Heraus zum 1. Mai! Doch wie geht es dem Arbeiterlied? Ein Gespräch mit Kai Degenhardt
Interview: Christof Meueler
Seit knapp zehn Jahren gehört das Singen von Arbeiterliedern zum immateriellen Weltkulturerbe. Ist das gut oder schlecht?
Es zeigt jedenfalls, dass Arbeiterlieder inzwischen offenbar als vom Aussterben bedroht angesehen werden und als kulturelle »Waffe im Klassenkampf« nicht gerade gefürchtet sind.
Sie haben über das Arbeiterlied ein Buch geschrieben: »Wessen Morgen ist der Morgen«. Hatten Sie schon länger den Plan, einen Situationscheck des Arbeiterliedes vorzunehmen?
Ja, das hatte ich schon länger im Kopf. Als linker Liedermacher wird man häufig von Gewerkschaften eingeladen, auch zum 1. Mai. Und da werden gerne Arbeiterlieder gehört und gefordert. Damit habe ich früher immer ein bisschen gefremdelt.
Warum?
Das entsprach nie meinen eigenen Hörgewohnheiten, ich bin damit nur am Rande sozialisiert worden. Als Jugendlicher habe ich zwar auch Floh de Cologne gehört, aber das war für mich damals nicht Arbeiterlied im eigentlichen Sinn. Und es gab diese Platte vom Pläne-Label »Hören sie mal rot…«, das Arbeiterlieder-Festival 1970 in Essen. Als ich Kind war, lief die manchmal bei uns zu Hause.
Sie haben nicht nur ein Buch über das Arbeiterlied geschrieben, sondern auch eine Platte mit Beispielen eingespielt. Darauf sind zum Teil diese klassischen Lieder, die auch auf »Hören Sie mal rot« zu finden waren, die aber von Ihnen anders arrangiert und interpretiert werden. »In Hamburg fiel der erste Schuss« ist mit Emphase gesungen, dagegen wird der alte Agitprop-Hit »Der rote Wedding« sehr vorsichtig, fast schüchtern vorgetragen.
Ich finde es schwierig, die alten Lieder ganz traditionell zu bringen. In der Klassik nennt man das, glaube ich, historische Aufführungspraxis. Das habe ich im Übrigen auch bei »In Hamburg fiel der erste Schuss« nicht gemacht. Ich habe da eine verzerrte E-Gitarre gespielt und eben keine Schalmeien und Trommeln eingesetzt. Beim »Roten Wedding« kam mir die optimistische Siegesgewissheit dieses Liedes, im Wissen darum, was historisch danach passiert ist, nicht so einfach über die Lippen und über die Finger. Da musste ich eine Vortragsweise finden, die auch das Gebrochene, die erlittene Niederlage, transportiert.
Dagegen haben Sie »Tonio Schiavo«, klassisch dargeboten, da sehe ich gar keinen Unterschied.
Da wäre ich auch der Falsche, eine Neuinterpretation anzulegen. Ich war mit meinem Vater, der das Lied ja geschrieben hat, fast 20 Jahre auf Tour, da haben wir es hunderte Male zusammen in dieser Art gespielt.
Das vorletzte Lied auf dem Album stammt von Ihnen, »Nachtlied vom Streik«. Es handelt von einem verrenteten Arbeiter vor dem Fernseher, der den gesellschaftlichen Widerstand gegen die globalen Katastrophen schwach findet, denn er weiß: »Ohne Streik wird gar nichts gehen.«
Das Lied beschreibt auch die fragmentierte Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Es gibt die Dienstleistungen an der Kasse, im Pflegebereich, am Band und an der Schuttrutsche und international natürlich auch, wenn die Stahlproduktion in Südostasien stattfindet. Und die vielen Wanderarbeiter und Wanderarbeiterinnen, die versuchen, in die besser bezahlten Weltgegenden zu kommen. Trotzdem gilt: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will«, wie es schon Georg Herwegh 1863 für eines der ersten deutschen Arbeiterlieder, »Bet’ und arbeit’!«, gedichtet hat.
Arbeiterlieder entstehen eigentlich nur durch kollektive Praxis, durch Bewusstwerdung in der Auseinandersetzung – das ist die Quintessenz Ihres Buchs. Wenn dieses Handeln nicht da ist, wirken die alten Lieder museal.
Darum ging es mir bei der Platte. Denn das Pathos und das Triumphalistische aus den Vortragsweisen von früher habe ich oft als so eine Art Folkloreabend zum Mutmachen für die Übriggebliebenen erlebt. Daran stört mich weniger der unzeitgemäße Sound, als dass damit ein falscher Trost gespendet werden soll. Ich maße mir aber jetzt nicht an, die zeitgemäße Version als State of the Art zu bieten. Mein Ansatz ist als Aufforderung zu verstehen, dass dies jüngere Leute machen müssen, damit es für sie passt, wenn sie in den Kämpfen stehen.
Die gibt es ja – auch als Streiks, bei Amazon oder in der Pflege. Ich weiß aber nicht, was da gesungen wird.
Ich auch nicht. Bei den Demos höre ich oft nur die Trillerpfeifen. Früher wurde vor den Werkstoren ja regelmäßig gesungen, etwa von Hannes Wader, Frank Baier, Schlauch oder Fasia.
In der Bundesrepublik wurden Arbeiterlieder meist gesungen von Leuten, die nicht so weit von der DKP entfernt waren.
Ich würde sagen, von Künstlern rund um den allemal parteinahen Pläne-Verlag. Aber es gab daneben natürlich diverse Gewerkschaftschöre, auch Arbeiterlieder bei den Spontis rund um das Trikont-Label und auch bei den Maoisten das eine oder andere Parteilied. Aus der offiziell-sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ist seit den 70er Jahren aber nichts Vergleichbares hervorgegangen.
Rückblickend wirken die Agitprop-Gruppen der KPD vor 1933 am attraktivsten: Eine Mischung aus mobiler Revue und Liedern, produziert aus dem Umfeld von Piscator, Brecht und Eisler.
Da traf die Volksbühnenbewegung auf die Unterhaltungsmusik der 20er Jahre. Das war ein Quantensprung für das Arbeiterlied. Aber Eisler und andere kamen ja von den Neutönern, die wollten neben den roten Spieltruppen auch die europäische Avantgarde einbringen in die Arbeiterchöre. Die haben auch ziemlich abgefahrene, mehrstimmig-dissonante Sachen dafür komponiert, die aber von den normalen Amateurchören kaum noch zu singen waren.
In der DDR hat sich das Arbeiterlied nicht mehr entwickelt. Sie schreiben von einer Regression, von einem Rückgriff auf das Vorgefundene. Liegt das daran, dass die Arbeiterklasse zumindest offiziell an der Macht war?
Die Eigentumsverhältnisse waren zwar auf dem Papier andere, aber über die Verteilung des Mehrprodukts bestimmte die Partei, nicht die Arbeiter, um es mal platt zu sagen. Aber später gab es die Singebewegung und die sich daraus entwickelnde Liedermacherszene unter dem Stichwort »DDR konkret«, das Reinhold Andert geprägt hat, aus der dann eine Liedtheater-Szene mit Leuten wie Gundermann, Wenzel und Mensching entstand, die keine klassischen Arbeiterlieder gemacht, aber die den Alltag der DDR kritisch ausgeleuchtet haben – neben den Arbeiterliedern, die als staatstragendes Kulturerbe fortgeführt wurden, was leider auch oft sehr pompös und schwülstig wirkte.
Haben Sie während Ihrer Arbeit an dem Buch auch Frustration verspürt, weil eine politisch konfrontative Arbeiterbewegung gesellschaftlich einst viel stärker war und damit auch das Arbeiterlied?
Mir war das zwar von vornherein klar, doch mir ist noch einmal deutlicher geworden, wie grundlegend die Niederlage der gesamten Linken nach 1989/90 gewesen ist. Das Ende von Kohle und Stahl, das Verschwinden des klassischen Industrieproletariats und die Schwächung der Gewerkschaften. Der Niedergang dauert an. Es gibt eine fragmentierte Klasse mit starker Hierarchisierung und gleichzeitig einen mächtigen Nationalismus mit faschistischen Tendenzen. Und eine komplette Marginalisierung von revolutionärer Artikulation in den Medien. Da kommt sehr vieles zusammen an schlechten Bedingungen.
Andererseits lautet der letzte Satz in Ihrem Buch: »Die Dinge sind oft näher, als sie scheinen.«
Man hat das im vergangenen Jahr in England und in Frankreich gesehen: Wenn so eine Streikbewegung erstmal losbricht, bekommt sie eine eigene Dynamik und erfährt Solidarität. Dann würde auch hierzulande eine Feier am 1. Mai anders aussehen und die gemäßigten DGB-Positionen würden zurückgedrängt. Im Moment sieht es hier noch nicht danach aus, aber manchmal kann es eben auch schnell gehen.
Kai Degenhardt: Wessen Morgen ist der Morgen: Arbeiterlied und Arbeiterkämpfe in Deutschland. Papyrossa, 215 S., br., 16,90 €. Kai Degenhardt: »Arbeiterlieder« (Plattenbau)
Interview
Uwe Bitzel
Kai Degenhardt, Jahrgang 1964, ist Liedermacher und Autor, der lange mit seinem Vater Franz Josef (1931-2011) auf der Bühne stand. Er hat nun Arbeiterlieder neu untersucht und eingespielt.
Die Rufe sind unüberhörbar. Die Pläne liegen bereit. Das Kapital und seine politischen Vertreter bereiten im Rahmen der Zeitenwende gebündelte massive Angriffe vor, die die soziale und politische Lage der Beschäftigten aller Branchen einschneidend verändern werden. Mitglieder aus den verschiedenen DGB Gewerkschaften (ver.di, IG Metall, IGBCE, EVG) schlagen Alarm und rufen dazu auf, diesem „Klassenkampf von oben“ gemeinsam zu begegnen, sich zu vernetzen und rechtzeitig den Widerstand zu organisieren. Hier der Aufruf, den jede (r) mit Unterschrift und Initiativen unterstützen sollte.
Wir schlagen Alarm
Nein zum Kürzungshaushalt und weiteren drohenden Angriffen! Hände weg vom Streikrecht! Jetzt Widerstand gegen den Klassenkampf von oben organisieren!
Die Bundesregierung hat Kürzungsmaßnahmen beschlossen, die große Teile der Bevölkerung hart treffen – sei es in Bezug auf steigende Strom-, Sprit- und Gaspreise, scharfe Sanktionen beim Bürgergeld, weniger Geld für Investitionen in den Schienenverkehr und den ÖPNV. Doch dies ist erst der Anfang. Laut denken Vertreter*innen der Kapitalinteressen über weitreichende Angriffe und eine Wirtschaftsagenda nach: Sie bringen Forderungen auf wie die Senkung von Unternehmenssteuern, Verlängerung und weitere Flexibilisierungsmöglichkeiten bei den Arbeitszeiten, Begrenzung der Sozialabgaben, Verschlechterungen im Rentensystem und Einschränkungen des Streikrechts. Zusätzliches Geld gibt es neben Unternehmenssubventionen nur noch für die Aufrüstung der Bundeswehr. Hier bestätigt sich einmal mehr, dass Aufrüstung und Sozialabbau zwei Seiten derselben Medaille sind.
Diesem Klassenkampf von oben müssen Beschäftigte und Gewerkschaften im Bündnis mit sozialen Bewegungen entschlossenen Widerstand entgegensetzen. Wir setzen uns in den Gewerkschaften dafür ein, an jeder Stelle Widerspruch zu formulieren, Widerstand zu organisieren und lokale, regionale und bundesweite Netzwerke gegen drohende weitreichende Angriffe aufzubauen. Dazu sollen Aktionskonferenzen einberufen werden, um einen gemeinsamen Aktionsplan für Proteste bis hin zu einer bundesweiten Großdemonstration z.B. für folgende Forderungen zu diskutieren.
Nein zu jeglichen Kürzungen und Verschlechterungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge
Nein zu Einschränkungen von demokratischen Rechten -Hände weg vom Streikrecht
Für eine massive Erhöhung der Steuern auf Gewinne und Vermögen der Banken, Konzerne und Superreichen
Für Milliardeninvestitionen in Bildung, Gesundheit, Klima und Soziales – statt Milliarden für Aufrüstung und Militarisierung
Wir erklären unsere Bereitschaft, entsprechende Initiativen von unten selbst anzustoßen und dabei mitzuarbeiten.
«Eine grosse Mehrheit der Ukrainer fordert eine diplomatische Lösung»
Bild: Generalstab der ukrainischen Streitkräfte
Zeitgeschehen im Fokus Wie hat sich die militärische Lage in der Ukraine in den letzten Monaten und Wochen entwickelt?
General a. D. Harald Kujat Die militärische Lage ist nach dem Scheitern der Offensive im vergangenen Jahr für die Ukraine sehr kritisch geworden und wird mit jedem Tag schwieriger. Die ukrainischen Streitkräfte haben die Fähigkeit zu einer offensiven Operationsführung verloren und versuchen auf amerikanischen Rat hin, in der strategischen Defensive die hohen personellen Verluste zu reduzieren und das noch von ihnen kontrollierte Territorium zu halten. Dagegen haben die russischen Streitkräfte bereits im Oktober die Initiative übernommen und setzen verstärkt an mehreren Stellen der über eintausend Kilometer langen, personell ausgedünnten Front zu Vorstössen an. Bisher halten sich die russischen Geländegewinne in Grenzen. Das taktisch geschickte russische Vorgehen bei der Eroberung von Awdijiwka und der chaotische Rückzug der ukrainischen Streitkräfte könnten jedoch symptomatisch für den weiteren Verlauf der Kampfhandlungen sein.
Welches Ziel verfolgen die russischen Streitkräfte?
Es deutet alles darauf hin, dass Russland die vier annektierten Regionen in den Grenzen der ehemaligen Verwaltungsgebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson, vollständig erobern und die Eroberungen konsolidieren will. Ob auch Charkiw und Odessa zu den strategischen Zielen Russlands gehören, ist bisher nicht eindeutig zu erkennen.
Man kann also sagen, die hohen Verluste der Ukrainer sind ein wichtiger Grund, warum sie das kontinuierliche Vorwärtsschreiten der russischen Armee nicht verhindern können.
In drei für eine erfolgreiche strategische Defensive wichtigen Bereichen ist die Ukraine gegenwärtig äusserst verwundbar: in der Luftverteidigung, wegen des Mangels an Artilleriemunition und insbesondere aufgrund der grossen Defizite an ausgebildeten Soldaten. Wobei sich diese Defizite in ihren negativen strategischen Auswirkungen wechselseitig verstärken.
Aber das ukrainische Parlament hat doch inzwischen ein Gesetz verabschiedet, das die Personallücke schliessen soll.
Das hat jedoch fast ein Jahr gedauert, und es wird noch einige Zeit vergehen, bis das Gesetz umgesetzt ist und die neuen Soldaten ausgebildet sind. Das Mobilisierungsgesetz ist ein Kompromiss zwischen dem Ziel, einerseits die hohen Verluste zu ersetzen und die in zwei Jahren Kampfeinsatz erschöpften Soldaten abzulösen sowie anderseits dem zunehmenden Widerstand der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Das ukrainische Volk will endlich Frieden. Deshalb verlangt eine grosse Mehrheit – das zeigen die jüngsten Umfragen – eine diplomatische Lösung. Das Alter der Wehrpflichtigen wird von 27 auf 25 Jahre herabgesetzt. Hinzu kommt eine Mischung aus finanziellen Anreizen und Strafen für diejenigen, die in zunehmender Zahl versuchen, sich dem Dienst mit der Waffe zu entziehen.
Wird das der Ukraine helfen?
Die Ukraine hat grosse demographische Probleme. Ob die angestrebte Zahl von 400 000 neuen Soldaten erreicht wird, ist wegen der Altersstruktur der männlichen Bevölkerung fraglich. Die Jahrgänge der Zwanzig- bis Dreissigjährigen sind zahlenmässig sehr schwach; sie betragen im Durchschnitt weniger als 200 000 junge Männer, von denen viele bereits sehr früh das Land verlassen haben.
Die Angriffe auf die Ölinfrastruktur Russlands werden weiterhin im Westen als grosser militärischer Erfolg bezeichnet. Ebenso, dass die Ukraine immer noch grosses militärisches Potential habe. Wie ist es wirklich?
Weil die Ukraine zu einer initiativen Landkriegsführung nicht mehr in der Lage ist, versucht sie militärische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, indem sie Ziele in Russland angreift. Deshalb sollte Deutschland den Marschflugkörper «Taurus» liefern, denn damit können strategische Ziele in der Tiefe Russlands erfolgreich zerstört werden. Durch Angriffe mit Drohnen auf fast die Hälfte der russischen Raffinerien hat die Ukraine bewiesen, dass sie dazu in der Lage ist. Doch seit Ende März übt Russland Vergeltung, indem es die ukrainische Energieinfrastruktur angreift, Kraftwerke, Elektrizitätswerke und so weiter. Das Gleiche geschah im Winter 2022/23, als Russland nach dem Anschlag auf die Brücke von Kertsch wochenlang Angriffe auf die ukrainische Versorgungsinfrastruktur durchführte. Denn die Verbindung über die Brücke von Kertsch mit Russland war zu diesem Zeitpunkt nicht nur wichtig für die Versorgung der russischen Streitkräfte, sondern auch die Lebensader für zwei Millionen Krimbewohner.
Wenn man den Berichten der Medien folgt, sind die mangelnden Waffenlieferungen aus Europa an dem bisherigen Scheitern der Ukraine schuld. Deutschland wird ein weiteres Patriot-Luftverteidigungssystem liefern, und eine Gruppe anderer europäischer Länder unter der Führung Tschechiens kauft weltweit Artilleriemunition auf. Wenn dazu 400 000 weitere Soldaten rekrutiert werden, gäbe das der Ukraine nicht neue Kraft, die russischen Truppen zurückzudrängen? Wäre sie dann in der Lage, die strategische Situation zu ihren Gunsten zu wenden, oder ist das illusorisch?
Das ist in der Tat die entscheidende Frage. So bitter es ist, trotz umfassender finanzieller und materieller Unterstützung durch die Vereinigten Staaten und Europa ist es der Ukraine nicht gelungen, die strategische Lage zu ihren Gunsten zu wenden. Im Gegenteil. Im letzten Jahr wurden für die grosse, mit hohen Erwartungen begonnene Offensive zwölf ukrainische Brigaden von Nato-Staaten ausgebildet und mit modernen Waffen ausgerüstet, um die russischen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen. Die Offensive ist mit grossen Verlusten gescheitert. Da die Lage der ukrainischen Streitkräfte seitdem immer kritischer wird, steigt der Druck auf den Westen, die Unterstützung der Ukraine mit Waffen und finanziellen Zuwendungen zu verstärken. Zugleich beginnen bereits Schuldzuweisungen für den Fall, dass die Ukraine eine militärische Niederlage erleidet. In diesem Sinne hat ein deutsches Regierungsmitglied kürzlich in Kiew kritisiert, die Entscheidungen über Waffenlieferungen hätten zu lange gedauert und seien zu spät erfolgt. Er schäme sich zutiefst dafür. Welche Waffensysteme zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise den Kriegsverlauf hätten ändern können, hat er allerdings nicht erklärt.
Wenn die Unterstützung noch länger fortgesetzt oder sogar verstärkt wird, werden die Länder des Westens wohl ziemliche Probleme bekommen.
Die Bundesregierung und die Europäische Union wollen die Ukraine finanziell und materiell bedenkenlos «so lange wie nötig unterstützen», ohne über eine eigene sicherheitspolitische Strategie zu verfügen oder zumindest eine politisch-strategische Zweck-Mittel-Relation vorzunehmen. Das politische Ziel der Ukraine ist es, die territoriale Integrität des Landes in den Grenzen von 1991 wieder herzustellen. Voraussetzung dafür wäre ein militärischer Sieg in dem Sinne, dass die russischen Streitkräfte alle von ihnen eroberten Gebiete einschliesslich der Krim aufgeben müssten. Einige westliche Politiker, die sich darüber im Klaren sind, dass der Krieg mit einer diplomatischen Lösung enden muss, fordern dagegen, die Ukraine militärisch so massiv zu unterstützen, dass sie zumindest aus einer Position der Stärke in Verhandlungen mit Russland eintreten könnte. Für beide Fälle gilt, dass die verfügbaren Mittel in keinem rationalen Verhältnis zum jeweiligen Zweck stehen. Dies scheint auch die Lagebeurteilung der Vereinigten Staaten zu sein. Sie haben deshalb der Ukraine zu einer strategischen Defensive geraten, um das noch von ihren Streitkräften kontrollierte Territorium zu halten und so die Voraussetzungen für eine künftige wirtschaftliche und militärische Stärkung des Landes zu schaffen. De facto bedeutet dies jedoch die Aufgabe der ukrainischen politischen Ziele – jedenfalls für die vorhersehbare Zukunft. Wegen der wachsenden Gefahr einer militärischen Niederlage der Ukraine sowie vor dem Hintergrund des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs und der Möglichkeit, dass Trump erneut gewählt wird, sollen nun die Europäer sowohl die amerikanischen Lasten als auch die Verantwortung für eine sichere Zukunft der Ukraine übernehmen. Anders als in Europa mehren sich amerikanische Stimmen, die sich für eine diplomatische Lösung einsetzen. Das renommierte amerikanische Quincy Institut veröffentlichte im Februar einen Beitrag mit dem Titel «The diplomatic path to a secure Ukraine». Darin heisst es, dass Waffenstillstandsverhandlungen für die Ukraine dringlich seien, da «der Krieg zu keiner stabilen Pattsituation an der Front, sondern zu einem Kollaps der Ukraine führen würde». Bereits vor einiger Zeit hatten einflussreiche aussenpolitische Berater der amerikanischen Regierung in einem Artikel eine Verhandlungslösung gefordert: «The West needs a new strategy for Ukraine: from the battlefield to the negotiating table».
Gibt es eine plausible Erklärung dafür, dass insbesondere die Europäer auf die Fortsetzung des Krieges setzen, obwohl Sie und auch andere hochrangige Militärs von Anfang an das so eingeschätzt haben, dass der Krieg nicht zu gewinnen sei? Ihre Prognosen bestätigen sich offensichtlich immer mehr.
Richtig, auch der damalige amerikanische Generalstabschef, General Mark A. Milley, hatte schon Anfang November 2022 erklärt, die Ukraine habe auf dem Schlachtfeld erreicht, was man vernünftigerweise von ihr erwarten konnte. Sie sollte sich nun an den Verhandlungstisch begeben, denn eine diplomatische Lösung sei möglich. Aber die amerikanische Regierung war offensichtlich überzeugt, Russland, neben China der wichtigste geopolitische Rivale, könnte in diesem Krieg dauerhaft politisch, wirtschaftlich und militärisch geschwächt werden. Eine von mehreren Fehleinschätzungen des «kollektiven Westens»: Als dieser Anfang April 2022 die Ukraine unter Druck setzte, die weit fortgeschrittenen Verhandlungen mit Russland über einen Waffenstillstand und eine friedliche Lösung nicht zum Abschluss zu bringen, wurde der Ukraine offenbar zugesagt, sie für die Dauer des Krieges unkonditioniert zu unterstützen.
Können Sie die weiteren Fehleinschätzungen beschreiben?
An der kritischen Lage der Ukraine trägt der Westen durch falsche Lagebeurteilungen und Fehlentscheidungen ein erhebliches Mass an Mitverantwortung. Obwohl die Vereinigten Staaten bereits Monate vor dem russischen Angriff auf die Ukraine warnten, waren weder sie noch die Nato bereit, ernsthaft über die russischen Vertragsentwürfe vom 17. Dezember 2021 zu verhandeln. Mit grosser Wahrscheinlichkeit hätte der Ukraine-Krieg verhindert werden können.
Bereits kurze Zeit nach Kriegsbeginn fanden Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über die Einstellung der Kampfhandlungen und eine friedliche Beilegung des Konflikts statt. Zunächst in Weissrussland und dann in Istanbul. Auf Druck des Westens liess die ukrainische Regierung die Verhandlungen scheitern, obwohl das bis dahin erzielte Ergebnis weitgehend ihrer Verhandlungsposition entsprach, das bereits im sogenannten Istanbuler Kommuniqué von beiden Seiten paraphiert worden war. Im weiteren Verlauf des Krieges hat sich für die Ukraine nie wieder eine derart vorteilhafte Ausgangslage für ein Verhandlungsergebnis ergeben, das ihren Interessen so weitgehend Rechnung trägt. Obwohl die Medien diese Tatsache bis heute weitgehend ignorieren, setzt sich zumindest in den Vereinigten Staaten die Wahrheit immer stärker durch. Mitte April veröffentlichte das amerikanische Magazin Foreign Affairs einen Beitrag mit dem zutreffenden Titel «The Talks That Could Have Ended the War in Ukraine».
Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass umfassende westliche Sanktionen Russland zur Einstellung der Kampfhandlungen zwingen sollten, ohne eigene wirtschaftliche Nachteile. Dieses Ziel war zu keiner Zeit auch nur in greifbarer Nähe, denn das wirtschaftliche Durchhaltevermögen Russlands wurde völlig unterschätzt, und die negativen Auswirkungen der Sanktionen haben vor allem die europäischen Staaten zu tragen.
Als besonders gravierend hat sich die Fehleinschätzung der militärischen Stärke Russlands erwiesen. Den russischen Streitkräften wurde eine geringe Kampfmoral attestiert; sie wurden als unmotiviert, schlecht ausgebildet und aufgrund veralteter Ausrüstung und Waffen als wenig durchsetzungsfähig, die militärische Führung als unprofessionell und unerfahren in moderner Operationsführung abgewertet. Dagegen wurde taktischen Erfolgen der ukrainischen Streitkräfte strategische Bedeutung beigemessen und jedes vom Westen gelieferte Waffensystem hatte angeblich eine kriegsentscheidende Bedeutung.
Ob die weiter aufrechterhaltene Fiktion eines militärischen Sieges der Ukraine auf einer falschen Lagebeurteilung beruht oder den Durchhaltewillen und die Unterstützung für die Fortsetzung des Krieges sicherstellen soll, wird sich noch erweisen. Es ist jedoch ein fataler Irrtum zu glauben, dass sich die Zukunftsaussichten der Ukraine verbessern, je länger der Krieg dauert. Im Gegenteil: Die katastrophalen Folgen dieses Irrtums können nur abgewendet werden, wenn eine militärische Niederlage verhindert wird, indem die Kampfhandlungen möglichst bald eingestellt werden und es zu Friedensverhandlungen der beiden kriegführenden Staaten kommt.
Hat man das in der Nato und den USA tatsächlich nicht gewusst, welche militärische Stärke die russische Armee besitzt?
Offensichtlich haben zu Beginn des Krieges beide Seiten Fehler gemacht. Russland begann die Invasion mit relativ schwachen Kräften, etwa 190 000 Mann, gegen eine ukrainische Armee, die mit über 400 000 Mann mehr als doppelt so stark und vom Westen jahrelang ausgebildet und ausgerüstet worden war. Da ein erheblicher Anteil der ukrainischen Streitkräfte im Süden und Südosten des Landes konzentriert war, ging die russische Führung anscheinend davon aus, es könnte gelingen, Kiew im Handstreich einzunehmen und eine russlandfreundliche Regierung einzusetzen. Dass dieses Unternehmen unter hohen Verlusten scheiterte, hat sicherlich zur russischen Verhandlungsbereitschaft beigetragen. Wegen des sehr positiven Verlaufs der Istanbul-Verhandlungen wurden die russischen Streitkräfte sogar als Zeichen des guten Willens – parallel zu einem beginnenden ukrainischen Gegenangriff – aus den besetzten Gebieten um Kiew abgezogen. Die Vereinigten Staaten und die ukrainische Regierung hatten die Kampfkraft der russischen Invasionskräfte in den ersten Tagen des Krieges offenbar überschätzt, weshalb auch die Ukraine sehr schnell bereit war, sich mit Russland an den Verhandlungstisch zu setzen.
In unseren Medien heisst es, Putin, weigere sich zu verhandeln.
Dass Putin nicht verhandeln will, kann man nicht sagen. Dagegen spricht schon die Tatsache, dass er verhandelt hat. Aber auch die öffentlichen Äusserungen zeugen vom Gegenteil. Allerdings haben beide Staaten nach dem Abbruch der Istanbuler Verhandlungen grosse Hürden für weitere Gespräche errichtet. Im Oktober 2022 hat Selenskyj in einem Dekret Verhandlungen mit Putin ausgeschlossen. Russland hat vier ukrainische Regionen annektiert und diese zu russischem Staatsgebiet erklärt. Das erschwert die Aufnahme für Verhandlungen. China hat jedoch bereits vor einem Jahr einen Vorschlag gemacht, der den Weg für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen öffnen könnte. Danach sollen die Verhandlungen ohne Vorbedingungen an der Stelle fortgesetzt werden, wo sie im April 2022 abgebrochen wurden. Ein chinesischer Sondergesandter, der dazu vor kurzem Gespräche in Moskau und Kiew sowie in anderen europäischen Hauptstädten führte, erklärte diplomatisch, dass er von den Ergebnissen nicht enttäuscht sei. Inzwischen liess auch der türkische Aussenminister verlauten, die Türkei sei bereit, die Friedensgespräche vom März/April 2022 wiederzubeleben. Ich sehe darin eine realistische Chance für Friedensverhandlungen und würde mir wünschen, dass die Bundesregierung diese Initiative unterstützt.
Die Nato hat auf ihrem Treffen in Brüssel zur Feier des 75jährigen Bestehens eine «special mission to help Kiev» vorgeschlagen. Worum geht es dabei?
Der Nato-Generalsekretär hat eine aus drei Punkten bestehende Initiative angekündigt, die auf der nächsten Nato-Gipfelkonferenz im Juli von den Staats- und Regierungschefs gebilligt werden soll. Teile davon sind allerdings schon im Februar in amerikanischen Medien veröffentlicht worden.
Der erste Punkt ist, ein Nato-Budget in Höhe von 100 Milliarden Euro für die kommenden fünf Jahre zur Unterstützung der Ukraine aufzulegen. Stoltenberg geht also davon aus, dass der Ukraine-Krieg noch fünf Jahre dauern wird. Die gegenwärtige militärische Lage spricht nicht dafür, dass dies eine realistische Einschätzung ist. Zudem haben einzelne Mitgliedsstaaten, die bereits hohe bilaterale Verpflichtungen gegenüber der Ukraine eingegangen sind und beträchtliche Zahlungen in den Unterstützungsfond der Europäischen Union leisten, Vorbehalte, weitere langfristige finanzielle Verpflichtungen einzugehen. Denn hinzu kommen die Kosten für die Lieferung von Waffensystemen, Munition und militärischer Ausrüstung.
Künftig soll nach Stoltenbergs Meinung die Nato auch die Koordination der Waffenlieferungen und der Ausbildung ukrainischer Soldaten übernehmen. Eine Aufgabe, die bisher von den Vereinigten Staaten im sogenannten Ramstein-Format durchgeführt wird.
Schliesslich soll ein Nato-Rahmen für die bilateralen, auf zehn Jahre angelegten «Vereinbarungen über Sicherheitszusammenarbeit und langfristige Unterstützung» zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten und der Ukraine gebildet werden.
Ich kenne nur die am 16. Februar 2024 abgeschlossene und sofort in Kraft getretene deutsch-ukrainische Vereinbarung, gehe aber davon aus, dass die Vereinbarungen anderer Nato-Mitgliedsstaaten ähnlich abgefasst sind. Interessant ist, dass in der deutsch-ukrainischen Vereinbarung einzelne Elemente des 10-Punkte-Plans (die sogenannte «Friedensformel») des ukrainischen Präsidenten aufgenommen wurden und Deutschland die «Prinzipien der ukrainischen Friedensformel» ausdrücklich als Grundlage für eine künftige Friedensregelung begrüsst.
Bedeutet diese Entwicklung, dass die Nato die Vereinigten Staaten als Hauptakteur im Ukraine-Krieg ersetzen wird und die Europäer die damit verbundenen Lasten allein übernehmen?
Der amerikanische Kongress hat zwar das seit Oktober vergangenen Jahres blockierte Finanzpaket von 61 Milliarden US-Dollar freigegeben, aber ob die Vereinigten Staaten die Ukraine auch weiterhin im gleichen Umfang wie bisher unterstützen werden, ist nicht sicher. Grundsätzlich wollen die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung zurückfahren und die Verantwortung für die Zukunft der Ukraine auf die Europäer verlagern. Das zeigt auch Stoltenbergs Vorschlag sehr deutlich.
Aber diese bilateralen Vereinbarungen sind doch kein Ersatz für eine Nato-Mitgliedschaft. Die Ukraine will Mitglied der Nato werden, und der amerikanische Aussenminister Blinken hat erst kürzlich wieder erklärt, dass sie der Nato beitreten wird. Ist das nicht ein Widerspruch?
Der Nato-Vertrag enthält sehr präzise Voraussetzungen für eine Nato-Mitgliedschaft. Ich will nur zwei nennen. Zum einen muss ein Staat von allen Mitgliedsstaaten eingeladen werden, Mitglied zu werden. Zum anderen muss dieser Staat konkrete Voraussetzungen erfüllen. Die Ukraine erfüllt keine der in Artikel 10 des Nato-Vertrages genannten Kriterien für eine Mitgliedschaft. Allgemein heisst es beispielsweise, ein Staat möchte Mitglied werden, weil er den Schutz der Beistandsklausel gemäss Artikel 5 des Nato-Vertrages anstrebt. Das entspricht auch der Motivation der ukrainischen Regierung, die gegen künftige Bedrohungen oder gar Angriffe Russlands den Schutz der Nato-Verbündeten sucht. Die Nato ist jedoch ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Dementsprechend muss ein künftiges Mitglied die Gewähr bieten, dass es einen konkreten Beitrag zur Sicherheit aller (bisherigen) Mitgliedsstaaten leisten kann. Im Falle der Ukraine trifft das Gegenteil zu. Mit der Ukraine würde die Nato das Risiko eines Konflikts mit Russland in das Bündnis importieren und so die Sicherheit aller Mitgliedsstaaten gefährden. Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine muss deshalb für die vorhersehbare Zukunft unter den vorherrschenden sicherheitspolitischen und geostrategischen Rahmenbedingungen ausgeschlossen werden.
Falls das zutrifft, stellt sich die Frage, welche Bedeutung diese Verträge haben.
Die bilateralen Verträge der Nato-Staaten mit der Ukraine können im Zusammenhang mit dem von Stoltenberg angestrebten Nato-Rahmen durchaus de facto als Nato-Mitgliedschaft durch die Hintertür interpretiert werden. Artikel 4 des Nato-Vertrages regelt einen Konsultationsmechanismus, wenn nach Auffassung eines Mitgliedsstaats die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit bedroht ist. Die deutsch-ukrainische Vereinbarung enthält eine vergleichbare Regelung, die durch die Verpflichtung zur Konsultation innerhalb von 24 Stunden, sogar über die Nato-Regelung hinausgeht.
Artikel 5 des Nato-Vertrages besagt, dass ein Angriff auf einen oder mehrere Verbündeten als Angriff gegen alle Mitgliedsstaaten angesehen wird. Allerdings entscheidet jeder Verbündete selbst, welche Form des Beistands er für erforderlich hält.
Habe ich das richtig verstanden? Angenommen Land A wird angegriffen, dann könnte Land B sagen, wir geben logistische Unterstützung, aber mehr nicht…
Grundsätzlich ist es so, denn die Allianz ist ein Bündnis souveräner Staaten, und bei den meisten haben die Parlamente in Fragen von Krieg und Frieden das ausschliessliche Entscheidungsrecht.
In der deutsch-ukrainischen Vereinbarung findet sich keine dem Artikel 5 des Nato-Vertrages vergleichbare Regelung. Vielmehr soll die Zusammenarbeit dazu dienen, «tragfähige Kräfte aufzubauen, die dazu in der Lage sind, die Ukraine in der Gegenwart zu verteidigen und künftige Aggression in der Zukunft abzuschrecken». Mehrfach wird jedoch das Ziel betont, die Interoperabilität der ukrainischen Streitkräfte mit denen der euro-atlantischen Partner zu fördern. Das ist insofern von Bedeutung, weil Interoperabilität ein besonders wichtiger Aspekt ist, wenn Streitkräfte verschiedener Staaten gemeinsam eingesetzt werden sollen.
Ist das nicht brandgefährlich?
Wegen der weitreichenden, langfristigen Verpflichtungen und der Auswirkungen auf unsere nationale Sicherheit wäre es meiner Meinung nach geboten, diese Vereinbarung durch den Deutschen Bundestag zu ratifizieren.
In der Schweiz soll ein Friedenskongress ohne Russland stattfinden. Was hat das für einen Sinn, wenn sich Staatschefs treffen, um über einen Frieden in der Ukraine zu verhandeln, ohne dass einer der beiden Hauptakteure mit am Tisch sitzt?
Die Teilnehmer an dieser Konferenz sollten sich fragen, ob Selenskyjs 10-Punkte-Plan die Ukraine dem Frieden auch nur einen Schritt näher bringt. Unabhängig davon, wieviele Staaten den Plan unterstützen, ist entscheidend, ob Russland bereit wäre, ihn als Verhandlungsgrundlage zu akzeptieren, denn das Ergebnis jeder Verhandlung ist ein Interessensausgleich, ein Kompromiss. Das ist jedoch sehr unwahrscheinlich, denn der Plan enthält eine Reihe von Forderungen, deren Erfüllung durch Russland völlig unrealistisch ist. Ausserdem werden die Ursachen des Krieges ebenso ignoriert wie die entstandene militärische Lage. Ohne die Beteiligung Russlands ist die Konferenz deshalb in erster Linie eine PR-Veranstaltung der Ukraine. In dieser Situation müsste jedoch Selenskyjs vorrangiges Ziel eine Zukunftschance für das ukrainische Volk sein. Ich möchte deshalb noch einmal betonen: Wir dürfen nicht die Augen davor verschliessen, dass die Menschen in der Ukraine Frieden wollen. Die letzten Umfragen zeigen, dass eine grosse Mehrheit der Ukrainer eine diplomatische Lösung fordert. Diese Tatsache sollte westlichen Politikern zu denken geben. Denn wer die Ukraine retten will, muss sich dafür einsetzen, dass die Kampfhandlungen möglichst bald eingestellt und wieder Friedensverhandlungen zwischen den beiden kriegführenden Staaten aufgenommen werden.
Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
* General a. D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurskreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.