»Nicht wir brechen das Gesetz«

Der Gewerkschafter Maurizio Gueglio über blockierte Waffenlieferungen im Hafen von Genua

Bild: Katrin Fritsch

Interview: Peter Nowak

Wie ist euer Hafenarbeiter*innenkollektiv entstanden?

Das Collettivo Autonomo Lavoratori Portuali (CALP) ist in seiner jetzigen Form vor rund zehn Jahren entstanden, inspiriert von sozialen Kämpfen auf vielen Kontinenten in dieser Zeit. In der arabischen Welt fegten die Protestbewegungen damals ein Regime nach dem anderen weg, in New York bauten die Aktiven von Occupy Wall Street gerade ihre Camps auf. Mitte Oktober 2011 machten Menschen auf der ganzen Welt ihrem Ärger über die Macht der Banken und die Auswüchse der Finanzmärkte Luft.

Was hatten die Kämpfe in den USA und der arabischen Welt mit Ihnen zu tun?

Es gab damals auch soziale Kämpfe in vielen Ländern Europas, in Griechenland, in Spanien und auch in Italien. So gingen in Rom im Oktober 2011 weit über 100 000 Personen gegen die Sparpläne der Berlusconi-Regierung und den Einfluss Brüssels auf die Straße. Die Demonstration endete mit Wasserwerfern, Tränengas und vielen Verletzten. Auch eine Gruppe Hafenarbeiter*innen war für den Protesttag aus Genua in die Hauptstadt gereist. Diese Erfahrung war sehr inspirierend. Auf der Heimfahrt von Rom nach Genua ist die Idee entstanden, uns als Hafenarbeiter*innen neu zu organisieren, weil wir uns vom größten Gewerkschaftsbund Italiens nicht vertreten fühlten.

Was wollten Sie anders als die großen Gewerkschaften machen?

Uns ist es von Anfang an darum gegangen, den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen im Hafen mit anderen Kämpfen zu verbinden. Es ging uns also nie nur um die Sicherung unserer Arbeitsplätze und es ging schon gar nicht darum, unsere Arbeitsplätze zu verteidigen, wenn sie zu Elend und sogar Tod in anderen Teilen der Welt beitragen. Deshalb blockieren wir Waffenlieferungen, beteiligen uns an antifaschistischen Kämpfen und machen auf die Situation Geflüchteter an Europas Grenzen aufmerksam.

Was sagen Sie zu Kolleg*innen, die ihre Arbeitsplätze in der Rüstungs­industrie und im Rüstungstransport verteidigen?

Diese Position lehnen wir entschieden ab. Wir sind Antimilitarist*innen und sehen uns in einer langen Tradition der Antikriegsarbeit der Arbeiter*innenbewegung. Deswegen sind wir gegen die Waffenlieferungen. Es geht darum, für Arbeitsplätze zu kämpfen, in denen für den Frieden und für ökologische und soziale Belange produziert wird. Wir fordern in unseren Flugblättern und Zeitungen, dass Gelder für diese sozialen Belange und nicht für Militär und Rüstung ausgegeben werden.

Gegen wen richtete sich Ihre erste Blockade von Waffenlieferungen?

Wir blockierten 2019 im Hafen von Genua Waffenlieferungen an das autokratische Regime in Saudi-Arabien, die dort für den Krieg im Jemen eingesetzt werden sollten. Dort starben weitgehend unbemerkt von Westeuropa Tausende Menschen in einem Bürgerkrieg, der wesentlich von auswärtigen Mächten wie Saudi-Arabien befeuert wurde.

Es gibt auch Linke, die Waffenlieferungen an die von der russischen Armee angegriffene Ukra­ine als Akt der Solidarität begreifen. Wären Blockaden dieser Waffenlieferungen dann nicht sogar unsolidarisch?

Dem würden wir klar widersprechen. Waffen an die Ukra­ine sind keine Solidarität, sondern tragen nur dazu bei, dass auf beiden Seiten noch mehr Menschen zu Tode kommen. Dazu zählen Zivilist*innen ebenso wie Soldaten, die oft zwangsweise beim Militär sind. Für uns beginnt der Krieg in der Ukraine nicht erst 2022, sondern spätestens 2014. Seit dieser Zeit sind Tausende Menschen im Osten der Ukraine gestorben, auch durch Bomben der ukrainischen Armee. Wir sind aber sehr wohl für Solidarität mit der Ukraine und den ukra­ini­schen Arbeiter*innen. Wir unterstützen sie im Kampf gegen neoliberale und gewerkschaftsfeindliche Gesetze, die die Rechte der Arbeiter*innen weiter einschränken.

Wie reagiert die italienische Gesellschaft auf Ihren Widerstand gegen Waffenlieferungen?

Wir bekommen natürlich viel Unterstützung bei Antimilitarist*innen und Kriegsgegner*innen in Italien. Das ist immer noch ein großer Teil der italienischen Bevölkerung, weit über linke Kreise hinaus. Hinzu kommt, dass es Gesetze in Italien gibt, die den Transport von Waffen über Häfen des Landes verbieten. Nicht wir brechen das Gesetz, wenn wir Waffentransporte blockieren. Das Gesetz wird vielmehr von denen gebrochen, die diese Transporte genehmigen und durchsetzen.

Haben Sie auch Kontakte zu Gewerkschaften in anderen Ländern?

Es gibt Kooperationen mit kleinen kämpferischen Gewerkschaften in Frankreich, Spanien und Griechenland. Dazu gehört die Gewerkschaft PAME (Militante Arbeiterfront, eine der Kommunistischen Partei Griechenlands nahestehende Organisa­tion, Anm. d. Red.), die 2022 Waffenlieferungen an die Ukraine blockiert hat. Wir versuchen, auch in Deutschland Kontakte zu Hafenarbeiter*innen zu bekommen, was aber sehr schwer ist. Das liegt auch an den Gewerkschaften in Deutschland, die keine klare antimilitaristische Postion vertreten.

Wird die Zusammenarbeit nicht durch den Krieg in der Ukra­ine erschwert?

Es gab und gibt viele Probleme, die schon lange vor dem Ukraine-Konflikt begonnen haben. Beispielsweise gab es eine Spaltung im Weltgewerkschaftsbund, in dem wir als Basisgewerkschaft USB Mitglied sind. So sind einige Gewerkschaften aus Bric-Staaten, in denen es eine starke Arbeiter*innenbewegung gibt, aus dem Weltgewerkschaftsbund ausgestiegen. Der Weltgewerkschaftsbund wurde schon in den 90er Jahren erheblich geschwächt, als einflussreiche Gewerkschaften wie die CGT aus Frankreich den internationalen Verband verlassen hatten. Es war die Zeit, als auch viele linke Gewerkschafter*innen nicht mehr an ein Ende des Kapitalismus glaubten. Das hat sich heute in Zeiten von Kriegen und kapitalistischer Krise geändert.

Gibt es Kriminalisierungsversuche gegen Ihre Gewerkschaft?

Ja, im Sommer 2022 gab es Razzien in den Büros italienischer Basisgewerkschaften. Im Zuge dessen wurden vier Gewerkschaftssekretäre zeitweise unter Hausarrest gestellt. Ermittelt wurde wegen der Gründung einer kriminellen Vereinigung. Auslöser für diese Anklage waren Streiks in den Logistikfirmen von Piacenza in den Jahren 2014 bis 2021. Der Staatsanwaltschaft zufolge wurden diese Arbeitskämpfe mit »erpresserischen Absichten« durchgeführt, um bessere Bedingungen für die Arbeiter*innen zu erreichen, als im nationalen Tarifvertrag der großen Gewerkschaften vereinbart war.

Macht Ihnen das nicht Angst?

Nein, das macht mich entschlossener. Wir haben sofort die Kampagne »Streiks sind kein Verbrechen« gestartet. Mittlerweile sind die Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung eingestellt. Andere juristische Verfahren, auch gegen mich, laufen noch.


Maurizio Gueglio ist Mitbegründer des Autonomen Komitees der Hafenarbeiter in Genua (CALP). Er hat lange Zeit als Hafenarbeiter gearbeitet und ist mittlerweile Sekretär der linken Basisgewerkschaft USB.

Erstveröffentlicht im nd v. 29.3. 2024
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181091.hafenarbeiter-in-genua-blockierte-waffenlieferungen-nicht-wir-brechen-das-gesetz.html?sstr=Nicht|wir|brechen

Wir danken für das Publikationsrecht.

Berliner Ostermarsch 2024: „Kriegstüchtig“ – nein. Wir sind „friedenssüchtig“

Mit den Worten „Wir sind mehr als im letzten Jahr, aber immer noch nicht genug!“ kommentierte Jutta Kausch-Henken von der Berliner Friko die Resonanz auf den Aufruf des Bündnisses zum diesjährigen Ostermarsch, der diesmal in der Karl-Marx-Alle begann und endete. 5 000 Teilnehmer:innen wurden gezählt. Die bei geradezu frühlingshaftem Wetter durchgeführte Antikriegsaktion stand unter der Losung „Kriegstüchtig – nie wieder“. Sie war getragen vom Selbstbewusstsein, die unverzichtbare Stimme zu sein, die auf die großen Gefahren und auf das Leid hinweist, die insbesondere der Krieg in der Ukraine und der im Nahem Osten nicht nur für die direkt betroffenen Menschen sondern für eine zukunftsfähige Entwicklung der Menschheit überhaupt bedeuten. Mit Sorge nehmen wir zur Kenntnnis, wie in der deutschen Politik und in den meinungsbildenden Medien Aufrüstung und Krieg als alternativlose Antworten auf Konflikte zwischen Staaten rehabilitiert werden – in einem Land, in dem lange die Einsicht gepflegt wurde, dass von deutschen Boden nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe. Nicht zu Unrecht wies Christoph Krämer als Vertreter der Internationalen Ärzt:innen für die Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW) in seiner Kundgebungsrede darauf hin, dass der mit großer Mehrheit gefasste Beschluss des Bundestages, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen, die tief in das russische Territorium reichen, wie eine Kriegserklärung an Russland klingen. Großen Beifall erhielt auch ein Redner der Gruppe Eye4Palestine, der u.a. daran erinnerte, dass die Vertreibung der Palästinenser auch eine Folge der deutschen NS-Politik gewesen ist und die aktuellen Waffenlieferungen Deutschlands an Israel, das damit einen Genozid durchführt, eher diese Tradition fortsetzt als dass daraus die richtigen Konsequenzen gezogen würden.

Auch wenn es in den Parlamenten eine große Mehrheit gibt, die eine Eskalation des Krieges zwischen Russland und der NATO befürwortet, trifft dies keineswegs für die Bevölkerung zu, die sich nach jüngsten Umfragen in großer Mehrheit für Deeskalation und für diplomatische Initiativen ausspricht. Da kann man es nur als irreführend und als absolut selbstbeschädigend bezeichnen, wenn der Berliner Tagesspiegel im Vorfeld des Ostermarsches kommentierte: „Niemand braucht diesen Ostermarsch!“ Eher könnte man zu dem Schluss kommen, dass alle, die sich an diesem Kriege nicht bereichern können, mutige zivilgesellschaftliche Initiativen benötigen, um eine Zeitenwende zu erkämpfen, die ihren Namen verdient und nicht die Zukunft von Generationen verspielt. Die Opfer des Krieges gehen inzwischen in die Hundertausende. Die Ukraine selbst wird zunehmend verwüstet. Soll dieser Wahnsinn nun über Monate, oder gar Jahre fortgesetzt werden, nur damit die sicher geglaubten Renditeerwartungen der Markt beherrschenden und auch die Politik dominierenden Kapitalgruppen durch das drohende Ausbleiben des erhofften „Siegfriedens“ nicht verhagelt werden?

In der Tat stehen wir hier immer noch am Anfang. Die Größe der Herausforderungen und unsere Fähigkeit, diese zu bestehen, stehen in einem schmerzhaften Missverhältnis zueinander. Das zeigte sich auch am Altersdurchschnitt der Teilnehmer:innen, die in ihrer großen Mehrheit noch als Kinder mit Kriegsfolgen zu tun hatten oder deren Spuren im Leben der Eltern miterleben konnten. Bei den großen Demonstrationen gegen die geplante Stationierung von US-Atomraketen der 1980er-Jahre trug die junge Generation noch diese Aktionen. Die heutige scheint eher handlungsunfähig. Offensichtlich führt die emotionale Wucht, mit der vor allem medial hier zu Lande Kriegsnarrative gepflegt werden, dazu, dass sich die junge Generation nur sehr sehr zögerlich den real existierenden Gefahren stellt, die ja insbesondere sie treffen.

Im folgenden erste mediale Eindrücke der Aktion vom Samstag.
Hier sind alle Reden als Video und als Text nachzuhören und nachzulesen:
https://widerstaendig.de/30-03-2024-ostermarsch-2024-berlin/

Bilder: Ingo Müller & Lotte Roiztsch & Klaus Ihlau

Offener Brief eines Friedensaktivisten an den Bundeskanzler zu Ostern

Diese eindringliche Stellungnahme von Heinz Michael Vilsmeier bündelt aktuelle Fragen und Argumente für unser Überleben und zur Glaubwürdigkeit Deutschlands , hart an den Fakten. Es lohnt sich, sie ganz zu Ende zu lesen. (Peter Vlatten)

Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz

Heinz Michael Vilsmeier, Pressesprecher Münchner Friedensbündnis

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

ich bin nur ein einfacher Bürger der Bundesrepublik Deutschland. – Wenn ich nun diesen Brief an Sie verfasse, tue ich dies in der Überzeugung, dass ich damit auch die Gedanken der meisten Menschen in diesem Land zum Ausdruck bringe. Viele Menschen haben Angst vor einem großen Krieg und sie wünschen sich, dass wir endlich alle Kräfte auf die Lösung der Menschheitsprobleme fokussieren und nicht auf die Steigerung der Militärausgaben. – Doch das Gegenteil geschieht, und Ihre Regierung ist verantwortlich dafür. Einige von uns finden die Kraft und setzen sich proaktiv für die Wiederherstellung des Friedens in Europa und im Nahen Osten ein. –Sie sagten: „Wer als Friedenstaube umherläuft, ist ein gefallener Engel, der aus der Hölle kommt“. – Was haben Sie sich dabei gedacht? – Nein, wir sind keine gefallenen Engel, die aus der Hölle kommen, wir sind diejenigen, die noch die Kraft aufbringen, sich für den Frieden einzusetzen! Wir tun das, was Sie tun müssten und was eigentlich auch die große Mehrheit der Bevölkerung tun müsste. Doch die kämpfen tagtäglich gegen die Angst vor einem Krieg, die immer größer wird und die sie wie gelähmt auf das blicken, was sich auf den Schlachtfeldern gerade ereignet. – Wird es bald auch bei uns so sein, werden sie sich fragen. Werden bald auch unsere Häuser und Städte bombardiert und unsere Kinder getötet?

Als Bürger dieses Staates möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie bei ihrem Amtsantritt am 8. Dezember 2021 im Plenarsaal des Bundestages den in Artikel 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Amtseid geleistet haben. Damit haben Sie sich verpflichtet, Ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm abzuwenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen, Ihre Pflichten gewissenhaft zu erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben.

Nun ist zu beobachten, dass das staatliche Handeln der von Ihnen geführten Regierung in vielerlei Hinsicht nicht nur gegen die politische Agenda verstößt, mit der Ihre Regierung angetreten ist, sondern auch, und das ist sehr schwerwiegend, gegen den von Ihnen geleisteten Amtseid. – Als Bundeskanzler tragen Sie die Verantwortung dafür.

Ich möchte diesen Vorwurf begründen:

Der gesellschaftliche Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland ist in Ihrer Amtszeit in eine Spirale militaristischen Denkens geraten, die das Land und die hier lebenden Menschen in die Nähe einer militärischen Konfrontation gebracht hat. Ihre Außenministerin hat mit ihren unbedachten Äußerungen ebenso dazu beigetragen wie Ihr Stellvertreter und Wirtschaftsminister und der von Ihnen ins Amt berufene Verteidigungsminister. Von den militaristisch schwadronierenden Mandatsträger*innen möchte ich gar nicht reden. – Sie, Herr Bundeskanzler, haben nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in den Nachbarstaat Ukraine eine Zeitenwende verkündet und Sie haben damit die beschriebene Entwicklung eingeleitet. Nachdem die Zahlungen der USA zur Finanzierung des Krieges in der Ukraine nicht mehr fließen, haben Sie Deutschland de facto zum größten Finanzier eines Krieges gemacht, der sich anders entwickelt, als die Befürworter einer militärischen Lösung dachten. Tatsache ist, dass die Armee Russlands auf dem Vormarsch ist und die Ukraine sich einer Niederlage rasant nähert. Sie selbst präsentierensich ungewollt als ein Bundeskanzler, der sich von den Apologeten einer Lösung auf dem Schlachtfeld treiben lässt. Und wenn Sie im Plenum des Deutschen Bundestags beteuern, dass Russland nicht stark sei, dann wirkt das angesichts der Aussichtslosigkeit für die Ukraine auf dem Schlachtfeld einen Sieg erringen zu können, wie Pfeifen im dunklen Wald. – Sie wissen doch, dass eine Eskalation des Krieges in der Ukraine unter allen Umständen vermieden werden muss – einfach aufgrund der Tatsache, dass Russland nicht nur über die größere Armee verfügt, sondern vor allem über Tausende von Atomsprengköpfen. Raketen, die diese Sprengköpfe innerhalb weniger Minuten nach Berlin tragen könnten, sind in Kaliningrad stationiert. – Wollen Sie wirklich den Kriegstreibern Glauben schenken, die davon reden, dass der von russischen Wortführern angedrohte Einsatz von Atomwaffen sowieso nicht stattfinden werde? – Auf welcher Grundlage wollen Sie das tun? Glauben Sie ernsthaft, die Volksrepublik China würde einer militärischen Niederlage Russlands herbeigeführt durch wen auch immer seelenruhig zusehen? – Ein solches Ereignis würde die geopolitischen Machtverhältnisse derart verändern, dass diese Veränderung weder von China noch von den anderen Länder des globalen Südens hingenommen werden könnten. Eine militärische Niederlage Russlands wäre nicht im strategischen Interesse Chinas, ergo würde China das mit allen Mitteln verhindern. – Ein Russland, das von den NATO-Staaten beherrscht würde, wäre für China ein No Go! – Angesichts des militärischen Vorrückens Russlands in der Ukraine schrumpft der Zeitraum, in dem vielleicht noch eine Verhandlungslösung herbeigeführt werden könnte, rapide zusammen. – Es ist an Ihnen, Herr Bundeskanzler, diese Zeit nicht verstreichen zu lassen. So schwer es Ihnen auch erscheinen mag, setzen Sie sich ein für die Herbeiführung eines Waffenstillstandes, der das Ziel hat, den Krieg in der Ukraine mit friedlichen Mitteln zu beenden und vertragliche Regelungen für eine neue kollektive Sicherheitsordnung in Europa zu schaffen. – Sie wissen selbst, dass immer mehr der großen Projekte ihrer Bundesregierung, der militaristischen Zeitenwende dem Krieg geopfert werden und dass die Lösung drängender Problem, angefangen vom Kampf gegen die Klimakatastrophe hin zu den gesellschaftlichen Herausforderungen wie Umbau der Infrastrukturen, Bewältigung der demografischen Herausforderungen, Integration von Migranten, Wohnungsbau, Gewährleistung von Bildung und Gesundheit auf der Strecke bleiben. – Die Folge ist, dass Ihre Regierungszeit für gesellschaftlichen und kulturellen Niedergang stehen wird, einfach deswegen, weil Sie die Mittel, die erforderlich wären, um die wichtigen Probleme zu lösen, in die Finanzierung eines sinnlosen Krieges und einer nie da gewesenen Aufrüstung geleitet haben? – Hören Sie auf damit und machen Sie endlich das, was Sie versprochen haben!

Der zweite Vorwurf, mit dem ich Ihr Regierungshandeln kritisiere, betrifft Ihr Agieren im Gazakrieg: Sie stellen Deutschland bedingungslos auf die Seite der israelischen Regierung, Sie geben vor, dies entspreche der Staatsräson Deutschlands. – Mit Verlaub, Herr Bundeskanzler, da irren Sie! – Die Staatsräson Deutschlands erwächst aus der historischen Schuld, die Deutschland durch den Holocaust an den europäischen Juden auf sich geladen hat. Die Folge daraus kann nicht sein, dass jegliches Handeln einer israelischen Regierung per se gutgeheißen werden muss. – Kritik an der israelischen Regierung ist auch kein Antisemitismus! – Indem Sie kritiklos agieren, laden Sie neue Schuld auf Deutschland, nämlich die Schuld gegenüber der arabischen Bevölkerung Palästinas. Sie tun dies, weil Sie das Handeln der Regierung Netanjahu in Gaza bedingungslos unterstützen.

Leseempfehlung hierzu: "Nahost - Deutsche Staatsräson steht international mit dem Rücken zur Wand!"

Diese Regierung hat 2018 die Grundlagen für ein majoritäres System geschaffen, das die Rechte der arabischen Bevölkerung beschneidet. Netanjahus Regierung hat der Knesset ein Nationalstaatsgesetz vorgelegt, in dem es heißt: „Der Staat Israel sieht in der Weiterentwicklung der jüdischen Besiedlung einen nationalen Wert. Er setzt sich dafür ein, die Etablierung und die Konsolidierung jüdischer Besiedlung anzuspornen und voranzutreiben.“ – Wie ist das anders zu verstehen, als dass der weiteren Vertreibung der arabischen Bevölkerung Verfassungsrang eingeräumt wurde?
Ihre Nibelungentreue, Herr Bundeskanzler, gegenüber der israelischen Regierung ist fehl am Platz und wird der historischen Verantwortung, die Deutschland aus dem Holocaust erwachsen ist, nicht gerecht. – Wenn der beste Freund betrunken Autofahren will, gibt man ihm nicht die Autoschlüssel in die Hand und wünscht ihm eine gute Fahrt. – Doch genau das tun Sie, Herr Bundeskanzler, gegenüber der Regierung Netanjahu. – Dabei verraten Sie ganz nebenbei die Werte, die das Fundament der Demokratie in Deutschland sind. – Die „wertegeleitete Außenpolitik“ Deutschlands, die von Frau Baerbock propagiert wird, hat auch durch Ihre bedingungslose Unterstützung Netanjahus längst ihre Glaubwürdigkeit verloren. Der globale Süden und insbesondere die arabische Welt haben erkannt, dass Deutschland Menschenleben und Menschenrechte höchst unterschiedlich bewertet.

Und so kommt es, das ist mein dritter Vorwurf, dass Nicaragua am 1. März 2024 vor dem Internationalen Gerichtshof eine Klage gegen Deutschland einreichen konnte. Diese Klage baut auf dem Beschluss des IGH vom 26.1.2024 auf, in dem eine plausible Begehung von Völkermord im Gazastreifen durch Israel festgestellt wurde. Nicaragua wirft Deutschland vor, dass dessen militärische Unterstützung und die gleichzeitige Aussetzung der UNRWA-Finanzierung durch die Bundesregierung gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen sowohl aus der Völkermordkonvention als auch aus der Genfer Konvention verstößt. Und drittens erhebt Nicaragua den Vorwurf, dass Deutschland gegen die Verpflichtung zur Zusammenarbeit bei der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes und des Verbotes der Apartheid verstößt.

Sie wissen, dass sowohl Deutschland als auch Nicaragua, anders als Israel und Südafrika, die obligatorische Zuständigkeit des IGH für jegliche Arten von Rechtsfragen anerkannt hat. – Deutschland steht demnach unter der Gerichtsbarkeit des IGH – wie finden Sie es, dass möglicherweise unter Ihrer Kanzlerschaft eine Verurteilung Ihrer Regierung durch den IGH erfolgen wird?

Wie Sie vielleicht auch wissen, hat eine Gruppe international renommierter Völkerrechtler bei der Generalbundesanwaltschaft Strafanzeige gegen die Bundesregierung eingereicht. Darin werden den angezeigten Personen drei Handlungen vorgeworfen, die Genehmigung von Waffenexporten nach Israel, die politische und diplomatische Unterstützung Israels durch öffentliche Äußerungen und das Abstimmungsverhalten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen und drittens durch die Aussetzung der finanziellen Unterstützung des UNRWA, also des UN-Hilfswerks, nachdem der IGH am 26.1.24 entschieden hatte, dass Israel verpflichtet ist, humanitäre Hilfe zu leisten – was es aber nicht tut.

Stattdessen findet vor den Augen der Weltöffentlichkeit im Gazastreifen eine humanitäre Katastrophe statt. An die 33.000 Menschen, der Großteil von ihnen Frauen und Kinder und an die 80.000 Verwundete gibt es bereits, und die israelische Armee greift weiterhin Ziele im Gebiet von Rafah an, wo sich über eine Million Menschen hin geflüchtet haben.

Sie haben immer wieder betont, Herr Bundeskanzler, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen. Angesichts des Angriffs der Hamas vom 7.Oktober 2023, der vielen Opfer und der vielen entführten Geiseln aus dieser Terrortat sei Ihre Aussage unbestritten. – Doch die gezielte Zerstörung des Gazastreifens, die massenhafte Tötung von Zivilisten und die Verwundung von Palästinenser*innen hat nichts mehr mit Selbstverteidigung zu tun. – Die hohen zivilen Opferzahlen, die schon nach wenigen Monaten die zivilen Opferzahlen in der Ukraine nach 2 Jahren Krieg um das Doppelte übersteigen, indizieren eine fehlende Differenzierung zwischen militärischen und zivilen Zielen durch die israelische Armee. Es liegt der Schluss nahe, dass dort die Regeln des humanitären Völkerrechts verletzt werden und das unter Einsatz von aus Deutschland gelieferten Waffen. – Es könnte sein, dass das Gericht darin eine Beihilfe zum Völkermord erkennt – wir werden sehen. – Wenn aber Außenministerin Baerbock nun für humanitäre Feuerpausen plädiert, die Waffenlieferungen aber weitergehen, versteht das kein Mensch auch nicht, wenn die Luftwaffe medienwirksam einige Carepakete über dem Gazastreifen abwirft. – Wer ernsthaft einen Waffenstillstand will, darf keine Waffen liefern, andernfalls macht er sich unglaubwürdig.

Ich frage mich, Herr Bundeskanzler, wo Sie eigentlich stehen und hoffe, trotz ihrer infamen Beschimpfungen der Friedensbewegung, dass Sie heimlich daran arbeiten, dass es zu Verhandlungen kommt, sowohl in der Ukraine als auch zwischen Israel und den Palästinenser*innen.

In diesem Sinne auch Ihnen Frohe Ostern!

Heinz Michael Vilsmeier

Diese Seite verwendet u. a. Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung