Feministischer Generalstreik


Titelbild: Protest vor dem Sitz der Provinzregierung beim femnistischen Generalstreik im Baskenland / Foto: Amalur Gaztanagai

Im Baskenland legen die Fabrikarbeiter für die Pflegekräfte die Arbeit nieder. Erstmals rufen die baskischen Gewerkschaften außerhalb des Frauenkampftags zum Generalstreik auf, um stellvertretend für die zu streiken, die selbst nicht streiken können oder dürfen.

Ralf Streck, San Sebastián

»Gora borroka feminista«, schallen Sprechchöre schon am frühen Donnerstagmorgen durch die Stadtteile des baskischen Seebads Donostia-San Sebastián. Dass an diesem 30. November viele den »Feministischen Generalstreik« hochleben lassen, wurde sofort beim Einschalten des Radios deutlich. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk EITB, der meistgehörte Sender hier, lief nur ein Notprogramm mit Musik und stündlichen Nachrichten. Auf den Straßen lassen sich derweil die Aktivist*innen auch vom starken Regen nicht davon abhalten, mit Regenschirmen bewaffnet durch Industriegebiete und Straßen in allen Städten und Dörfern zu ziehen, um für den Ausstand zu werben.

»Bei diesem Generalstreik müssen die Männer unterstützen, insbesondere in den am stärksten von Männern dominierten Bereichen, wie in großen Fabriken und Unternehmen«, hatte Maite Irazabal, Sprecherin der Frauenversammlung in Biskaya, im Vorfeld bei Mobilisierungen zum Generalstreik gefordert. Agustín Rodríguez hat sich diese Aufforderung zu eigen gemacht. Er ist mit Streikposten im Stadtteil Gros unterwegs. Vor seiner »Marruma Taberna« warten Kunden vergeblich, dass sich die Türen der Kneipe öffnen. Gegenüber »nd« erklärt er: »Ich streike, da das Pflegesystem vollständig umgekrempelt werden muss.« Es dürfe nicht sein, dass die Pflege in Krankenhäusern, Heimen und zu Hause vor allem von Frauen geleistet werde, daran müssten auch verstärkt Männer teilnehmen. Auch die Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen sich deutlich verbessern.

Wurde schon am Internationalen Frauenkampftag stark gestreikt, hatte sich die feministische Bewegung hier schon vor Jahren zum Ziel gesetzt, über den 8. März hinauszukommen. Das ist ihr, nach der Zäsur in der Corona-Pandemie, gelungen. »Wir haben mit der Idee eines feministischen Streiks die Gewerkschaften und soziale Organisationen durchdrungen«, erklärt Naia Torrealdai Mandaluniz, Sprecherin von »Bizitzak Erdigunean« (Das Leben im Zentrum). Die zähe Arbeit der Bewegung hat erste Erfolge gezeigt und Torrelaldai bewertet den Streik als »historischen« Vorgang.

Zum Streik haben neben Feministinnen auch Studenten- und Rentnervereinigungen, soziale Organisationen und alle baskischen Gewerkschaften aufgerufen. Die großen spanischen Gewerkschaften CCOO und UGT beteiligen sich, wie beim Streik für würdige Renten im Januar 2020 nicht, dafür die kleineren CGT und CNT. CCOO und UGT geben sich gerne progressiv, machen aber vor allem Klientelpolitik für eine meist noch relativ gut abgesicherte Arbeiterschaft.

Die Arbeitsbedingungen in den meist von Frauen ausgeübten Pflegeberufen sind oft prekär. Teilweise nehmen sie bisweilen extrem ausbeuterische Formen an – wie in der häuslichen Pflege. Die wird oft von illegalisierten Einwanderinnen geleistet. »Wir müssen praktisch alle Bedingungen akzeptieren«, erklärt Elisa Pereda zu endlosen Arbeitstagen und einer Sieben-Tage-Woche. »Wir sind denen hilflos ausgeliefert, die uns einen Arbeitsvertrag versprechen, die Grundlage für eine Aufenthaltsgenehmigung.« Um das zu beenden, fordern die Aktivist*innen die Aufhebung des Ausländergesetzes und die Legalisierung aller Pflegekräfte. Doch real wird das Streikrecht nicht nur Frauen wie Pereda verweigert, weshalb für sie heute stellvertretend viele Frauen und Männer auf der Straße sind, überraschend auch recht viele junge Männer. In einigen Sektoren war die Streikbeteiligung sehr hoch. Die baskische Regionalregierung spricht zum Beispiel von 40 Prozent im Bildungssektor, die Gewerkschaften sogar von 75 Prozent.

In Pflegeberufen ist ein Streik nur eingeschränkt möglich, da Kranke, Alte, Behinderte und Kinder sich nicht einfach selbst überlassen werden können. Das zeigt sich an den von der Regionalregierung verordneten »Minimaldiensten«. Sind es im Transportbereich 30 Prozent, sind es in Heimen schon 50 bis 60 Prozent und in einigen Bereichen sogar 100 Prozent, wo gar nicht gestreikt werden kann.

Gestreikt wird aber auch gegen die zunehmende Privatisierung, gegen die sich der Chef der größten Gewerkschaft im Baskenland wendet. Der ELA-Chef Mitxel Lakuntza kritisierte, dass pflegebedürftige Menschen immer stärker vernachlässigt würden, die Pflege werde oft von »privaten Unternehmen geleistet«, während sich die »Institutionen ihrer Verantwortung entziehen«. Das sieht auch Eider so, die vor dem Rathaus in Donostia die Privatisierungen durch die Stadtregierung hart kritisiert und mit ihren Kolleginnen für eine würdige Pflege in öffentlicher Hand eintritt. Sie ist von der »guten Mobilisierung« erfreut: »Es sind viele Leute gekommen«, erklärte sie dem »nd« und erwartete für den Nachmittag eine riesige Demonstration, wie in allen anderen baskischen Städten. Dass viele Kneipen und Geschäfte in San Sebastián, anders als bei anderen Generalstreiks, geöffnet sind, zeigt für den Wirt Rodríguez, dass noch ein langer Weg zu beschreiten ist. Er ist sich mit Eider darüber einig, dass der Streik ein »Startpunkt« ist und tiefer in die Gesellschaft vorgedrungen werden muss.

Zum Teil kam es aber auch zu Übergriffen auf Streikende durch die Polizei und es gab Festnahmen, wie am Sitz der Provinzregierung. Dort hatten sich fünf Frauen angekettet. Die Polizei prügelte sich durch die friedliche Menge zu den Frauen durch, die schließlich weggeschleift wurden. Die Sicherheitskräfte können Generalstreiks offenbar wenig abgewinnen, auch nicht feministischen.

Erstveröffentlicht im nd, v. 1.12.23
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178187.feminismus-baskenland-feministischer-generalstreik.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

International Transport Workers’ Federation (ITF) schließt sich UN nach Forderung für einen sofortigen Waffenstillstand an!

„We are the transport industry – 18.5 million workers strong.“

Immer wieder sind schon in der Vergangenheit Transportarbeiter, sei es in Italien, Griechenland, Spanien, Frankreich oder auch Niederlande dadurch aufgefallen, daß sie das Spiel der Kriegslogistik nicht mitspielen und die Kriegstüchtigkeit erheblich blockieren können. Nun nimmt der Widerstand international neue Fahrt auf.

Hier die Erklärung der ITF

„Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) begrüßt die Ankündigung eines mindestens viertägigen Waffenstillstands und eines Geiselabkommens, das die Freilassung von mindestens 50 Geiseln im Gazastreifen im Austausch gegen die Freilassung von 150 palästinensischen Frauen und Kindern vorsieht, die in israelischen Gefängnissen festgehalten werden.

Die humanitäre Pause, die längste Gewaltpause seit dem 7. Oktober, wird den dringend benötigten humanitären Zugang zum Gazastreifen ermöglichen, um lebenswichtige Güter wie Treibstoff, Lebensmittel, Wasser und medizinische Hilfsgüter zu liefern.

Die ITF schließt sich den Worten des UN-Generalsekretärs António Guterres an: „Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, aber es muss noch viel mehr getan werden.“

Angesichts von mehr als 30 Mandatsträgern von UN-Sonderverfahren, die vor der Gefahr eines Völkermords an den Palästinensern warnen, muss die Macht der Diplomatie Vorrang vor militärischer Gewalt haben.

Angesichts dieser beispiellosen Warnung bekräftigt die ITF ihre Forderung nach einem sofortigen, von den Vereinten Nationen durchgesetzten und garantierten Waffenstillstand, der Einrichtung humanitärer Korridore zur Verhinderung weiterer humanitärer Katastrophen und des Verlusts von Menschenleben in der Zivilbevölkerung sowie nach echten Bemühungen um einen nachhaltigen Frieden.

Die ITF bekräftigt auch ihre Forderung nach der sofortigen und bedingungslosen Freilassung aller anderen Zivilisten, die von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen im Gazastreifen als Geiseln gehalten werden, und fordert die israelischen Behörden auf, alle unrechtmäßig inhaftierten Palästinenser freizulassen, einschließlich derjenigen, die ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Verwaltungshaft gehalten werden.

Die ITF begrüßt die Zusage des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), seine laufenden Ermittlungen zur Lage in Palästina auf den gegenwärtigen Krieg auszuweiten. Die ITF appelliert an die internationale Gemeinschaft, mit dem IStGH zusammenzuarbeiten und ihre Verantwortung zur Verhinderung und Beendigung internationaler Verbrechen wahrzunehmen.

Die ITF bedauert die Zunahme antiarabischer, antimuslimischer und antisemitischer Angriffe in der ganzen Welt seit dem Beginn des Konflikts. Es gibt keine Entschuldigung für Rassismus oder irgendeine andere Form von Gewalt, Hass oder Fanatismus.

Wir stehen an der Seite von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern aus der ganzen Welt, die einen Waffenstillstand und einen dauerhaften Frieden in Palästina und Israel fordern, und untersuchen gemeinsam mit unseren Mitgliedsorganisationen in der Region, wie Gewerkschaften Solidarität mobilisieren und Maßnahmen ergreifen können, um weiteres Blutvergießen zu verhindern und Hilfsmaßnahmen und humanitäre Initiativen vor Ort wirksam zu unterstützen.“

Link zum Original: https://www.itfglobal.org/en/news/multi-day-humanitarian-pause-and-hostage-deal-must-lead-permanent-ceasefire

Israels Krieg gegen Krankenhäuser

Von Chris Hedges, Übersetzung und Beitrag aus Nachdenseiten 29.11.23

Der US Journalist Chris Hedges ist renommierter Kenner von Nahost. Er hat dort jahrelang gelebt und über 15 Jahre als Korrespondent für die New York Times berichtet. Er ist Träger des berühmten US Pulitzer Preises für herausragende journalistische Arbeit und Beiträge.

Nachdenseiten schreibt : “ Chris Hedges prangert an: Israel gehe es darum, den Gazastreifen unbewohnbar zu machen. Dazu zähle die Zerstörung aller Krankenhäuser dort. Israels Botschaft sei eindeutig: Es gibt keine Sicherheit. Wer im Gazastreifen bleibt, stirbt.“

Israels Krieg gegen Krankenhäuser
Von Chris Hedges

Israel greift Krankenhäuser in Gaza an, nicht weil sie „Kommandozentren der Hamas“ sind. Israel zerstört systematisch und absichtlich die Infrastruktur von Gaza im Rahmen eines Feldzuges der verbrannten Erde, um den Gazastreifen unbewohnbar zu machen und eine humanitäre Krise zu eskalieren. Israel beabsichtigt, 2,3 Millionen Palästinenser über die Grenze nach Ägypten zu zwingen, von wo sie niemals zurückkehren werden.

Israel hat das Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt zerstört und nahezu leergefegt. Als nächstes ist das Indonesische Krankenhaus in Beit Lahia dran. Israel setzt Panzer und gepanzerte Personentransportfahrzeuge rund um die Klinik ein, hat das Gebäude beschossen und dabei 12 Menschen getötet.

Das Drehbuch ist bekannt. Israel wirft Flyer über einem Krankenhaus ab. Darin werden die Menschen dazu aufgefordert, das Gebäude zu verlassen, weil das Krankenhaus eine Basis von „terroristischen Aktivitäten der Hamas“ sei. Panzer und Granaten reißen Teile der Klinikwände weg. Krankenwagen werden von israelischen Raketen in die Luft gesprengt. Strom und Wasser werden unterbrochen. Die Arzneimittelversorgung wird blockiert. Es gibt keine Schmerzmittel, keine Antibiotika und keinen Sauerstoff. Die besonders verletzlichen Menschen, Frühchen in Brutkästen und Schwerkranke, sterben. Israelische Soldaten räumen das Krankenhaus und zwingen alle Menschen mit vorgehaltener Waffe, das Gebäude zu verlassen.

So geschah es im Al-Shifa-Krankenhaus. So geschah es im Al-Rantisi-Kinderkrankenhaus. So geschah es in Gazas Hauptklinik für psychiatrische Erkrankungen. So geschah es im Nasser-Krankenhaus. Das Gleiche geschah in den anderen Kliniken, die Israel zerstört hat. Und das Gleiche wird in den wenigen Krankenhäusern geschehen, die noch übrig sind.

Israel hat 21 der 35 Kliniken in Gaza dichtgemacht, darunter das einzige dortige Krebskrankenhaus. Die Krankenhäuser, die noch in Betrieb sind, leiden unter gravierenden Engpässen an Medikamenten und anderem Material. Eine Klinik nach der anderen wird plattgemacht. Bald sind keine medizinischen Einrichtungen mehr übrig. Und das geschieht mit Absicht.

Zehntausende verängstigte Palästinenser, die von Israel aus ihren Häusern gebombt wurden, suchen Zuflucht vor der unablässigen Bombardierung, indem sie in den Kliniken und drumherum campieren. Sie hoffen, dass medizinische Einrichtungen verschont werden. Hielte sich Israel an die Genfer Konventionen, lägen sie damit richtig. Doch Israel führt keinen Krieg. Israel verübt einen Völkermord. Und bei einem Völkermord wird eine Bevölkerung und alles, was sie zum Leben braucht, ausgelöscht.

wir berichteten zum Thema:

  "Sprache des Völkermords - keine leeren Worte"

“Bad cops of Berlin”: Demokratiedefizite – Willkür gegen Jüd:innen – Rassismusprobleme"

Als unheilvolles Vorzeichen dafür, dass sich Israel, nachdem es den Gazastreifen plattgemacht hat, gegen die Palästinenser im Westjordanland wenden wird, haben gepanzerte Fahrzeuge dort mindestens vier Krankenhäuser umzingelt. Im Ibn-Sina-Krankenhaus sowie im Ost-Jerusalem-Krankenhaus führten israelische Soldaten eine Razzia durch.

Israels kolonialer Siedlerstaat wurde auf Lügen begründet. Er wird mithilfe von Lügen erhalten. Und nun, da er finster entschlossen ist, sein schlimmstes Gemetzel und die schlimmste ethnische Säuberung an den Palästinensern seit der Nakba oder „Katastrophe“ von 1948 durchzuführen, der 750.000 Palästinenser zum Opfer fielen und im Rahmen derer jüdische Milizen um die 50 Massaker verübten, lässt es eine groteske Absurdität nach der anderen vom Stapel.

Israel spricht von den Palästinensern wie von einer entmenschlichten Masse. Es gibt keine Mütter, Väter, Kinder, Lehrer, Ärzte, Anwälte, Köche, Dichter, Taxifahrer oder Ladenbesitzer. Im israelischen Wörterbuch sind Palästinenser eine einzige Ansteckungsgefahr, die ausgerottet werden muss. Sehen Sie sich dieses Video von israelischen Schulkindern an, die singen: „Wir werden jeden auslöschen“ im Gazastreifen.

Die Hitlerjugend pflegte solche Lieder über Juden zu singen.

Jene, die sich anschicken, Massentötungen zu begehen, lügen, um ihre eigene Bevölkerung nicht zu demoralisieren, wiegen die Opfer in dem Glauben, dass sie nicht alle vernichtet werden, und verhindern, dass Kräfte von außen eingreifen.

Die Nazis behaupteten, dass die Juden in den Zügen Richtung Vernichtungslager ein Arbeitskommando wären und medizinisch gut versorgt und angemessen verpflegt würden. Die Schwachen und Älteren würden in Ruhezentren versorgt. Die Nazis schufen sogar ein Schau-Lager für die „Umsiedelung“ von Juden in den Osten – Theresienstadt –, an dem internationale Organisationen wie das Rote Kreuz sehen konnten, wie human man die Juden behandelte, während Millionen vernichtet wurden.

Mindestens 664.000, möglicherweise sogar 1,2 Millionen Armenier wurden massakriert oder starben aufgrund von Unterkühlung, Krankheiten und Hunger während des Genozids, den das Osmanische Reich zwischen Frühjahr 1915 und Herbst 1916 verübte. Der Völkermord an den Armeniern war genauso öffentlich wie der Völkermord in Gaza. Europäische und US-Außenvertretungen lieferten detailreiche Berichte über die Kampagne zur Säuberung der modernen Türkei von den Armeniern.

Die osmanische Regierung, im Bemühen, den Genozid zu verbergen, verbot Ausländern, Fotos von armenischen Flüchtlingen oder den Leichen an den Straßenrändern zu machen. Auch Israel hat die ausländische Presse vom Gazastreifen verbannt und gewährt lediglich eine Handvoll kurzer und sorgfältig vom israelischen Militär arrangierte Besuche. Israel unterbricht regelmäßig die Internet- und Telefonverbindungen. Israel hat mindestens 43 (ihre Zahl erhöht sich täglich; Anmerkung der Übersetzerin) palästinensische Journalisten und Medienschaffende seit dem Eindringen der Hamas in Israel am 7. Oktober getötet, viele von ihnen wurden zweifellos von israelischen Streitkräften ins Visier genommen.

Die Armenier wurden, wie die Palästinenser, aus ihren Häusern vertrieben, niedergeschossen, ihnen wurde Essen und Trinken verwehrt. Armenische Deportierte wurden auf Todesmärsche in die syrische Wüste geschickt, wo Zehntausende von ihnen erschossen wurden oder an Hunger, Cholera, Malaria, Ruhr und Influenza starben. Israel zwingt 1,1 Millionen Palästinenser in den Südzipfel des Gazastreifens und bombardiert sie auf der Flucht. Auch diesen Flüchtlingen mangelt es an Lebensmitteln, Wasser, Treibstoff und sanitärer Versorgung. Auch sie werden bald an Epidemien und Infektionskrankheiten sterben.

Talat Pasha, der De-facto-Anführer des Osmanischen Reichs, teilte dem US-Botschafter Henry Morgenthau sen. am 2. August 1915 mit – in Worten, die sich auch in Israels Haltung wiederfinden –, „dass unsere Armenienpolitik absolut festgelegt ist und dass nichts sie verändern kann. Wir werden die Armenier nirgends in Anatolien dulden. Sie können in der Wüste leben, aber nirgends anders“.

Je länger der Genozid währt, desto absurder werden die Lügen.

Es gibt große israelische Lügen. Die Zerstörung von Gaza und mutwillige Tötung tausender Palästinenser, so beharrt Israel, sei ein gezielter Versuch, die Hamas loszuwerden und kein Feldzug mit dem Ziel, den Gazastreifen dem Erdboden gleichzumachen, Massenmord und ethnische Säuberung an den Palästinensern auszuüben.

Es gibt kleine israelische Lügen. 40 geköpfte Babys. Das Al-Shifa-Krankenhaus als „Hamas Kommandozentrale“. Ein arabischer Kalender an der Wand einer Klinik, der laut einem Sprecher der israelischen Streitkräfte, Konteradmiral Daniel Hagari, „ein Wachtschichtplan sei, in den sich jeder Terrorist eintrage, und jeder Terrorist eine eigene Schicht habe, in der er die Menschen, die hier waren, überwache“.

Eine israelische Schauspielerin, die sich als Krankenschwester verkleidet hatte und mit starkem Akzent sprach, behauptet, eine palästinensische Ärztin zu sein und gesehen zu haben, wie die Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt habe. Mitglieder der Hamas hätten „das Al-Shifa-Krankenhaus angegriffen“ und „Treibstoff und Medikamente“ gestohlen. Palästinensische Kämpfer, sagt Israel, seien für den Beschuss des Al-Shifa-Krankenhauses verantwortlich.

Israel traf ein Auto voller „Terroristen“ im Südlibanon, die sich als drei Mädchen, ihre Mutter und Großmutter entpuppten. Die Explosion beim Al-Ahli-Krankenhaus war das Ergebnis einer fehlgeleiteten Rakete, die Palästinenser abgefeuert hätten, eine Behauptung, welche die New York Times infrage stellte. Sie zweifelte das Video auf der Grundlage seines Zeitstempels an.

Israel sagte, man „reagiere auf die Anfrage des Direktors des Shifa-Krankenhauses, Zivilisten aus Gaza, die im Krankenhaus Zuflucht gesucht hatten und die von dort evakuiert werden wollten, über eine sichere Achse zum humanitären Grenzübergang zu lassen“. Diese Aussage sei nicht zutreffend, so Mohammed Zaqout, der Generaldirektor der Kliniken in Gaza. Er setzte hinzu: „Wir wurden unter vorgehaltener Waffe dazu gezwungen, das Krankenhaus zu verlassen.“

Der israelische Oberstleutnant Jonathan Conricus zeigt in einem Werbespot, den die BBC scharf kritisierte, einen kümmerlichen Haufen automatischer Waffen, die wie von Zauberhand zu einem Berg anwachsen, sobald ausländische Reporter zu einer geführten Tour ankommen. Später löschten die israelischen Streitkräfte das Video.

Die Lügen werden in israelische Schulbücher hineingeschrieben werden. Die Lügen werden von israelischen Politikern, Historikern und Journalisten wiederholt werden. Die Lügen werden im israelischen Fernsehen und in israelischen Filmen und Büchern erzählt werden. Die Israelis sind die ewigen Opfer. Die Palästinenser sind das absolut Böse. Es gab keinen Genozid. Die Türkei leugnet ein Jahrhundert danach noch immer, was den Armeniern widerfuhr.

In Kriegszeiten glauben Menschen, was sie glauben wollen. Die Lügen stillen einen Hunger in der israelischen Öffentlichkeit, die den Konflikt als Kampf zwischen „den Kindern des Lichts und den Kindern der Finsternis“ sieht. Die Lügen sind ein Schutzwall dagegen, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Denn wenn Israel die Realität verweigert, ist es nicht gezwungen, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Die Lügen erzeugen kognitive Dissonanz. Fakt wird Fiktion, Fiktion wird Wahrheit. Die Lügen verhindern jede Diskussion über Genozid oder Versöhnung.

Israel, mit dem Rückhalt der Biden-Administration, wird damit fortfahren, alles zunichtezumachen, was das Leben in Gaza aufrechterhält. Kliniken. Schulen. Kraftwerke. Wasseraufbereitungsanlagen. Fabriken. Landwirtschaftsbetriebe. Wohnblöcke. Häuser. Und dann wird Israel genauso wie die Täter der Völkermorde der Vergangenheit so tun, als hätte man nie einen begangen.

Die Lügen, die Israel benutzt, um sich der Verantwortung zu entledigen, werden die israelische Gesellschaft zerfressen. Sie werden sein moralisches, religiöses, ziviles, intellektuelles und politisches Leben zersetzen. Die Lügen werden Kriegsverbrechern den Heldenstatus verleihen und jene, die ein Gewissen haben, dämonisieren. Israels Genozid wird, wie die Massentötungen im Jahr 1965 in Indonesien, zum Mythos eines epischen Kampfes gegen die Kräfte des Bösen und der Barbarei stilisiert werden. Genauso haben ja auch die Amerikaner den Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern zum Mythos erhoben und Siedler und mörderische Reitereinheiten zu Helden stilisiert.

Die Mörder im indonesischen Krieg gegen den Kommunismus werden heute auf Kundgebungen als Erlöser bejubelt. Sie werden zu ihren „heroischen“ Kämpfen interviewt, die fast 60 Jahre zurückliegen. Israel wird das genauso handhaben. Es wird sich selbst deformieren. Es wird seine Verbrechen feiern. Es wird Böse in Gut verwandeln. Es wird in seinem selbstgeschaffenen Mythos leben. Die Wahrheit wird, wie in allen Zwangsherrschaften, verbannt werden. Israel, für die Palästinenser ein Monster, wird auch sich selbst gegenüber zum Monster werden.

Titelbild: Palästinenser warten darauf, die Leichen ihrer Angehörigen aufzunehmen, die bei einem israelischen Luftangriff am Al-Najjar-Krankenhaus im südlichen Gaza-Streifen am 21. Oktober 2023 getötet wurden. – Shutterstock / Anas-Mohammed

Großen Dank an Susanne Hofmann, die diesen Text über schreckliche Ereignisse und und Einschätzungen übersetzt hat.

Der Beitrag von Chris Hedges erschien in der vorliegenden Übersetzung in den Nachdenseiten 29.11.23. Wir danken für die Publikationsrechte.

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