Gegenwehr von Jobcenter bis Werkbank

Warum es im Interesse der Gewerkschaften liegt, sich gegen die »neue Grundsicherung« einzusetzen

Von Sarah Yolanda Koss

Bild: Der Paritätische

In Anspielung auf Merz’ »Herbst der Reformen« mobilisiert ein Bündnis zum »Herbst der Gegenwehr«. Von Freiburg bis Bremerhaven protestieren Erwerbs­losen­gruppen und Gewerkschaften gegen die »neue Grundsicherung«.

»Geplant ist ein Generalangriff auf den Sozialstaat«, schreibt das Bündnis »AufRecht bestehen« in einer Pressemitteilung. Gemeint ist die sogenannte »neue Grundsicherung«, die, wie Anfang Oktober von der Bundesregierung vorgestellt, das Bürgergeld ablösen soll. Bis zu zehn Prozent der ehemaligen Kosten, etwa fünf Milliarden Euro, könne der Staat laut Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), so einsparen. Einem Papier aus Regierungskreisen zufolge werde die Reform dagegen keine nennenswerten Einsparungen bringen, schreibt die »Zeit«.

Erreichen will die Bundesregierung jene Einsparungen jedenfalls über Sanktionen. Ab einem verpassten Termin beim Jobcenter droht eine Kürzung der Geldleistung um 30 Prozent, ab vier verpassten Terminen sollen Personen in der Grundsicherung alle Leistungen gekürzt werden, inklusive Unterkunftskosten. Wenn Personen ein »zumutbares« Arbeitsangebot ablehnen, drohen »Totalsanktionen«, ihnen werden also alle Geldleistungen gekürzt. Außerdem plant die schwarz-rote Koalition, die Wohnkosten zu pauschalisieren und das Schonvermögen zu streichen, also jene Vermögenswerte, die bei der Beantragung von Bürgergeld nicht berücksichtigt werden.

Sparen will die Bundesregierung auch dadurch, Geflüchteten aus der Ukra­ine anstelle des Bürgergelds Asylbewerberleistungen auszuzahlen. Diese sind niedriger als das Bürgergeld. Der Chef der Arbeitsagentur Nordrhein-Westfalens, Roland Schüßler, bemängelte das zuletzt gegenüber der »Rheinischen Post«: Die Maßnahme führe zu Mehrausgaben, weil dadurch die Arbeitsmarktintegration verzögert werde.

Mit den Sanktionen beim Bürgergeld will SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas an »die Grenzen dessen gehen, was verfassungsrechtlich zulässig ist«. Eine Anspielung auf einen Entscheid des Bundesverfassungsgerichts von 2019, wonach eine vollständige Streichung von Leistungen das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verletzt.

»AufRecht bestehen« wirft die Frage auf, ob die Maßnahmen nicht doch einen Verfassungsbruch darstellen. Laut einem kürzlich veröffentlichten Gutachten des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes könnte bereits das Bürgergeld einem Entscheid des Bundesverfassungsgerichts widersprechen. »Statt der steigenden Armut entgegenzuwirken, will die Regierung Erwerbstätige mit durchschnittlichem oder niedrigem Einkommen gegen Erwerbslose, Rentner*innen und andere Menschen mit wenig Geld ausspielen und plant eine weitere Umverteilung von unten nach oben«, kritisiert »AufRecht bestehen«.

Entgegen der kritisierten Ausspielungen fordert das Bündnis aus Erwerbsloseninitiativen und Gewerkschaften, wie der Arbeitskreis Arbeitslosigkeit der IG Metall oder der Sozialhilfeverein Tacheles, diese Woche bei mehreren Informationsveranstaltungen armutsfeste Löhne, Renten und Existenzsicherungsleistungen für alle. Außerdem mehr Qualifizierungen und Weiterbildungen, wie sie ursprünglich im Bürgergeld vorgesehen waren, und bezahlbaren Wohnraum. Finanziert werden soll der Ausbau des Sozialstaats über eine Wiedereinsetzung der Vermögen- und eine Reform der Erbschaftsteuer.

»Wenn Sanktionen erhöht, Leistungen gestrichen werden und Erwerbslose gezwungen sind, jeglichen Job anzunehmen, steigt der Druck auf alle Löhne.«Rainer Timmermann Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen

Dass sich Gewerkschaften nun hinter Erwerbslose stellen, ist per se nicht verwunderlich, schließlich greift die Bundesregierung zum Beispiel mit dem Schonvermögen gewerkschaftliche Errungenschaften an. Zudem gibt es Familien im Bürgergeldbezug, deren unzureichende Löhne durch Sozialleistungen aufgefangen werden.

»Es ist die Kernaufgabe von Gewerkschaften, die Arbeits- und Lebensbedingungen von Menschen gemeinsam mit ihnen zu verbessern«, so Phi­lipp Singer, Erster Bevollmächtigter IG Metall Berlin, über das Bestreben von »AufRecht« auf nd-Anfrage. »Das schließt auch Menschen ein, die aktuell nicht in Arbeit sind, aber selbstverständlich Teil der Gesellschaft. Daher kämpfen wir auch mit ihnen dafür, dass die Grundsicherung als Abfederung für schwierige Lebenssituationen verbessert wird.«

Die Nullrunden beim Bürgergeld wirken sich auch auf die Grundsicherung im Alter aus, erklärt Ulla Pingel vom Arbeitskreis Rentner*innen mit geringem Einkommen bei Verdi im Gespräch mit »nd«. Der Arbeitskreis fordert bereits länger eine Erhöhung um 200 Euro, weil das Existenzminimum nicht gewährleistet sei.

Das Hauptargument für Gewerkschaften ist aber: »Wenn Sanktionen erhöht, Leistungen gestrichen werden und Erwerbslose gezwungen sind, jeglichen Job anzunehmen, steigt der Druck auf alle Löhne«, so Rainer Timmermann von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen zu »nd«. Das passiert zum Nachteil der Verhandlungsbasis der Gewerkschaften, ergo aller Arbeiter*innen. Ebenso wenn Erwerbstätige fürchten müssen, bei einer Kündigung durch das soziale Netz zu fallen. »Deshalb fordern wir einen funktionierenden Sozialstaat und Teilhabe für alle am Arbeitsmarkt.«

Die neuen Sanktionen werden kaum zu mehr Geld in der Staatskasse führen –und auch nicht zu mehr Beschäftigung. Das ist gar nicht unbedingt das Ziel der Reform. Denn Arbeitslosigkeit ist – neben einem Druckmittel auf Gewerkschaften – auch ein wirtschaftspolitisches Instrument. Könnten Arbeiter*innen bei Vollbeschäftigung höhere Löhne fordern, würden Unternehmen mit höheren Preisen reagieren und eine Lohn-Preis-Spirale nach sich ziehen. Dadurch käme es zu einer hohen Inflation.

Dass die Bundesregierung ein Interesse daran hat, Arbeitslosigkeit zu erhalten, zeigt sich exemplarisch an der »lohnstabilisierenden Arbeitslosenquote« die jedes Jahr im Bundesfinanzministerium berechnet wird. Der Zielwert lag 2024 bei 2,8 Prozent. Der Diskurs um angeblich arbeitsunwillige Bürgergeld-Beziehende verfälscht also die Realität und dient vor allem der Spaltung, wie sie das Bündnis »AufRecht bestehen« kritisiert.

Erstveröffentlicht im nd v. 23.10. 2025
https://nd.digital/editions/nd.DerTag/2025-10-23/articles/20156909

Wir danken für das Publikationsrecht.

„In Deutschland wird niemand obdachlos“ – in welcher Realität lebt dieser Kanzler eigentlich?

„In Deutschland wird niemand obdachlos“. Wieder so eine – von sozialer Kälte strotzende – realitätsferne Zweckbehauptung des deutschen Kanzlers, der mit einer Partei koaliert, die das Wörtchen „sozial“ in ihrem Namen trägt.

In Deutschland wird niemand obdachlos?

U. schreibt dazu: „Ich beziehe 1 Jahr Bürgergeld, mir wurden alle Anträge auf Übernahme der Miete, selbst die „angemessene“, abgelehnt. Meine Wohnung habe ich verloren, ebenso eine neue Wohnung, die zwar günstiger, aber immer noch „unangemessen“ war. Denn ich wusste nicht, dass ich eine Genehmigung brauchte. Derzeit bin ich in einer Klinik, aber sobald ich diese verlasse, bin ich ohne Obdach. Die Übernahme von Hostel-Kosten wurde ebenfalls abgelehnt.“

„Ich unterhalte mich oft auch mit Obdachlosen. Genau solche Geschichten wie die von U. erzählen einem die Leute, die auf der Strasse leben, immer wieder.“

„Viele Süchtige kommen aus der Langzeittherapie raus, zack Wohnung weg, werden obdachlos und werden wieder rückfällig.“

A. meint dazu: „Hier könnte Friedrich mit einer sozialeren Politik viel tun, um das Stadtbild zu verbessern.“

„Ich war obdachlos! Und warum? Mit 18 war die Jugendhilfe vorbei, nach Hause konnte ich nicht, aber Vermietern war ich zu jung. „In dem Alter macht ihr noch zu viel Blödsinn.“, „Du musst kriminell sein, wenn du in deinen jungen Jahren nicht bei Mami wohnen darfst.“ (Ich hab nichts erzählt, war seine persönliche Annahme), „In deinem Alter gibt es nur Party und Eskalation, das will doch niemand.“ Es dauerte ewig bis ich eine Wohnung gefunden hatte in der ich willkommen war und das nur wegen dem Alter.“

Seit Jahren wird der Bau von mehr Wohnungen versprochen. In der Realität Pustekuchen. Gerade für Jugendliche eine neue Wohnung zu finden, ist in Berlin nahezu unmöglich. Statt Wohnungen werden jetzt aber mit voller Power an 120 Bundeswehrstandorten 270 neue Unterkunftsgebäude hochgezogen, um für den „Krisenfall die benötigte Anzahl junger Männer“ unterbringen zu können.

L. kommentiert die sozialen Gegensätze: „Aber ja, der Friedrich, der 12000 Euro für den Friseur zur Verfügung stehen hat, weiß es ja besser: In Deutschland wird niemand obdachlos.“

Kanzler Merz inszeniert sich – wie sooft Politiker der politischen „Mitte“ – gern mal als Brandmauer gegen die AFD. Inhaltlich und faktisch verschiebt er den politischen Diskurs aber ganz weit nach rechts. Nicht nur in der Migrationspolitik. Auch in der Unterstützung der Kriegspolitik Israels, das nur die „Drecksarbeit“ für Deutschland mitmache. Zum ganz rechten Diskurs gehört auch, soziale Probleme einfach wegzuleugnen, um anschliessend umso leichter die Axt an den sozialen Aufgaben des Staates anlegen zu können. Geld und Kapazitäten werden schließlich wo anders gebraucht. Zum Beispiel für Kasernen und Bunker statt Wohnungen!

Es müssen menschenwürdige Lösungen und Unterkünfte her. Merz versucht das mit seiner Rethorik zu umgehen. Wenn wir echte menschenunwürdige Probleme im Stadtbild haben, dann gehört gerade Merz mit zu den Verursachern! Sein Motto: „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Die Betroffenen sind schuld. Weg mit den Flüchtlingen, zurück in Ihre Länder. Aber wohin mit den Obdachlosen, wenn es sie trotzdem gibt? Wohin will er mit Ihnen?

aktuell: Wehrpflicht "freiwillig", solange genügend willig sind! 



Titelbild: Foto Jochen Gester, Ausschnitt

Praxishandbuch Selbstverwaltung

Rechtsformen und Finanzierung für die Gründung von Kollektivbetrieben und Hausprojekten

Selbstverwaltete Kollektivbetriebe und Hausprojekte sind wichtige Bausteine in der Beschränkung des Marktzugriffs auf die Lebensrealität der Bevölkerung. Elisabeth Voss ist seit Jahrzehnten in Theorie und Praxis hier unterwegs und hat jetzt ein „Praxishandbuch Selbstverwaltung“ veröffentlicht. Gerne machen wir auf diese Publikation aufmerksam. (Red.)

Selbstverwaltete Kollektivbetriebe und Hausprojekte als Formen solidarischen Wirtschaftens stellen attraktive Alternativen zu herkömmlichem Arbeiten und Wohnen dar. Elisabeth Voss vermittelt Basiswissen zu Rechtsformen, Finanzierung sowie zur Gestaltung des sozialen Miteinanders. Sie ermutigt Gründungsgruppen, fundierte Entscheidungen nach ihren Bedürfnissen zu treffen, denn es gibt keine Lösung, die für alle passt. Die formalen Regelungen sollen dem sozialen Miteinander dienen, und auch das Geld ist lediglich ein Mittel zum Zweck. Praxisorientiert und mit vielen Beispielen versehen ist das Handbuch auch für Laien verständlich.

Im Anhang zum Praxishandbuch gibt es – neben einer umfangreichen Literaturliste – Verweise auf Praxisbeispiele sowie auf weitere Informationen und Anlaufstellen. Die Links stehen auf folgender Website zur Verfügung und werden bei Bedarf aktualisiert: https://praxishandbuch.elisabeth-voss.de

https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-7580-1/praxishandbuch-selbstverwaltung

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