Argentinien. Protest gegen Turbokapitalismus und Polizeistaat!

Ein erster Kurzbericht unserer Korrespondentin Gaby Weber direkt aus Argentinien. Der neue argentinische Präsident holt zum Rundumschlag aus. Auf alles und jeden, mit einer einzigen Ausnahme – entgegen allen Versprechungen vor der Wahl: Korruption sowie politische und ökonomische Eliten bleiben ungeschoren, ja es findet eine gigantische Umverteilung zu ihren Gunsten statt. Erste aussenpolitische Massnahme gestern war: die für den 1. Januar angestrebte Mitgliedschaft im BRICS Staatenbündnis wurde aufgekündigt. Wer hat wohl seine Finger da mit im Spiel? (Peter Vlatten)

Gaby Weber, 29.12.2023

In Argentinien geht es in diesen Tagen hoch her: nicht nur die mächtigen Gewerkschaften protestieren und blockieren – obwohl dies gerade verboten wurde. Die „piqueteros“ (Straßenblockierer aus den Armutsvierteln) lassen nur noch den öffentlichen Nahverkehr über die Landstraße 3 passieren, aber keine Lastwagen und PKWs. Die Linke ruft zum „Kampf gegen die Diktatur“ auf, und die zivile Gesellschaft steht Kopf.

So hatte man sich das nicht vorgestellt. Erst im November hatte bei einer Stichwahl Javier Milei die Stichwahl mit deutlichen 55 Prozent gewonnen, ein selbsternannter „Anarcho-Kapitalist“, der ein Ende der Korruption und der politischen „Kaste“ versprach. Doch schon wenige Tage nach seinem Amtsantritt legte er zwei Pakete vor, die sich weder gegen Korruption und Privilegienwirtschaft richten sondern ein neoliberaler Aufguss plus Polizeistaat sind.

Arbeitsverträge in staatlichen Behörden, die jünger als ein Jahr sind, werden nicht erneuert, von 18 Ministerien verbleiben nur 9, die anderen werden herabgestuft oder, wie das Ministerium für Frauen und Diversität und das Amt gegen Diskriminierung (INADI) werden aufgelöst. Die öffentliche Hand wird keine Baumaßnahmen mehr tätigen, die Subventionen für den öffentlichen Nahverkehr und den Strom werden verringert, Sozialhilfeprogramme reduziert, und der Peso wird auf über die Hälfte seines Wertes abgewertet. Das verteuert die Produkte des täglichen Lebens, ist aber ein erheblicher Vorteil für alle Exporteure, vor allem für die Sojabauern.

Aus unterschiedlichsten Ecken hagelte es Proteste, nicht nur von der Linken und den Gewerkschaftern. Auch Verfassungsrechtler wandten ein, dass Dekrete nicht bestehende Gesetze und Grundrechte aushebeln können.

Statt zu beschwichtigen kippte Milei Öl ins Feuer und zimmerte eine Woche später ein zweites, noch umfassenderes Paket zusammen, diesmal an den Kongress gerichtet. Der soll, erst mal für zwei Jahre aber mit der Möglichkeit einer Verlängerung, seine gesetzgeberischen Kompetenzen an die Regierung übertragen, de facto also sich selbst entmachten. Dieses Ermächtigungsgesetz müsse, so Milei, innerhalb von 5 Wochen abgestimmt werden, weil ein akuter Notstand vorliege.

Das Arbeitsrecht wird an die Interessen der Arbeitgeber angepasst, und den Gewerkschaften soll das Monopol der Krankenversicherung der Beschäftigten weggenommen werden. Es geht nicht nur um massive Einsparungen bei den Beschäftigten zu Gunsten der Unternehmen. Es geht auch um die Abschaffung grundlegender demokratischer Rechte und den Angriff auf die öffentlichen Kassen.

Das neue Gesetz soll der Regierung den Zugriff auf die Rentenkasse ANSES erlauben, in der sich zur Zeit stattliche 76 Milliarden Dollar Reserven befinden. Ein „großzügiges Moratorium“ (La Nación) soll den Firmen ihre Schulden bei der Rentenkasse und den Finanzämtern erlassen. Und dann plant man die Ausgabe neuer Obligationen, mit denen die Auslandsschulden der privaten Importeure beglichen werden sollen. Dasselbe hatte schon die Militärdiktatur (1976–1983) kurz vor ihrem Abtritt getan, als die Auslandsschulden der Konzerne übernommen wurden, darunter die Deutsche Bank und Mercedes-Benz, Firmen also, die über ihre Mutterhäuser durchaus Zugang zu Devisen gehabt hatten. Damals war es die Diktatur, jetzt will dies diese demokratisch gewählte neue Regierung tun.

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Gabi Weber lebt seit 20 Jahren in Argentinien, hier der Link zu Ihrer Seite mit ihren Publikationen: http://www.gabyweber.com/

Liebeserklärung an Haiti!

ein Beitrag von Alexander King, 26. Dezember 2023

Am Neujahrstag begeht ein Land sein 220-jähriges Bestehen, das in Deutschland wenige Leute auf dem Schirm haben, das aber über viele Jahre eine zweite Heimat für mich war: Haiti.

Bitte nicht verwechseln mit Tahiti oder Hawaii (kommt durchaus öfters vor). Haiti ist ganz anders. Anders als alle anderen Länder, die ich je besucht habe. Schön, stolz, frei, grausam, traurig.

Wissenschaftler schätzen, dass am Neujahrstag 1804, dem Gründungstag Haitis, 60 Prozent seiner Bewohner noch in Afrika geboren waren. In ihrer Heimat eingefangen von Sklavenjägern, verkauft an europäische Sklavenhändler, mit Schiffen in die damalige Kolonie Saint-Domingue, das heutige Haiti, verschleppt, dort auf Märkten wie Vieh verkauft. Als Sklaven in einem fremden Land hatten sie unter unvorstellbar harten Bedingungen auf Plantagen gearbeitet und damit die wirtschaftliche Entwicklung im fernen Europa in Schwung gebracht.

Der Rest der haitianischen Bevölkerung bestand damals hauptsächlich aus bereits auf Haiti geborenen Sklaven, freigelassenen ehemaligen Sklaven und Kindern von Sklavinnen und weißen Gutsbesitzern. Die wenigen Weißen, die in der Kolonie gelebt hatten, waren in der haitianischen Revolution entweder umgebracht worden oder geflohen.

Was auch in Deutschland vielen bekannt ist: Haiti war, nach den USA, das erste unabhängige Land in Amerika. Dort hatte der erste und einzige erfolgreiche Sklavenaufstand der Geschichte stattgefunden. Napoleon hatte gegen die Sklavenarmee eine militärische Niederlage erlitten. Sein Schwager Leclerc starb dort an Gelbfieber, wie so viele französische Soldaten und Söldner aus ganz Europa, sofern sie nicht von den Aufständischen dahingemetzelt wurden.

Viele Sklaven wollten weder eine Republik, noch Demokratie, sie stellten zunächst nicht einmal die Sklaverei in Frage. Sie wollten einfach nur menschenwürdig behandelt werden. Dafür kämpften sie.

Nur wenige gebildete Sklaven und freie Schwarze auf Haiti hatten einen Begriff von der Französischen Revolution, den Menschenrechten, der europäischen Aufklärung. Und doch ist ihr erfolgreicher Aufstand mit den Entwicklungen in Europa ab 1789 eng verbunden. Zeitweise kämpfte in Haiti jeder gegen jeden: weiße Siedler gegen französische Jakobiner, weiße Proletarier gegen Großgrundbesitzer, schwarze Sklaven gegen schwarze Freie, beide mit Spanien gegen Frankreich und dann mit Frankreich gegen Spanien, schließlich, nach dem französischen Verrat an ihrem Anführer Toussaint-Louverture alle gemeinsam gegen Napoleon.

Ihre schiere Überzahl und das Gelbfieber halfen dabei: Mit dem Sieg über die Kolonialmacht kam auch das Ende der Sklaverei.

Haiti wurde aus einem Blutbad geboren, in dem ein Drittel der Bevölkerung umgekommen war. Die Zuckerrohrplantagen, die Haiti zur wirtschaftsstärksten französischen Kolonie gemacht hatten, waren niedergebrannt, Handelsbeziehungen durch die Sanktionspolitik der USA und der europäischen Mächte gekappt. So begann es.

Die Menschen auf Haiti, die aus unterschiedlichen Teilen Afrikas stammten, mussten eine gemeinsame Sprache finden (zumindest das gelang mit dem in seiner entwaffnenden Logik und Einfachheit genialen haitianischen Kreol) und eine Nation werden – Letzteres gelang nie wirklich.

Die Startbedingungen für dieses kleine Land waren also denkbar ungünstig. Die äußeren Einflüsse auch. Europa war geschockt. Haiti wurde jahrzehntelang nicht anerkannt, mit Handelssanktionen belegt, zu Reparationszahlungen gezwungen.

Der große Nachbar USA ließ das Land nicht zur Ruhe kommen. Im 20. Jahrhundert besetzten die USA Haiti mehrmals, unterstützten die Diktatur der Familie Duvalier („Papa Doc“ und „Baby Doc“) und krempelten die haitianische Wirtschaft im eigenen Interesse um: Anfang des 20. Jahrhunderts wurden unter US-Besatzung Sisal-Plantagen errichtet, später, mit Hilfe der Weltbank, die die entsprechenden Konzepte lieferte, Montagehallen und Textilfabriken. US-Konzerne, die einfache Fertigungen dorthin auslagerten, profitierten von den niedrigen Löhnen. Einen Entwicklungsschub für Haiti gab es nicht.

Gleichzeitig wurden alle Handelsschranken eingerissen und Haiti mit Reis aus den USA überschwemmt. Das Land, bis dahin weitestgehend autonom in der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, wurde abhängig von Importen und den Preisentwicklungen auf den internationalen Märkten. Hungersnöte waren die Folge.

Wann immer Hoffnung keimte, nach dem Sturz der Duvaliers 1986, mit der Wahl des Armenpriesters Aristide 1991 zum Präsidenten, gab es, gelinde gesagt, keine internationale Unterstützung dafür, eher scharfen Gegenwind gegen jede fortschrittliche und eigenständige Entwicklung. Anfang 2010 kam das Erdbeben hinzu, das die Hauptstadt Port-au-Prince in weiten Teilen zerstörte und Hunderttausende das Leben kostete.

Heute, im Ergebnis all dessen, versinkt Haiti im Chaos. Port-au-Prince wird von Räuberbanden beherrscht, die sich gegenseitig bekämpfen. Die Menschen geraten zwischen die Fronten, können ihr normales Leben kaum noch organisieren. Der Weg zur Schule, zur Arbeit, zum Einkauf kann jederzeit lebensgefährlich werden.

Ist eine erneute internationale Militärintervention die Lösung? Ich will diese Frage nicht dogmatisch beantworten. Aber die bisherigen Erfahrungen mit Friedensmissionen in Haiti sprechen eigentlich nicht dafür. Unter der MINUSMAH (2004 bis 2017) war das politische Chaos nicht kleiner, sondern noch viel größer geworden. Zuletzt schleppten UN-Soldaten die Cholera ein, tausende Haitianer starben daran.

Ein Moment der Hoffnung war der Besuch des damaligen venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez in Haiti im Jahr 2007. Er fuhr mit offenem Wagen durch Port-au-Prince, nahm das Bad in der jubelnden Menschenmenge. Es war die Zeit des regionalen Aufbruchs in Lateinamerika. Unabhängig von den USA, sich auf die eigene Stärke, die eigenen Wurzeln besinnend, sich gegenseitig unterstützend – so sollte die Zukunft aussehen. Im Geiste früherer gemeinsamer Kämpfe: Der venezolanische Unabhängigkeitsheld Bolivar war 1815 in den jungen Staat Haiti ins Exil gegangen und hatte von dort aus, mit Unterstützung durch die haitianische Regierung, den Aufstand in Venezuela in Angriff genommen.

1996 war ich das erste, 2009 das letzte Mal in Haiti. Zunächst im Rahmen meines Geografie-Studiums und meiner Dissertation, später auch aus persönlicher Verbundenheit und privatem Interesse. Ich habe dort viele tolle Leute kennen gelernt: tüchtig, humorvoll, optimistisch, kämpferisch. Haiti hat eine einzigartige Kultur entwickelt.

Eine Stelle als Entwicklungshelfer in Haiti, die mir zwischendurch angeboten worden war, habe ich nicht angenommen. Ich wollte mich stattdessen voll und ganz, haupt- und ehrenamtlich, dem Aufbau der Linken in Deutschland widmen (die ich mittlerweile verlassen habe, wie viele wissen).

Oft denke ich darüber nach, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich mich an dieser Weggabelung anders entschieden hätte. Noch öfter denke ich darüber nach, was politisch anders laufen müsste, auch hier in Deutschland, um Ländern wie Haiti die Chance auf eine eigenständige wirtschaftliche und soziale Entwicklung, auf politische Stabilität zu geben.

Deutschland hat viele eigene Probleme, aber es gibt auch einen inneren Zusammenhang mit den Problemen anderer Länder, auch im globalen Süden. Internationale Solidarität darf deshalb nicht nur ein Schlagwort bleiben, sie darf vor allem nicht nur eine Spielwiese für Identitätspolitik, post-koloniale Debatten um Straßennamen und ähnliches sein. Sie muss politisch, vor allem wirtschaftspolitisch buchstabiert werden – und praktisch werden.

Wir danken Alexander King für das Publikationsrecht

Alexander King ist Mitglied des Abgeordneten Hauses Berlin.

Ukraine „Jetzt akzeptieren wir auch spanisch sprechende Legionäre“

Bild: Selenskij bei der Amtseinführung von Milei zu Besuch in Argentinien. Bild: president.gov.ua/CC BY-SA-4.0

Von Gaby Weber

Warum hatte sich Wolodymyr Selenskij auf den langen Weg gemacht, um am 10. Dezember zur Amtseinführung des neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei dabei zu sein? Weil sich zwei rechtsradikale Brüder umarmen wollten?

Das hielt ich nicht für wahrscheinlich. Dann sah ich die Bilder von dem Tête-à-Tête des Ukrainers mit dem paraguayischen Staatschef. Klar: da bereitet jemand sein Exil vor, in Asunción ist sicher noch ein Palast frei, den einst Mengele bewohnt hatte. Das macht Sinn. Doch dann las ich heute morgen die konservative Tageszeitung La Nación und alles war klar: im redaktionellen Teil, also nicht als Anzeige, fand ich dort das Werbeangebot an kampfbereite Argentinier, kampfbereit für die Freiheit, logo. Was wird geboten und was wird verlangt“, steht im Titel.

Das Angebot richtet sich ausdrücklich an spanisch-sprechende Männer, englisch oder ukrainisch sei nicht notwendig. Auftraggeberin ist die „Internationale Legion für die Verteidigung der Ukraine“ . „Wir haben nicht genug Personal. Wir brauchen junge und motivierte Männer“, wird da ein Oberst zitiert. „Jetzt akzeptieren wir auch spanisch sprechende Legionäre.“


Gezahlt werden monatlich 600 Dollar im einfachen Dienst, 1200 Dollar für Kämpfer im „Gefahrengebiet“, und 3300 Greenbacks für Männer für den direkten Kampf an der Front. Wer schwer verletzt wird, soll eine lebenslange Rente erhalten. Wer fällt – dessen Familie soll eine Entschädigung von 400.000 Dollar bekommen.

Bedingungen: Gesunde Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Sie dürfen (angeblich) nicht vorbestraft sein, Erfahrungen bei Polizei oder Militär seien erwünscht. Die Anreise nach Kiev und das Visum müssen die Kandidaten selbst tragen, und erst dort wird entschieden, wer genommen wird und wer nicht.

Ich bin von dem Angebot hin und her gerissen. Einerseits erscheint es mir wenig seriös, der Gerichtsstand Kiev flößt wenig Vertrauen ein, Selenskij gehen doch nicht nur die Männer aus, sondern auch das Geld und die Munition, und er will nicht mal in die Anreise der Legionäre investieren. Andererseits hätte ich hier in Buenos Aires durchaus eine lange Liste von mittelalterlichen halbwegs gesunden (zumindest physisch) Männern, die ich gerne in den ukrainischen Volkssturm schicken würde, den neuen Präsidenten Javier, seinen Wirtschaftsminister und so weiter. Ich halte Euch auf dem Laufenden.

Erstveröffentlicht auf Overton Magazin v. 21.12.23
https://overton-magazin.de/top-story/ukraine-jetzt-akzeptieren-wir-auch-spanisch-sprechende-legionaere/

Wir danken der Autorin für das Publikationsrecht.

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