»Wir verstehen uns als Teil der Umweltbewegung«

Interview in der OXI 9/22

Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, über die Möglichkeit, Treiber der sozialökologischen Transformation zu sein

Bild: IG Metall

Welche Rolle spielen ethische Fragen in der Arbeit Ihrer Gewerkschaft, Herr Urban?

Unsere Tarifpolitik, Sozialpolitik, aber auch unsere Gesellschafts- und Umweltpolitik orientiert sich natürlich an Werten, die wir für verbindlich halten und die Leitplanken unserer Politik sind. Dies ist der Fall, ohne dass wir das explizit als Ethik benennen und einen elaborierten ethischen Diskurs hätten, wie beispielsweise Kirchen oder andere Institutionen.

Schaut man sich die Geschichte der Gewerkschaften an, dann ist doch per se ein zutiefst ethisches Anliegen erkennbar. Das Elend der Arbeitenden zu mildern und bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu erkämpfen.

In der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung gibt es zwei große Stränge, die sich voneinander unterscheiden und nicht immer friedlich koexistiert haben. Jenen, der gewerkschaftliche Arbeit eher von der Moral ableitet. Schon in den frühen Zeiten wurde dies vor allem im Zusammenhang mit Ideen eines ethischen Sozialismus diskutiert. Bei dem zweiten Strang handelt es sich um Diskussionen, die eher auf Marx und seine politische Ökonomie zurückgehen. Dabei steht weniger die Moral als die Analyse ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse im Zentrum. Zielsetzung ist hier nicht die Verwirklichung ethischer Normen, sondern die Überwindung ökonomischer Ausbeutung. Der eine Strang war also eher werte-, der andere stärker interessenorientiert. Diese Gegenüberstellung hat sich verflüchtigt. Beide Debatten sind präsent, das ist gut so. Es bedeutet, dass Ethik und Interessen immer wieder zwei Elemente unserer Strategiedebatten sind. Wie die sich zueinander verhalten, haben wir auszuloten. Hier gilt der Satz des frühen Marx, wonach sich die Idee zumeist dann historisch blamiert, wenn sie sich zu weit vom Interesse wegbewegt.

Gerade in dieser Gegenwart, in der wir von einer multipolaren Welt sprechen, davon, dass sich Gegensätze und Krisen wie die Klimakrise extrem zuspitzen, wäre es doch auch für Gewerkschaften nötig, sich noch größeren Fragen zu stellen. Also nicht nur, was ist gute Arbeit, sondern auch, was ist ökologisch nachhaltige Arbeit. Da wundert die Zurückhaltung doch ein wenig.

Da nehme ich für die IG Metall in Anspruch, dass wir in den letzten Jahren unter dem Schlagwort »FairWandel« wieder sehr aktiv versucht haben, ökologische Verantwortung aufzuwerten. Interessant ist: Es hat in der IG Metall bis Ende der 80er Jahre eine sehr intensive Zukunftsdebatte gegeben, die sich auch viel mit Umweltfragen beschäftigt hat. Wir haben zum Beispiel Ende der 80er auf einem großen Zukunftskongress gemeinsam mit anderen das Konzept »Auto, Umwelt und Verkehr« entwickelt und davon zehn Thesen für eine progressive Reformpolitik abgeleitet. Rückblickend ist es erstaunlich, wie weit die Debatte damals schon gewesen ist. Dass wir dann insbesondere in den 90er Jahren und zu Beginn des Jahrhunderts den Faden etwas verloren haben, hatte sicher auch mit der Dominanz der sozialen Probleme im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung zu tun. Und damit, dass in den Unternehmen die Bereitschaft schwand, sich diesen Diskussionen zu öffnen.

Was macht es heute schwer?

In den 80er Jahren war die verbreitete Unternehmensphilosophie noch Diversifizierung der Konzernstrukturen. Dabei wurde auch die Frage »Wie können Automobilkonzerne zu Mobilitätskonzernen entwickelt werden« diskutiert. Es folgte dann aber der Wandel hin zum Shareholderkapitalismus. Und der fokussiert sich auf das Kerngeschäft. Alles, was nicht in kurzer Zeit seine Rendite nachweisen kann, hat in diesen Strategien so gut wie keine Chance mehr. Das hat die Bedingungen verschlechtert, unter denen wir die Diskussion über ökologische, nachhaltige Produktion führen können.

Diese Dominanz der Finanzmarktregeln in den Unternehmen hat dazu geführt, dass auch fortschrittliche Ansätze in Richtung einer ethischen Unternehmensführung ungeheuer erschwert wurden. Wir haben aber seit einigen Jahren den Faden des sozialökologischen Wandels wieder aufgegriffen, verstehen uns seitdem auch als Teil der Umweltbewegung. Und versuchen in den Bereichen, wo besonders großer ökologischer Handlungsbedarf besteht – Automobilindustrie, Stahlindustrie – nicht als Vetospieler, sondern als Treiber für ökologische Transformation aufzutreten.

Es gibt einen Grundwiderspruch: Ihre Gewerkschaft vertritt Menschen, die in einer sehr rohstoffintensiven Industrie arbeiten. Auch wenn es E-Autos sind, wird das so sein.

Ja, das bleibt als permanentes Spannungsverhältnis präsent. Wenn ich sage, auch wir als IG Metall verstehen uns als Treiber der ökologischen Transformation, dann sage ich gleichzeitig, dass wir als Gewerkschaft eine ganz bestimmte, historische Aufgabe haben. Die besteht darin, die ökologische zu einer sozialökologischen Transformation zu machen. Wenn sie so ablaufen sollte, dass die Beschäftigten in den rohstoffintensiven Branchen von vornherein die Verlierer:innen sind, kann nicht erwartet werden, dass sie das mittragen. Verfolgt man das Ziel der ökologischen Transformation, muss man daher gleichzeitig dafür sorgen, dass diese Menschen nicht die Verlierer:innen des Prozesses sind. Das ist nicht gänzlich konfliktfrei in Übereinstimmung zu bringen. Wir müssen uns immer wieder fragen, ob wir es verantworten können, unseren Mitgliedern zu sagen: Lasst uns bei dieser Transformation mitmachen. Und das geht nur, wenn wir hinzufügen können: Wir kämpfen dafür, dass möglichst alle eine soziale Perspektive in der neuen Ökonomie erhalten.

Abschied vom Exportschlager Auto?

Es bedeutet anzuerkennen, dass die im heutigen Exportmodell Deutschlands vorhandene Dominanz der Automobilindustrie nicht auf ewig fortexistieren kann. Und dass der Individualverkehr mit dem Auto insgesamt an Bedeutung verlieren wird. Schon heute kommt es in der Automobilindustrie zum Verlust von Arbeitsplätzen. Es bedeutet aber auch, dass es in einer ökologisch verträglicheren Automobilindustrie weiterhin eine zu rechtfertigende Perspektive für die Arbeitenden gibt, wenn die Produkte und Verfahren angepasst werden. Zugleich können rund um eine grün-elektrifizierte Autoproduktion neue Arbeitsplätze entstehen, die neue Perspektive bieten. Eine Strategie zu formulieren und politisch in Angriff zu nehmen, die dem ökologischen Imperativ Rechnung trägt und den Betroffenen soziale Perspektiven eröffnet, das ist die Aufgabe der Gewerkschaften. Eine echte Jahrhundertaufgabe!

Da stehen Ihnen, schaut man sich mal an, wie es für die Arbeitenden in der Braunkohleindustrie aussieht, die notwendigerweise keine Zukunft haben kann und darf, aber auch gewaltige Konflikte bevor.

Das ist ein sehr konfliktreicher Prozess, der in den Strukturen kapitalistischer Märkte auch seine Grenzen finden wird. Salopp formuliert: Wenn Sie unter den Bedingungen einer Shareholder-Value-Unternehmenspolitik als Produktionsvorstand aufstehen und sagen, »Wir könnten unser Produkt durch ein ökologisch verträgliches ersetzen«, dann wird Sie der Finanzer kurz und bündig nach der Kapitalrücklaufzeit der notwendigen Investitionen fragen. Wenn Sie dann antworten, das sei unsicher, hänge von der Marktentwicklung und anderem ab, aber unter zehn Jahren sei da nichts zu machen, dann können Sie sich gleich wieder setzen. Ökologisch nachhaltige Produkte mit Beschäftigungsperspektiven brauchen strategische Investitionen und Investitionsbereitschaft. Hektisches Schielen auf kurzfristige Renditen und maximale Dividenden für die Aktionäre sind da kontraproduktiv.

Klingt revolutionär.

Keineswegs, aber es wird sich nicht im Selbstlauf vollziehen. Es braucht erstens umfassende, ausgebaute Mitbestimmung der Interessenvertretungen, auch bei wirtschaftlichen Fragen. Es braucht zweitens öffentliche Mittel. In der Stahlindustrie etwa werden die Profite der Unternehmen nie und nimmer ausreichen, um die notwendigen Investitionen für die Umstellung der Kokskohle-Stahl-Produktion auf grünen Wasserstoff zu finanzieren. Dabei ist klar: Wer den öffentlichen Personennahverkehr oder die Windenergie ausbauen will, braucht mehr und nicht weniger Stahl.

Kurzum, wer nicht schnelle Gewinne, sondern eine nachhaltige Industrie und eine intakte Natur im Blick hat, der darf die Dinge nicht gewinnorientierten Märkten überlassen. Der muss politisch intervenieren. Auf der Grundlage demokratischer Entscheidungen und in sozialer Verantwortung. Ich spreche hier von einer sozial-ökologischen Wirtschaftsdemokratie.

Man muss also die Bedingungen ändern, unter denen überhaupt gegenwärtig Entscheidungen zustande kommen.

Wenn Sie zum Beispiel Automobilstandorte ökologisch nachhaltig umgestalten wollen und den Menschen eine Perspektive geben möchten, brauchen Sie eine ganz neue Qualität von regionaler Strukturpolitik. Eine Vorstellung davon, wie sich die Region entwickeln soll. Das kann man nicht dem Markt überlassen. Wir haben dafür die Bildung regionaler Transformationsräte in die Debatte eingebracht. Um die beteiligten Akteure zusammenzubringen und die alte Idee von aktiver Industrie- und Strukturpolitik neu zu beleben. Dafür braucht es Geld und die Bereitschaft, gesellschaftlich Einfluss zu nehmen. Ohne Demokratie und gleichzeitige Einschränkung kapitalistischer Verfügungsgewalt, die sich auf Eigentumstitel beruft, kann das nicht funktionieren.

Die Gewerkschaften bleiben die Interessenvertretung der abhängigen Arbeit, aber es braucht einen erweiterten Interessenbegriff, der die Verantwortung für die Arbeit durch Verantwortung für die Gesellschaft und für die Natur ergänzt. Gute Gewerkschaftspolitik ist Politik, die sich vor allen drei Maßstäben bewährt. Eine solche Ökologie der Arbeit hat durchaus eine implizite Ethik.

Hans-Jürgen Urban ist seit 2007 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Gewerkschaft IG Metall, die mit 2,26 Millionen Mitgliedern die größte Einzelgewerkschaft Deutschlands sowie die weltweit größte Arbeitnehmer:innenvertretung ist. Mit ihm sprach Kathrin Gerlof.

Wir danken OXI und Autor für den Abdruck des Artikels.

Wo ist die Friedensdividende geblieben?

von Matthias Schindler

Der folgende Text basiert auf einem Brief, den ich in tiefer Sorge um die aktuellen weltpolitischen Entwicklungen kürzlich an meine ehemaligen Mitstudierenden der Politologie an der Universität Hamburg geschrieben habe.

Liebe ehemalige Mitstudierende der Politologie,

es ist jetzt schon vier oder fünf Jahre her, dass wir unser Politikstudium an der Universität Hamburg hinter uns gelassen haben und jetzt unsere eigenen Wege gehen. Einige haben sich sicherlich für ein weiteres wissenschaftliches Studium entschieden, andere arbeiten weiter an ihrer beruflichen Entwicklung, und wiederum andere haben – wie ich weiß – in politischen Institutionen oder auch in öffentlich wirksamen Medien Positionen erreicht, die einen bedeutenden Einfluss auf unsere Gesellschaft haben.

Ich selbst habe meine berufliche Laufbahn ja bereits hinter mir. Nach meinem Eintritt in die Rente hatte ich mich für die Wissenschaft entschieden und einige interessante Semester gemeinsam mit Euch studiert und mit einem Bachelor abgeschlossen. Gegenwärtig setze ich mein Studium der Politologie an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universidade Nova de Lisboa in Portugal fort. Ich begreife mein Studium unter anderem auch als den Versuch einer kritischen Aufarbeitung meiner eigenen politischen Praxis während der vergangenen mehr als 50 Jahre.

Dieses E-Mail schreibe ich nicht nur aus Nostalgie oder aus Neugier zu wissen, was Ihr gerade so macht. Ich schreibe auch, weil ich in tiefer Sorge um die weiteren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bei uns und in der Welt bin.

Ukraine: immer mehr und schwerere Waffen?

Insbesondere erfüllt mich der Krieg in der Ukraine mit tiefster Sorge. Der von Putin befehligte Angriffskrieg auf die Ukraine besitzt keinerlei akzeptable, rechtliche, politische oder moralische Rechtfertigung. Die Ukraine hat ohne Zweifel das Recht, sich selbst zu verteidigen und auch um internationale Unterstützung zu bitten. Aber aus diesem Recht folgt nicht automatisch auch die Pflicht zur militärischen Selbstverteidigung. Und aus dem Recht, die Ukraine militärisch zu unterstützen, folgt auch nicht automatisch die Pflicht, dies zu tun. Denn jeder dieser Schritte muss darüber hinaus auch vor den folgenden beiden zentralen Fragestellungen Bestand haben:

Erstens, sind die menschlichen Opfer und die materiellen Zerstörungen, die mit dieser Verteidigung verbunden sind, angesichts der realistisch zu erreichenden Ziele moralisch gerechtfertigt?

Zweitens, können die militärischen Verteidigungsmaßnahmen angesichts der Gefahren der Verlängerung und globalen Eskalation des Krieges politisch gerechtfertigt werden?

Ich habe bisher noch kein überzeugendes Argument dafür gehört, die eine oder die andere Frage positiv zu beantworten.

Man kann diese beiden Fragen auch in einer einzigen Fragestellung zusammenfassen:

Wenn dieser Krieg eines Tages vorbei sein wird, werden die Überlebenden dann auch im Angesicht all der erlittenen Verluste und Zerstörungen sagen: „es hat sich gelohnt“, „es war richtig, gegen die überlegene russische Armee zu kämpfen“, „es gab keinen anderen Weg“, „das musste sein“?

Diejenigen, die heute für massive und schwere Waffenlieferungen werben, werden sich in der – wann auch immer zu erreichenden – Nach-Kriegs-Situation auch den folgenden Fragen stellen müssen: War es angesichts der dann sichtbaren humanen und materiellen Zerstörungen – einschließlich der Möglichkeit einer internationalen und nuklearen Ausweitung des Krieges – richtig, diesen Weg zu gehen? Hat die Bundesregierung alles unternommen, was möglich gewesen wäre, um einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen früher zu erreichen?

Bei allen öffentlichen Debatten, in den berüchtigten Talkshows von Anne Will bis Markus Lanz, in den Nachrichtensendungen und Magazinen und in den allermeisten Artikeln der sonstigen vielfältigen Medien wird diesen Fragestellungen konsequent aus dem Weg gegangen. Sie sind zu unbequem. Denn bei ihnen geht es nicht um Wunschvorstellungen, Ideologie und Propaganda, sondern um Realitäten, um brutale und ungerechte Realitäten, die jedoch in den aktuellen Waffen- und Aufrüstungsdiskurs nicht so gut hineinpassen. Stattdessen werden sie mit rhetorischen Tricks umgangen.

Putin hat Schuld“ reicht nicht

„Putin hat Schuld an diesem Krieg“, wird gesagt. Aber selbst, wenn es so wäre, dass er die alleinige Verantwortung für diesen Krieg haben sollte, würde dies abertausende von menschlichen Opfern und unvorstellbare Zerstörungen rechtfertigen, die der Verteidigungskrieg zwangsläufig mit sich bringt? Es wird gesagt, „wenn man diesem eklatanten Bruch des Völkerrechts durch Putin nicht militärisch entgegentritt, wird die seit dem 2. Weltkrieg bestehende regelbasierte internationale Ordnung zerstört.“ Jedoch hat es diese regelbasierte internationale Ordnung nie gegeben. Sie gab es nicht im Vietnamkrieg, nicht beim Überfall der USA und Großbritanniens auf den Irak, nicht in Afghanistan, nicht in Nicaragua und in vielen weiteren Fällen ebenfalls nicht. Der Unterschied zur heutigen Situation ist lediglich, dass diese eklatanten Völkerrechtsverletzungen vom Westen begangen und daher auch akzeptiert wurden.

Weiterhin heißt es, „wenn wir keine schweren Waffen an die Ukraine liefern, dann kann die Souveränität des Landes nicht verteidigt werden.“ Aber warum fordert dann niemand die Lieferung schwerer Waffen an Palästina, dessen Souveränität seit Jahrzehnten von Israel mit Füßen getreten wird?

Es wird gesagt, „Putin lügt, auf sein Wort kann man sich nicht verlassen.“ Aber selbst, wenn er der Einzige wäre, der im internationalen Politikgeschäft lügt, sollte dann daraus der Schluss gezogen werden, auf jeglichen Versuch zur Erreichung eines Waffenstillstandes zu verzichten und bis zu seinem Sturz, auf den wir möglicherweise noch viele Jahre warten müssen, nur noch die Waffen sprechen zu lassen?

Wo bleibt die Werte-orientierte Außenpolitik der Bundesregierung gegenüber den Freiheits- und Souveränitätsrechten des kurdischen Volkes? Um den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens zu ermöglichen, wird dieses Volk vergessen und verraten, und dessen Aggressor, die Türkei, politisch hofiert und militärisch aufgerüstet. Wo bleiben die Berichte über den völkerrechtswidrigen Krieg Saudi-Arabiens gegen die Bevölkerung des Jemen? Anstatt dieses mittelalterliche Scharia Regime zu ächten und mit Sanktionen zu belegen, wird es als Garant der westlichen Wertegemeinschaft gefeiert und mit den modernsten Waffensystemen aufgerüstet. Eine Außenpolitik, für die Werte nur dann eine Bedeutung haben, wenn sie sich gut in den gerade vorherrschenden politischen Diskurs einbauen lassen, handelt nicht, um demokratische und freiheitliche Werte zu verwirklichen, sondern um geopolitische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen.

Krieg ist nicht die einzige Option …

Aber der Krieg – auch ein Verteidigungskrieg! – ist nicht die einzige Option, die auf dem Tisch liegt. Als die deutschen Nazitruppen 1940 Dänemark besetzten, entschloss sich das Land, dagegen zivilen Widerstand zu leisten. Dieser Widerstand wurde von der gesamten Bevölkerung, von den Gewerkschaften bis zum König, mitgetragen. Die Nazis waren nach fünf Jahren wieder weg, aber Dänemark ist geblieben. Oder als die Truppen des Warschauer Paktes 1968 die Tschechoslowakei überfielen, befahl der tschechoslowakische Regierungs- und Parteichef Alexander Dubček der Armee, in den Kasernen zu bleiben. Die sowjetischen Panzer sind schon lange wieder weg, aber die Tschechen und Slowaken leben, Bratislava und Prag wurden nicht zerstört.

Die deutsche Regierung jedoch, und der gesamte Westen, kennt heute nur eins: Waffen, mehr Waffen und immer schwerere Waffen. Für jeden Krieg gilt: Es gibt nur zwei Möglichkeiten, ihn zu beenden, entweder durch den militärischen Sieg einer der beiden Seiten oder durch Friedensverhandlungen. Manchmal dauert es Jahre oder auch Jahrzehnte, aber es gibt keinen dritten Weg. Im Moment steuern jedoch alle westlichen Akteure dieses Dramas in die Richtung einer militärischen Lösung, koste es, was es wolle. Ein militärischer Sieg der einen oder der anderen Seite ist jedoch nicht abzusehen. Dennoch machen die ukrainische Führung und die NATO-Staaten gegenwärtig nicht die geringste Anstrengung, um zu einem Waffenstillstand und zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Stattdessen werden zehntausende Soldaten und Zivilisten weiterhin für die Ehre und das Vaterland in den Heldentod geschickt.

Das Putin Regime hat diesen Krieg durch den Angriff auf die Ukraine begonnen. Aber die Verantwortung dafür, ob es zu einer Verlängerung und Ausweitung des Krieges kommt oder ob er begrenzt und zu einem Waffenstillstand geführt werden kann, liegt auch auf der Seite der Ukraine und ihrer Unterstützer. Wenn Selenskyj eine neue Großoffensive gegen die russischen Besatzer befiehlt, dann ist das seine Entscheidung, und er ist derjenige, der diese Offensive mit all ihren Konsequenzen verantworten muss.

und Sanktionen schon gar nicht

Darüber hinaus geht es auch immer mehr um die Sanktionen gegen Russland. Wirtschaftliche Sanktionen sind, zumal wenn sich deren Folgen gegen die Zivilbevölkerung richten, ein klarer Verstoß gegen das Internationale Recht. Wir haben gemeinsam Politologie studiert. Ein wichtiger Zweig der Politischen Wissenschaft sind die Internationalen Beziehungen. In welchem Seminar haben wir gelernt, dass Wirtschaftssanktionen ein legitimes Mittel der internationalen Politik sein sollen? Hat uns das jemals ein Professor gelehrt? Oder war die Friedensforschung nur für den universitären Elfenbeinturm gedacht, nicht aber für die lebendige Welt draußen? Und die aktuellen Wirtschaftssanktionen richten sich keineswegs nur gegen die russische Bevölkerung, sondern auch gegen unsere eigene und auch gegen Millionen andere Menschen in Europa und der Welt. Uns allen wird es jetzt schlechter gehen, viele werden in Armut fallen, der Hunger ist wieder auf dem Vormarsch. Die internationale Wirtschaft bricht ein. Die Inflation steigt ungebremst. Essen, Mieten und eine warme Wohnung werden für immer mehr Menschen unbezahlbar. Dürfen wir da unsere Hände in Unschuld waschen, weil wir ja ganz einfach Putin die Schuld für all dies geben können?

Jetzt werden international – in Russland, in den USA, in China und Europa – hunderte von Milliarden Dollar in neue Waffensysteme investiert. Es werden neue Blöcke und Blockgrenzen aufgebaut und verhärtet. Auf welche Weise soll dies jemals zum Weltfrieden führen? Und ganz nebenbei wird auch noch die physische Grundlage allen menschlichen Lebens auf der Welt weiterhin gnadenlos zerstört. Der menschengemachte Klimawandel geht ungebremst weiter.

Die Friedensdividende ist abgestürzt

Als die Sowjetunion 1990 in sich zusammenbrach und der Ostblock sich (einschließlich seines Militärbündnisses, des Warschauer Paktes!) auflöste, machte das Wort von der Friedensdividende die Runde. Allseits wurde propagiert, dass die materiellen Ressourcen der Menschheit von jetzt ab nicht mehr für Militär und Krieg, sondern für soziale Verbesserungen, für die Umwelt, für internationale Gerechtigkeit und für den Frieden genutzt werden könnten.

Präsident George H. W. Bush erklärte 1990 vor dem US-Kongress: „Eine neue Partnerschaft der Nationen steht bevor, […] eine neue Ära – freier von der Bedrohung durch Terror, stärker im Streben nach Gerechtigkeit, sicherer in der Suche nach Frieden, […] eine Welt, die gänzlich anders ist als jene, die wir aus der Vergangenheit kennen. Eine Welt, in der die Herrschaft des Rechts an die Stelle der Gesetze des Dschungels tritt. Eine Welt, in der die Nationen ihre gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit anerkennen. Eine Welt, in der die Starken die Rechte der Schwachen respektieren.“

Schöne Worte. Abermillionen Menschen auf der ganzen Welt hatten die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Der Westen hatte die – einmalige – historische Chance, zu zeigen, dass er die bessere Gesellschaftsform besitzt, das gerechtere, sozialere und freiere System, die bessere Wirtschaftsform, den besseren Weg zum Weltfrieden. Aber der Westen hat kläglich versagt. Statt auf eine solidarische Welt zu orientieren, hat er wirtschaftlich die neoliberale Konkurrenz zum obersten Prinzip erhoben. Anstatt ein kollektives Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands aufzubauen, wurde nun erst recht auf eine einseitige militärische Vormachtstellung des Westens gebaut. Die Ungleichheit zwischen arm und reich vertiefte sich international und auch innerhalb der einzelnen Staaten. Die Umweltzerstörung nahm gigantische Ausmaße an. In diversen Interventionskriegen hat der Westen seine Verachtung für das Internationale Recht gezeigt. In Sachen kapitalistischer Ausbeutung im Inneren und militärischer Gewalt nach außen war Putin ein gelehriger Schüler des Westens. Durch den russischen Überfall auf die Ukraine wurde nun die Welt innerhalb von wenigen Monaten komplett umgekrempelt. Heute deutet alles wieder in Richtung Sozialabbau, Wirtschaftskrise, Armut und Krieg. Was haben wir – meine Generation – Euch für eine Welt hinterlassen?

Es ist Eure Zukunft, die heute zerstört wird

Ich bin gerade 70 Jahre alt geworden, ich habe eine (bescheidene) Rente, ich werde mit Glück vielleicht noch 10 Jahre zu leben haben. Aber Ihr habt noch 50 oder mehr Jahre vor Euch. Ihr müsst in dieser Welt leben, eine andere gibt es nicht. Eine Welt, in der noch nicht einmal das tägliche Trinkwasser und die Luft zum Atmen sichergestellt ist. Ihr werdet die wichtigen Weichenstellungen für Eure Zukunft treffen, ob Ihr wollt oder nicht. Vielleicht denken einige von Euch daran, Kinder zu kriegen. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie man sich heutzutage noch über Kinder freuen kann, wenn man sie in eine Welt hineinsetzt, die in großen Schritten auf eine globale Katastrophe zusteuert.

Ich habe 35 Jahre in der Industrie gearbeitet, ich war Gewerkschafter, ich habe mich seit dem Vietnamkrieg für Gerechtigkeit und Frieden eingesetzt. Ich habe daran mitgewirkt, ein solidarisches Gesellschaftsmodell in Nicaragua aufzubauen. Ich habe versucht, meinen Beitrag dafür zu leisten, dass diese Welt eine bessere wird und Allen eine Chance auf ein besseres, auf ein würdiges Leben bietet. Letztlich war es meine Generation, die die deutsche Nazi-Vergangenheit thematisierte und aufarbeitete, die der internationalen Solidarität eine neue Bedeutung gab, die die Friedensbewegung und die Umweltbewegung in Deutschland mehrheitsfähig machte. Wenn ich jetzt jedoch auf das Ergebnis all dieser Anstrengungen schaue, dann überkommt mich eine tiefe Enttäuschung, Erschütterung, Frustration, ja Wut.

Frieden braucht Demokratie und soziale Gerechtigkeit

Nach der Beendigung meiner Erwerbsarbeit habe ich begonnen, Politologie zu studieren, unter anderem auch mit dem Ziel, herauszufinden, welche Lehren man aus den vielen verschiedenen gescheiterten Reformen und Revolutionen ziehen muss, um deren Fehler nicht andauernd zu wiederholen. Eine Sache kann ich schon jetzt sagen:

Ohne demokratische Freiheiten und ohne soziale Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben. Aber das entscheidende Mittel zur Durchsetzung einer sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung kann niemals der Krieg sein, sondern nur die kritische und selbstkritische Reflexion, die Bewusstseinsbildung, die Überzeugungsarbeit und das positive Beispiel.

Lissabon, 28. Juli 2022

Zur Person:

Matthias Schindler (1952) ist Maschinenbautechniker, er war Vertrauenskörperleiter und Betriebsrat der IG Metall in einem Hamburger Industrieunternehmen, er ist langjähriger Aktivist der Nicaragua Solidarität, Politologe und forscht aktuell als Doktorand an der Universidade Nova de Lisboa zum Thema Sozialismus und Demokratie.

„The Loud Spring“ -der Film geht unter die Haut!

60 Jahre Kampf gegen die Klimakatastrophe, 60 Jahre gesteigerte Heuchelei, 60 Jahre globaler Wachstumskapitalismus mit wachsenden CO2 Werten. Die Zeit läuft der Menschheit davon. Wo ist die Kraft und Machtoption, dass sich tatsächlich etwas ändert? Die Umwelt lässt sich ohne radikale Veränderungen der sozialen Verhältnisse nicht mehr ins Lot bringen. Und ohne Arbeitnehmer und deren Organisationen läuft nichts.

„The Loud Spring“ – „Der laute Frühling“ , ein Film der unter die Haut geht und eine gesellschaftliche Vision dazu entwickelt.

„Seit Beginn der UN Klimakonferenzen 1992 sind die jährlichen CO2 Emissionen nicht gesunken, sondern um 60% gestiegen. Warum?
Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, die in der Lage wäre den Klimawandel einzudämmen?

In der Klimabewegung setzt sich zwar mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass Kapitalismus und Klimaschutz unvereinbar sind, es fehlt aber eine konkrete politische Vorstellung davon, wie wir einen Systemwandel herbeiführen können. The Loud Spring skizziert, wie die tiefgreifende Veränderung, die wir brauchen, aussehen könnte.

In einer Situation in der das öffentliche Bewußtsein für die drastischen Konsequenzen des Klimawandels rapide wächst, lenkt The Loud Spring die Aufmerksamkeit auf den Elefanten im Raum: woher kommt die politische Macht, um die Dinge tatsächlich zu ändern? “ Labounet.tv

„Ich habe in der letzten Woche die Premiere des Films von labournet TV gesehen und war komplett begeistert.
Der Film dreht sich um die vielfältigen Aktionen der Klimabewegung enthält plausible Erklärungen von verschiedenen Wissenschaftler_innen und Arbeiteraktivist_innen.

Darüber hinaus gibt es darin die Vision davon wie es anders gehen könnte und müsste, in Form eine Comic Darstellung.
Allerdings findet die „Revolution“ schon 2024 statt, weil wir ja kaum noch Zeit für ein umsteuern haben.
Der Anspruch ist kein geringerer als die Klima und Umweltbewegung mit der Arbeiter_innen und Gewerkschaftsbewegung zu verbinden.“ Hans Köbrich, Arbeitskreis Internationalsims IG Metall Berlin.

hier ein Überblick über die Vorführtermine :https://de.labournet.tv/der-laute-fruehling-termine

Termine Berlin

  • 4.-11. August, Lichtblick Kino (am 6. August in Anwesenheit der Filmemacherin), Kastanienallee 77, 10435 Berlin Mitte
  • August, 21 Prachttomate (in Anwesenheit der Filmemacherin), Bornsdorferstr. 9 -11, 12053 Berlin Neukölln
  • 14., 15. und 22. August Lichtblickkino (am 22. in Anwesenheit der Filmemacherin), Kastanienallee 77, 10435 Berlin Mitte

Filmtrailer labournet.tv: https://de.labournet.tv/loud-spring-trailer

The Loud Spring hat einen Rest Finanzierungsbedarf. Bitte helft mit, indem ihr direkt auf das Vereinskonto spendet:

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Stichwort: The Loud Spring

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