzten Jahr von meinen strafrechtlichen Fällen mit Palästina Bezug berichtete, war sie schlichtweg schockiert.
Die staatliche Repression hätte nicht in dieser Dimension stattfinden können, wenn die deutsche Zivilgesellschaft uns nicht im Stich gelassen hätte.
Die Illusion, der deutsche Staat achte Menschenrechte, hatte ich seit meiner Kindheit/frühesten Jugend nicht mehr. Als gebürtige Iranerin, als Mensch aus dem globalen Süden, das als kleines Kind im Alter von 4 Jahren das Heimatland verlassen musste, das multiple Traumata erlitten hat, wurde ich sehr früh politisiert. Denn ich hab mir selbst und meinen Eltern als Kind schon die Frage gestellt, warum ich in Deutschland, in einem fremden Land, lebe. Die Antworten auf diese Frage führten dazu, dass ich bereits im zarten Alter von 12, 13 Jahren eine dezidiert antikapitalistische, antikoloniale und antiimperialistische Haltung hatte. Und eben keinerlei Illusionen, was den imperialistischen Charakter der Bundesrepublik Deutschland anbetrifft.
Illusionen hatte ich allerdings sehr wohl, was die deutsche Gesellschaft anbetrifft: Bis Oktober 2023 war ich der Überzeugung, dass eine Mehrheit in diesem Land eine Lektion aus ihrer kolonialen und genozidalen Geschichte gelernt habe. Wie sehr ich mich getäuscht hatte! Dass in weiten Teilen der Gesellschaft ein tief sitzendes kolonialrassistisches Weltbild verwurzelt war, musste ich in den vergangenen 19 Monaten lernen und verarbeiten. Wie sonst ließe sich erklären, dass sich eine überwiegende Mehrheit hierzulande nicht betroffen fühlt, wenn ihre eigene Regierung einen Genozid aktiv unterstützt? Wenn braune Babys mit deutschen Waffen und deutschem Geld in einer Rekordzahl ermordet werden und es nicht zu Protesten kommt? Nicht nur, dass kein Protest zu vernehmen ist – wir, palästinasolidarische und antigenozidale Stimmen, wurden kriminalisiert, von deutschen Polizist:innen wöchentlich verprügelt, diffamiert, wir haben unsere Jobs verloren, unsere Aufträge – und es kam von der deutschen Zivilgesellschaft nichts, keine Solidarität. Deutsche Medien haben täglich gehörige Portionen an rassistischer, dehumanisierender Hetze und Verleumdungen in die Welt gesetzt, ohne dass es irgendeinen Aufschrei in der Zivilgesellschaft gegeben hätte.
Ich möchte Amnesty International Deutschland und Medico International als positive Ausnahmen nennen. Aber es war und ist viel zu wenig. Es sind vorwiegend migrantisierte Menschen und Communities, jüdische Menschen, Menschen mit internationaler Geschichte, die seit 19 Monaten an vorderster Front kämpfen. An vorderster Front hätten allerdings weiße Deutsche kämpfen müssen oder sich zumindest solidarisieren müssen.
Der enorme Vertrauensverlust gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist aus meiner Sicht irreparabel. Das möchte ich betonen. Die rassistische Dehumanisierung unserer palästinensischen Geschwister durch die mediale und politische Elite dieses Landes, die von der Mehrheit der hiesigen Gesellschaft nicht einmal hinterfragt wurde, war ein Angriff auf uns alle. Die Botschaft ist bei uns angekommen. Wir sind nicht nur kein Teil dieser Gesellschaft – so die klare Botschaft. Nicht einmal wenn wir Deutsche sind, perfekt deutsch sprechen – besser als die meisten weißen Deutschen – die deutsche Geschichte, deutsche Literatur besser kennen als die meisten weißen Deutschen, auch dann sind wir kein Teil der hiesigen Gesellschaft, ja, uns droht sogar der Verlust unserer Staatsbürgerschaft. Wir werden nicht einmal in unserem Menschsein anerkannt. Wir haben alle Illusionen und jegliches Vertrauen verloren. Und dennoch: Wir sind offen für jede aufrichtige Person, die zur Selbstreflexion bereit ist. Im Übrigen weiß ich aus zahllosen Gesprächen, dass viele migrantisierte Menschen derart schockiert und enttäuscht sind, dass sie sich von der Mehrheitsgesellschaft vollkommen abwenden, also auch nicht mehr in den Dialog gehen.
Jahrzehntelang hat die mediale und politische Elite dieses Landes gegen Migrant:innen und migrantisierte Menschen und Communities gehetzt und uns insbesondere fehlendes Demoktratieverständnis vorgeworfen. Als Juristin möchte ich fragen: Wer hat hier seit 19 Monaten fehlendes Demoktratieverständnis unter Beweis gestellt? Die überwiegend aus migrantisierten Menschen bestehende Palästinabewegung, die den deutschen Staat auffordert, sich an das internationale und an das deutsche Recht zu halten? Diejenigen, die deutschen Mitbürger:innen versuchen zu erklären, was eine Demokratie bedeutet, nämlich dass dieser Genozid in ihrem Namen begangen wird, wenn sie nicht deutlich dagegen protestieren und wenn sie Parteien wählen, die diesen Genozid in Wort und/oder in Tat unterstützen? Was für eine Arroganz, was für ein Rassismus!
In den vergangenen 19 Monaten habe ich versucht, Menschen durch meine bescheidene Reichweite hier auf FB auf sachlicher Ebene zu erreichen, indem ich die juristische und historische Perspektive erläuterte. Ich habe versucht, Menschen auf emotionaler Ebene zu erreichen, indem ich an ihre Moral, ihre Empathie, ihr Bewusstsein für Recht und Unrecht appellierte. An ihr Demokratieverständnis. An ihrer Ehre. Natürlich habe ich viele Menschen erreicht, auf Social Media und in real life. Aber: Es reicht nicht Leute, die Menschen in Gaza werden vernichtet. Mit Eurer Unterstützung. Es muss sehr viel mehr Protest geben. Schaut Euch die Holländer:innen an und all die anderen europäischen Länder, die ihre Regierung bewegt haben, eine andere Position zu beziehen.
Ich werde oft gefragt, was können wir tun, um zu unterstützen?
Das Wichtigste ist, dass Ihr nicht im Stillen „dagegen“ seid, sondern Euren Protest artikuliert. Auf den Straßen, in Social Media, durch Emails an die politisch Verantwortlichen. Dass Ihr Euch mit denjenigen, die angegriffen werden, solidarisiert. Ebenfalls so, dass es nach außen erkennbar wird. In Form von Leserbriefen, Emails, Teilnahme an Demos. Und ganz wichtig: Kämpft nicht alleine. Organisiert Euch! Ich werde oft angeschrieben von Leuten, die aktiv werden möchten, aber die lokalen Gruppen nicht kennen. Schreibt mir, ich werde Euch connecten. Denn alleine zu kämpfen, wird euch zermürben. Nur gemeinsam sind wir stark! Viele fragen mich, wohin sie spenden können: Beispielsweise an Save the Children. Viele fragen mich, ob sie meine ehrenamtliche Arbeit unterstützen können, ab jetzt könnt ihr das auch. Seit anderthalb Jahren habe ich strafrechtliche und migrationsrechtliche Mandate auf ehrenamtlicher Basis, teilweise bezahle ich die Kosten aus eigener Tasche, langsam komme ich tatsächlich an meine gesundheitlichen wie finanziellen Grenzen. Ich bereite gerade auch das juristische Videoprojekt vor, das schon im letzten Jahr starten sollte. Durch den extrem kräftezehrenden Rechtsstreit mit meinem damaligen Arbeitgeber ist es leider zu einer enormen zeitlichen Verzögerung gekommen. Auch dazu werde ich mich zu gegebener Zeit äußern. Ihr könnt die Menschen in Gaza unterstützen, indem Ihr ein Profilbild mit Kufiya und einem Palästina Logo erstellt. Viele Menschen aus meinem Umfeld wechseln ihre Ärzt:innen, Anwält:innen, Lebensmittelhändler:innen etc, damit sie gezielt die Community unterstützen. Ihr könnt Emails an Eure Bundestagsabgeordneten, an Medien, an das Auswärtige Amt, an Institutionen schicken. Ich werde in den kommenden Tagen verstärkt Emails verfassen, die man übernehmen kann, mit dem eigenen Namen versehen. Die nächsten Adressaten, denen ich die Ehre zuteil werden lasse, Post von mir/uns zu erhalten, sind die Amadeu Antonio Stiftung sowie die deutsche Bildungsministerin.
Es gibt sehr viele Möglichkeiten, sich aktiv einzubringen! Nur: Schweigt bitte nicht mehr!
Und vor allem: Bitte bildet Euch weiter! Lernt über Palästina! Sprecht über Palästina im privaten, politischen und beruflichen Umfeld! Ihr könnt mich auch anschreiben bzgl. Lektüreempfehlungen.
Der Kampf für die Beendigung des israelisch-westlichen Genozids, für die Beendigung der illegalen israelischen Besatzung und Apartheid, für das Recht auf Selbstbestimmung der Palästinenser:innen ist heute der wichtigste Kampf gegen Rassismus in Deutschland und weltweit der wichtigste Kampf gegen westlichen Kolonialismus und Imperialismus! Wie der jüdisch-israelische Historiker Ilan Pappe zutreffend analysiert, worin sich der antikoloniale Kampf der Palästinenser:innen von anderen unterscheidet: Die Menschen aus Algerien oder Indien kämpften gegen einen imperialistischen Staat – Frankreich bzw. Großbritannien – während die Palästinenser:innen seit Jahrzehnten gegen sämtliche westlichen Staaten kämpfen müssen. Die mächtigsten Staaten der Welt, mit den mächtigsten Armeen, mit mächtigen Rüstungsindustrien, mit einer mächtigen Propagandamaschinerie kämpfen gegen eine staatenlose, wehrlose Bevölkerung, die seit 77 Jahren von ihrem Land systematisch vertrieben, ihrem Land und ihrer Menschenwürde beraubt wird, systematisch entrechtet und im Westen rassistisch dehumanisiert wird. Lassen wir sie nicht im Stich. Sie haben unsere ganze Solidarität verdient.
Israeldiskurs in Deutschland: Die Drecksarbeit der liberalen Mitte | WOZ Die Wochenzeitung
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Titelfoto: Peter Vlatten