Von Florian Rötzer
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„Ein Mann rennt wie ein Hase die Straße entlang, wird von Soldaten verfolgt, zertrümmerte Gesichter, Menschen springen aus dem Fenster eines fahrenden Kleinbusses – solche Szenen sind heute in den sozialen Netzwerken zu sehen. Der Staat versprach, die Vorgänge zu untersuchen, unternahm aber nichts, und stattdessen begannen sie, in den Militärregistrierungs- und Einberufungsbüros (TCC) zu töten. Mehrere Menschen starben im TCC. Im Vergleich zu den Opfern an der Front oder durch russische Bombenangriffe mag das unbedeutend erscheinen. Für die Bevölkerung sind diese Fälle jedoch sehr demotivierend.“
Glaubt man dem deprimierenden Bericht des russischen Journalisten Shura Burtin, der nicht für russische Staatsmedien schreibt, sondern für oppositionelle Medien wie Meduza, hat sich die Situation in der Ukraine in den letzten anderthalb Jahren nicht nur wegen der russischen Angriffe, sondern wegen der Mobilisierung und der Jagd auf wehrfähige Männer stark verändert. An der Front herrscht bekanntlich Personalmangel, der Strom der Freiwilligen ist versiegt. Desertion geschieht massenhaft, ebenso wie Panik auf den Straßen herrscht wegen der Militärpatrouillen der Rekrutierungszentren TCC, die gewaltsam Männer verschleppen. Burtin war zwei Monate in der Ukraine, besuchte Kiew und den Donbass, sprach mit vielen Ukrainern und berichtet von seinen Erfahrungen. Auch in Kiew herrsche Angst, die Männer meiden die Straßen.
„Zu Beginn des Krieges hatte die Ukraine keinen Mangel an Soldaten – eine große Zahl Freiwilliger ging an die Front. Doch viele starben, und die Zahl der Menschen, die bereit waren, in den Krieg zu ziehen, wurde deutlich kleiner. Zunächst verteilten TCC-Patrouillen auf den Straßen Vorladungen und die Strafen für Flucht wurden strenger. Aber das half nichts, dann begannen sie, die Leute mit Gewalt zu fangen. Eine Patrouille hält einen an, schubst einen in einen Kleinbus und bringt einen zur ärztlichen Untersuchung ins Wehrmeldeamt, wo jeder für diensttauglich erklärt wird. Dieser Prozess wurde im Volksmund als „Busifizierung“ bekannt, das zweitbeliebteste Wort im Land. Noch am selben Abend oder am nächsten Morgen ist man bereits auf dem Weg ins Trainingslager.“ Und dann ist man schnell an der Front.
Man fragt sich, wo die Journalisten der ukrainischen Medien und vor allem die der Westmedien sich aufhalten oder warum sie die düstere Wirklichkeit in der Ukraine verschweigen, wenn die Schilderungen von Burtin stimmen: „Mir scheint, dass in der Ukraine ein Gefühl der Erschöpfung und Sinnlosigkeit herrscht“, schreibt er. Man darf allerdings davon ausgehen, dass Meduza den Bericht nicht veröffentlicht hätte, wenn der Journalist nicht vertrauenswürdig wäre, er also nicht russische Narrative verbreitet und Geschichten erfindet.
„Flucht aus dem Land ist ein Massenphänomen und ein großes kriminelles Geschäft. In den Nachrichten ist zu sehen, wie Grenzbeamte einige Männer, die versuchten, näher an die Grenze zu gelangen, aus ihren Autos zerrten, sie zu Boden warfen und auf sie eintraten. Die Moderatoren kommentieren etwa: Das haben die Betrüger verdient.“
Burtin gibt die Gespräche mit Ukrainern wieder, aber er macht auch deutlich, dass die ukrainische Führung ihr strategisches Spiel mit den Soldaten treibt:
„Wir erinnern uns: Als die Gegenoffensive im Herbst im Sande verlief, erschien im Economist ein Artikel von Salushnyi , in dem er von einer strategischen Sackgasse sprach. Danach äußerte sich Selenskij und sagte, er brauche keine Generäle, die von einer Sackgasse reden. Eine Kampagne gegen Salushnyi begann und er wurde entlassen. Und danach begannen alle Patrioten im gesamten Informationsfeld zu sagen, dass der Krieg lang sein würde. Niemand sprach über irgendwelche Friedensoptionen. Den Menschen wurde einfach eingetrichtert, dass wir unweigerlich auf einen langen Krieg gefasst seien, dass wir mit Putin nicht reden könnten und dass wir kämpfen müssten, solange wir könnten. Und jetzt stellt sich heraus, dass sie zwei Jahre lang gelogen haben? Wie viele Menschen sind in dieser Zeit gestorben? Zu welchem Zweck?“
Viel hat sich Burtin an der Front aufgehalten, etwa in der Nähe des scho lange umkämpften Pokrowsk, wo er seinen Journalistenkollege Kostya begleitet, der sich freiwillig gemeldet hat und als Fahrer eines Drohnenteams arbeitet. Nach den Berichten geht es im Militär hoch korrupt zu:
„Sie verstehen, dass ich nichts tue und wir alle nichts tun“, sagt Kostja. „Was wir auf den Markt bringen, ist ein Kinderspielzeug. Die Hälfte der Flugzeuge stürzt einfach irgendwo auf den Feldern ab, die andere Hälfte fliegt hinter die Frontlinie; in drei Monaten, so scheint es, haben wir zweimal jemanden getroffen. Und wir sind jeden Tag ausgeflogen – was halten Sie von den Statistiken? Ihre Lenkbarkeit lässt so stark nach, dass es einem Wunder gleicht, mit ihnen etwas zu treffen. Uns wurden die besten Flugzeuge versprochen, aber die Armee hat ihre Versprechen nicht eingehalten. Mit der Anzahl der Kampfeinsätze zu prahlen, die wir geflogen sind, ist, als wäre man stolz darauf, wie oft man sich einen runtergeholt hat.“
Die Wirklichkeit an der Front ist furchtbar nach den Erzählungen. Schützengräben und Unterstände sind kein Schutz mehr, sondern Fallen. Drohnen werfen Granaten anders als Artillerie zentimetergenau in die Gräben ab oder fliegen direkt in die Unterstände. Jeder Schritt auf offenem Gelände ist ein Todesrisiko. Ein Soldat berichtet:
„Über den Unterständen, in denen sich die Infanterie versteckt, schweben ständig Aufklärungsdrohnen. Es sind so viele von ihnen über den Stellungen, dass die Luft wie ein Bienenschwarm summt. Die Drohnen agieren in einem Karussell: Wenn einer von ihnen die Batterie ausgeht, fliegt eine andere ein, um ihren Platz einzunehmen. Von Zeit zu Zeit schleichen FPVs, Kamikaze-Drohnen, über Stellungen, um einen Soldaten zu töten, der hinausschaut, oder fliegen in einen Unterstand und explodieren dort. Wenn sie scheitert, explodiert sie und verwandelt sich in einen zufälligen Müllhaufen. Drohnen halten rund um die Uhr Wache, wenn Verwundete aus dem Unterstand geborgen werden (um sie zum Evakuierungspunkt zu bringen). Sobald sie dies bemerken, fliegen FPVs oder Drohnen ein und werfen Granaten ab. Drohnen können sowohl bei Tag als auch bei Nacht sehen, haben jedoch eine schlechte Sicht im Graubereich, also in der Dämmerung. Dies ist eine kleine Zeitspanne von etwa 20 Minuten morgens und abends, auf die die Infanterie wartet.“
Man gewinnt den Eindruck, dass die Verluste sehr groß sein müssen, oft scheinen die Einheiten nur noch aus einem Fünftel ihrer normalen Stärke zu bestehen. Schlimm ist auch, dass die Verletzten nur unter Mühen und oft zu spät evakuiert werden können:
„Die größte Tragödie der gegenwärtigen Kriegsphase besteht wahrscheinlich darin, dass es nicht möglich ist, die Verwundeten schnell zu evakuieren. Jeder Medevac wird von Drohnen gejagt, daher ist ein Transport nur ‚im Graubereich‘ oder im Nebel möglich. Drei bis fünf Tage liegen die Verwundeten in ihren Stellungen, leiden und sterben: Das Überleben hängt vor allem von der Geschwindigkeit der Einlieferung ins Krankenhaus ab. Der Angriff auf medizinische Evakuierungsfahrzeuge ist ein Kriegsverbrechen, aber Drohnen tun nichts anderes.“
Burtin hat während einer Zugfahrt erfahren, dass sich die Stimmung verändert hat. Er erlebt Frauen, die ernüchtert vom Krieg sind, und Soldaten, die zwar am Kampf festhalten, aber die Kritik akzeptieren. Es herrsche trotz der Auseinandersetzung eine freundliche Stimmung, schreibt Burtin:
„Im Dezember 2024 galt es immer noch als Hochverrat, öffentlich zu erklären, der Krieg müsse beendet werden. Obwohl in privaten Gesprächen viele Leute sagten: ‚Sie sollen an ihrem Donbass ersticken, wenn das alles nur bald aufhören würde!‘ Aber natürlich konnten nur wenige Menschen so etwas laut sagen. Und schon im Februar wurde ich Zeuge folgender Szene: In einem Abteilwagen saßen auf der unteren Pritsche Militärs – ein muskulöser junger SA-Soldat und ein älterer Pionier, ihnen gegenüber saß eine Frau. ‚Lasst uns dem Ganzen ein Ende setzen!‘, sagt sie laut. ‚Für Sie ist es bequem zu kämpfen, Sie werden dafür bezahlt.‘ … ‚Es wird noch schlimmer‘, stimmt der Sturmtruppler plötzlich zu. ‚Weil jeder, der zur Armee eingezogen wird, sagt: ‚Was bin ich für ein Idiot?‘ Lasst die Söhne der Abgeordneten kämpfen!‘“
Über die Wirklichkeit des Kriegs wird bei uns nicht gesprochen. Politiker und die meisten Medien schüren die Angst vor den Russen und propagieren, dass die Ukrainer weiterkämpfen müssen, auch wenn Trump die Militärhilfe einstellen sollte. Die Europäer meinen, sie sind die Guten, wenn sie Militärhilfe leisten, um der Ukraine, die zudem angeblich für Europa kämpft, zu helfen, Stärke für Friedensverhandlungen zu zeigen, während das Land ausblutet. Anstatt alles zu tun, um den Krieg zu beenden und eine für alle Seiten akzeptable Friedensordnung zu schaffen, sollen die Ukrainer weiter in einem aussichtslosen Kampf sterben, dem wir aus der Ferne zuschauen, ohne die schreckliche Wirklichkeit wahrnehmen zu wollen. Und wir sollen uns kriegstüchtig machen, um gegen die Russen oder die Chinesen zu kämpfen.
Schauen wir uns die vielen Videos über den Einsatz von Drohnen und dem grausamen Schrecken, den sie verbreiten, endlich an. Niemand will und niemand soll so abgeschlachtet werden, niemand soll so andere Menschen jagen und ermorden. Und für was? Manche wissen auch noch, was ihre Väter, die überlebt haben, vom Zweiten Weltkrieg erzählt haben, die nachts immer wieder schreiend von Albträumen aufgewacht sind. Schonungslose Berichte wie die von Shura Burtin wecken auf. Aber das sollen wir offensichtlich nicht, wenn uns solche Berichte vorenthalten werden, wir sollen tötungstüchtig in den Krieg taumeln und diesen informationsbetäubt unterstützen.
Erstveröffentlicht im Overton Magazin
https://overton-magazin.de/top-story/ukraine-ein-langer-krieg-ist-eine-katastrophe-fuer-die-gesellschaft/
Wir danken für das Publikationsrecht.