„Die israelische Gesellschaft hat dabei versagt, das Töten in Gaza zu stoppen. Und wir als Künstler haben uns mitschuldig gemacht“, meint der israelische Regisseur und Künstler Nadav Lapid in einem Gastkommentar des aktuellen Spiegel. Solche Töne – selbst einer eher milden Selbstkritik – hört man von Verantwortlichen in Deutschland vergebens.
Das offizielle Deutschland leidet vielmehr an einer besonders infamen Krankheit: die besondere Verantwortung für den Holcaust wird instrumentalisiert, um die Mittäterschaft bei Völkermord, Menschenrechtsverbrechen und Bruch des Völkerrechts zu legitimieren. Wer dagegen opponiert läuft Gefahr, diffamiert und mundtot gemacht zu werden. Dabei ist man sich – wie Kristin Helberg beobachtet – nicht zu schade, im Namen eines vermeintlichen „Kampfes gegen linken Antisemitismus“ den ideologischen Nachfolgern der Täter von damals den Boden zu bereiten, indem man ihnen erlaubt, sich ausgerechnet im Kampf gegen Antisemitismus zu profilieren und dann noch ihre rassistischen Argumente übernimmt. (Peter Vlatten)
Mit dem Vorwurf des Antisemitismus Demokratie schwächen? Funktioniert in Deutschland super.
Kristin Helberg, 9.November 2025

In vielen Ländern arbeiten völkisch-nationalistische Politiker an Demokratieabbau und einer Aushöhlung des Rechtsstaates. Wie dieses Playbook abläuft, sehen wir seit langem in Ländern wie Ungarn und der Türkei – und ganz aktuell in den USA unter Trump.
Was vielen noch nicht klar ist: In Deutschland läuft diese Wende zum Autoritarismus auch über das Thema Israel, Staatsräson und Antisemitismus. Denn Netanjahus ethnonationalistische Politik beeinflusst seit Jahren die politische Landschaft in Deutschland – über eine falsch verstandene Staatsräson, mit Hilfe einer effektiven Lobbyarbeit in Berlin und gezielter Propaganda in der Öffentlichkeit (etwa über Zeitungsanzeigen und Plakataktionen mit QR-Codes, die die talking points der rechtsradikalen Regierung beinhalten). Ziel ist es, den Fokus auf den so genannten „israelbezogenen Antisemitismus“ zu verschieben und damit die eigenen Feinde zu schwächen: Linke, Muslime, migrantisch gelesene Menschen, MR-Organisationen, UN-Gremien.
Judenhass wird zunehmend mit Israel-Feindschaft gleichgesetzt (etwa in den Antisemitismusresolutionen des Bundestags), der politische Gegner wird definiert als „zu links, zu woke, zu BDS-nah“ (wie Shai Hoffmann von einem CDU-Politiker, siehe link in den Kommentaren). Expert:innen wie Muriel Asseburg, Daniel Gerlach, Bente Scheller und ich werden als „Israel-Feinde“ markiert, weil wir diese israelische Propaganda in der Öffentlichkeit entlarven. Wer also innen- und außenpolitisch die Werte des Grundgesetzes und die universelle Gültigkeit des Völkerrechts hochhält, gilt inzwischen als „links“. Selbst „progressive“ oder „anti-zionistische“ Jüdinnen und Juden sind davon betroffen, sie werden ausgeladen, bei Demos in Gewahrsam genommen, öffentlich diffamiert.
Das eigentliche Ziel aber betrifft uns alle: Es ist der Fahrplan der AfD Richtung Autokratie, der perfekt aufgeht, weil deutsche Politiker:innen aller Parteien (vor allem in CDU/CSU und FDP, aber auch bei SPD, Grünen und Linkspartei) blind, naiv, feige, opportunistisch oder selbst autoritär sind. Die AfD – die wie alle Rechtspopulisten in Europa diese israelische Regierung für ihren menschenfeindlichen Suprematismus feiert – versucht, mit dem Vorwurf des Antisemitismus in Deutschland jede unliebsame Stimme zum Schweigen zu bringen, inszeniert sich dafür als Israel-Freund, obwohl viele ihrer Mitglieder selbst judenfeindlich sind.
Die Anzeichen sind offensichtlich: Diskursräume werden verengt, öffentliche Gelder werden nicht nach Expertise, sondern gemäß politischer Interessen vergeben (siehe die 9 Mio. für Ahmad Mansour), der Verfassungsschutz soll die Wissenschaftsförderung überwachen, Kandidatinnen für das Verfassungsgericht werden delegitimiert, Medien und Zivilgesellschaft auf Linie gebracht, Grundrechte stehen in Frage, Antisemitismus-Statistiken weisen deutsche Polizisten als Haupt-Opfer antisemitischer Gewalt aus, Antisemitismusbeauftragte ehren IDF-Soldaten und fordern Keffiyeh-Verbote, renommierte (jüdische) Intellektuelle werden von der israelischen Botschaft und vom Zentralrat der Juden angegriffen.
Und was sagt der israelische Botschafter am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht? Der „linke Antisemitismus“ sei „gefährlicher als der von rechts und von Islamisten“. Alles klar.
Kristin Helberg ist Autorin und Journalistin, sie ist ausgebildete Politikwissenschaftlerin und als Westasien/Nahost-Expertin aktiv.
Wir danken für das Publikationsrecht.
Titelbild: Peter Vlatten