Nachruf: Winfried Wolf (1949 – 2023)

Die Linke verliert einen wichtigen Ideengeber und Aktivisten

Winfried Wolf ist am 22. Mai im Alter von 74 Jahren seiner Krebserkrankung erlegen. Die gesamte Linke verliert einen profilierten antikapitalistischen Ökonomen und Verkehrsexperten, der einen reichen Schatz an Büchern, Artikeln und praktischem Wirken hinterlässt.

1986 -weit seiner Zeit voraus-  erschien Winfried Wolfs  Werk "Eisenbahn und Autowahn". Bei uns im Werk Stuttgart Untertürkheim, dem Herzen von  Mercedes und  der deutschen Automobilindustrie, wurde es zu einer Art Pflichtlektüre der gewerkschaftlichen Aktivisten. Aber auch nicht wenige Arbeiter und Angestellte darüber hinaus kauften das Buch und lasen großenteils mit Begeisterung zum ersten Mal in  ihrem Leben ein über 500 Seiten dickes Buch. (Peter Vlatten )
Am Ende des Beitrages ein Video mit Winfried Wolf und einer Diskussionsrunde zum Thema: "Umweltgerechte Verkehrspolitik vs Kapitalismus ", aus dem Jahre 2019  (Ingo Müller)

Beitrag von Sascha Staničić,  24.5.2023

Winnie war ein 68er und in den 1970ern Mitglied der Gruppe Internationaler Marxisten (GIM), der deutschen Sektion des sich auf Trotzki berufenden Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale, später dann in der VSP (Vereinigten Sozialistischen Partei, Zusammenschluss der GIM mit der KPD/ML) und von 1994 bis 2002 Bundestagsabgeordneter der PDS.

Als junger Mann selbst ein Autonarr, hat er sich zu einem leidenschaftlichen Kämpfer gegen die so genannte „Autogesellschaft“ und für einen Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs und Bahn-Experten entwickelt. 

Winnie war Herausgeber vieler Zeitungen und Zeitschriften, so unter anderem der “Zeitung gegen den Krieg”, die im April zum 53. Mal erschienen war und der Ökonomie-Zeitschrift lunapark21

Mitte der Nuller Jahre habe ich Winnie persönlich kennengelernt. Damals unterstützte er die Berliner WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit), die in Berlin eine klare Haltung gegen Regierungsbeteiligungen mit pro-kapitalistischen Parteien eingenommen hatte. Das war der Anfang einer politischen und freundschaftlichen Zusammenarbeit. 

Wir haben an verschiedenen Zeitungsprojekten (Streikzeitung in Solidarität mit den GDL Streiks, Faktencheck Europa und Faktencheck Corona) zusammen gearbeitet, die von ihm initiiert wurden und mit denen er einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung und zur linken Debatte leistete. Dabei habe ich sein unglaubliches Tempo beim Schreiben von Texten, seine hohen journalistischen Ansprüche und seinen Sinn für Genauigkeit kennen und schätzen gelernt (und manchmal auch verflucht…). Winnie hat auch immer wieder Gastbeiträge für die “Solidarität” und den Manifest-Verlag verfasst und war Redner bei den Sozialismustagen.

Winnie war ein leidenschaftlicher Analytiker, Autor, Zeitungsmacher und Aktivist. Er hat unzähligen Linken Argumente und Analysen geliefert in seinen vielen Büchern, ob zur Ökonomie, Ökologie oder zur Geschichte und zeitgenössischen Ereignissen wie der Solidarnosc-Bewegung in Polen oder den Ursachen des Ersten Weltkriegs. Er war Anti-Stuttgart-21-Aktivist der ersten Stunde und regelmäßiger Redner bei den dortigen Montagsdemonstrationen und vielen anderen Protesten.

Er gehörte zu den Linken, die sich weiter entwickelten, ohne ihre Prinzipien aufzugeben. Nicht zuletzt seine konsequent internationalistische Haltung, die sich unter anderem bzgl. des Ukraine-Krieges zeigte, hat uns verbunden.

Nicht immer waren wir einer Meinung und oftmals zogen wir aus ähnlichen Analysen unterschiedliche programmatische Schlussfolgerungen, ob in der Frage der Griechenland Krise oder dem Kampf gegen die Corona-Pandemie. Aber mit Winnie konnte man diese Unterschiede debattieren und weiter an dem arbeiten, wo man sich einig war.

Mit Winfried Wolf geht ein Großer und ein Guter. Wir werden ihn in unseren Gedanken und Herzen bewahren und den Kampf für eine gerechtere Welt jenseits des Kapitalismus, den er sein Leben lang geführt hat, fortsetzen.

Unsere Anteilnahme gehen an Andrea und seine geliebte Tochter Paola und alle seine Genoss*innen und Freund*innen.

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Das Original ist erschienen am 24.5.2023 bei „Solidarität Info“ : Nachruf: Winfried Wolf (1949 – 2023). Der Autor Sascha Staničić ist Bundessprecher von SoL (Sozialistische Organisation Solidarität). Wir danken für die Publikationsrechte.

Quelle Titelbild: https://www.youtube.com/channel/UC4R3TkgWFaG4nnWMy5oHLFA CC


Die SAV veranstaltete am 31.10.2019 eine Diskussion mit Winfried Wolf zum Thema;

„Umweltgerechte Verkehrspolitik vs Kapitalismus“

hier könnt Ihr das Video von der Diskussion sehen:

SAV – Berlin
präsentiert: „Umweltgerechte Verkehrspolitik vs Kapitalismus „

Diskussion mit Winfried Wolf, marxistischer Verkehrsexperte,
Autor von „Mit dem Elektroauto in die Sackgasse“ und Chefredakteur von Lunapark21

Im Auftrag der SAV – Berlin,
Besonderen Dank an den Verein Iranischer Fluechtlinge e.V. Berlin
für die Räumlichkeiten

Kamera, Ton und Bearbeitung:
Ingo Müller
rec: ingmue1957
31.10.2019

Mitten im Frieden wird der Krieg vorbereitet

Von Suitbert Cechura

Mit der Frage, ob Deutschland nun Kriegspartei ist oder nicht, wird deutlich, dass Krieg und Frieden in der Staatenwelt gar nicht eine prinzipielle Alternative darstellen. Zwar fallen hierzulande keine Bomben und keine Soldaten, aber Deutschland lässt bekanntlich in der Ukraine Krieg führen (Baerbock: „Wir sind im Krieg mit Russland“) und tut alles, damit das Blutvergiessen dort auch weitergeht. „Kriegsmüdigkeit“ (wieder Baerbock) darf auf keinen Fall einreissen. Sind also „wir alle“, die wir „wegen Putin“ den Gürtel enger schnallen müssen, doch schon im Krieg? Seit der letzten Sicherheitskonferenz in München wird ja auch in der Öffentlichkeit die Frage nach der Einführung einer Kriegswirtschaft offensiv gehandelt. Ist das derzeitige Hochfahren der Rüstungsindustrie nun Ausdruck einer solchen Kriegswirtschaft oder noch Teil der Normalität in der Marktwirtschaft? Aber vielleicht ist diese kategorische Gegenüberstellung ebenso verkehrt?

Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor

Dieses aus dem Lateinischen entlehnte Sprichwort (Si vis pacem para bellum) bringt durchaus etwas Reelles zur Sprache. Es erinnert an die gegensätzlichen Verhältnisse, die dem Verkehr der Nationen zugrundeliegen und die immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen. Insofern ist es mit dem Willen zum Frieden nicht so weit her, er muss sich gleich mit der Bereitschaft zum Krieg verbinden. Schliesslich beanspruchen alle nationalen Machthaber die Anerkennung ihrer Macht und wollen ihre Interessen berücksichtigt und von anderen anerkannt sehen. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat eine Macht ihre Interessen weltweit – bis zum legendären Hindernis eines „Eisernen Vorhangs“ – durchgesetzt, indem sie alle Staaten darauf verpflichtete, sich dem wirtschaftlichen Vergleich zu stellen. In diesem Vergleich haben sich die Staaten als Wirtschaftsstandorte, die um das Wachstum ihres Kapitals konkurrieren, zu bewähren, wobei klar war, welcher Staat in diesem Vergleich Gewinner sein würde: die USA. Friedlich ist die Welt damit nicht geworden.

Diesem jetzt „regelbasierte Weltordnung“ genannten Regime haben sich die sozialistischen Staaten des Ostblocks und China seinerzeit entzogen und sich damit die Feindschaft des Westens eingehandelt. Der Frieden hiess damals gleich Kalter Krieg und war im Verlauf der Blockkonfrontation (die auch schon mal Zeiten der Entspannung und Annäherung kannte) alles andere als friedlich. Die Sowjetunion marschierte in Ungarn und in die Tschechoslowakei ein; die USA waren unter anderem am Korea-Krieg beteiligt, in Vietnam mit Napalm und Agent Orange unterwegs, leisteten sich auch gleich Übergriffe auf Kambodscha und Laos. Für die zahllosen Stellvertreterkriege in Afrika oder anderswo fehlt hier der Platz. Dort jedenfalls, wo sich linke Tendenzen breit machten, traten in Amerika ausgebildete Putschisten, die in den USA auch das Foltern gelernt hatten, vor Ort mit Waffengewalt in Erscheinung.

In diesen schönen Frieden hat sich Westdeutschland damals eingereiht und in den kalten Kriegszeiten seine Wiederbewaffnung, die nach dem verlorenen Weltkrieg auf eine gewisse „Ohnemichel“-Stimmung traf, ruckzuck über die Bühne gebracht (der Protest wurde niedergeschlagen, Philipp Müller war der erste tote Demonstrant der BRD). Verteidigt haben sich natürlich in der Ära der Blockkonfrontation beide Seiten – der Osten seine Freiheit, eine Alternative zum Kapitalismus zu schaffen, der Westen die Freiheit des Weltmarktes, die keine Schranken kennen wollte. Beide haben so kräftig aufgerüstet.

Begründet wurde im Westen die Rüstung immer mit der Bedrohung durch den Kommunismus, die aus dem Osten kam; der gegenüber müsse man sich verteidigen, zur Not auch mit Atombomben. Das Seltsame ist nur, dass nach der Auflösung des Ostblocks, der mit seiner Abschottung jahrzehntelang die Begründung für massivste Rüstungsanstrengungen geliefert hatte, die Rüstung nicht verschwand. Im Gegenteil. Die Bundeswehr begann gleich mit Auslandseinsätzen, mit „Spezial-Operationen“ (wie es heute bei Putin heisst), und zog 1999 in ihren ersten veritablen Krieg in Jugoslawien. Seitdem stehen übrigens im Kosovo deutsche Truppen zur Sicherung der neu gezogenen Grenzen.

Statt Abrüstung erfolgte also 1990/91 die Umrüstung auf eine internationale Angriffs- und Eingreiftruppe. Offenbar erfordert die so genannte regelbasierte Weltordnung einen ständigen Gewalteinsatz zu ihrer Sicherung. Und so befindet sich die Bundeswehr zur Zeit in elf Ländern im Einsatz, um „Ordnung zu schaffen“, direkt durch militärischen Einsatz oder durch die Ausbildung von Soldaten, die im Sinne Deutschlands für Ordnung sorgen sollen. Dafür ist eine Besetzung eines ganzen Landes nicht notwendig. Sicherheit für Deutschland wird natürlich auch dort gestiftet, wo die örtlichen Herrscher diese in Deutschland gar nicht bestellt haben – wie etwa im Fall Afghanistan. Nicht jede Berater- oder Ausbildungsmission ist dabei von Erfolg gekrönt, wie etwa in Mali zu studieren ist, wo ein an der Bundeswehrhochschule ausgebildeter Offizier zu den Putschisten gehört, die sich jetzt nicht von Deutschland, sondern von russischen Kräften schützen lassen wollen. Ein Abzug aus einem zerstörten Land muss aber nicht gleich eine Niederlage bedeuten, beweist doch die Zerstörung, dass es für jeden Herrscher auf dem Globus ein Risiko ist, sich mit dem in der Nato verbündeten Westen anzulegen.

Man muss schon viel vergessen oder nicht sehen wollen, wenn dies alles als eine Friedensordnung gepriesen wird, gegen die sich jetzt der „Angreifer“ Putin vergangen haben soll. Führt Deutschland doch seit dem Anschluss der DDR fast durchgehend Krieg in der Welt – und das in Ländern, die zu erreichen ein Hitler sich wohl nicht hätte träumen lassen, und ohne dass im Volk grosse Zweifel am Auftrag ihres „Verteidigungs“-Ministeriums aufkommen.

Marktwirtschaft als Kriegswirtschaft

Der Aufbau einer Armee erfordert auch in Friedenszeiten eine entsprechende Ausrüstung, also hat die Bundesrepublik sich eine Rüstungsindustrie aufgebaut. Dabei konnte sie in vielen Bereichen auf die Industrie zurückgreifen, die schon die Ausrüstung für den Zweiten Weltkrieg produziert hatte. Einkaufen können Staaten Waffen natürlich auch anderswo, damit werden sie aber abhängig von der Genehmigung des Waffengeberlandes – es sind Abhängigkeiten, die Staaten nur ungern eingehen. So hat Deutschland in der Anfangsphase seiner Wiederaufrüstung auf Waffen aus den USA gesetzt, aber bald in Kooperation mit anderen europäischen Staaten z.B. eigene Kampfflugzeuge entwickelt.

Die Waffenindustrie, die sich selber gerne Sicherheitsindustrie nennt, kennt im Prinzip nur einen Kunden: den eigenen Staat. Der gibt die Aufträge und bestimmt den Käuferkreis. Seinen Machtansprüchen muss dieser Industriezweig genügen und dafür wird er mit Aufträgen versehen. Das kostet einiges und so ist es kostensenkend, wenn die Produkte auch an andere Staaten verkauft werden können. Zudem – siehe oben – schafft dies Abhängigkeiten, wird doch die Genehmigung zum Verkauf an andere Staaten von deren Entgegenkommen bezüglich der eigenen Interessen abhängig gemacht. So hat die deutsche Rüstungsindustrie Produkte wie den Leopard-Panzer, Flugzeuge, U-Boote und andere Schiffe zustandegebracht, die weltweit begehrt sind und an alle möglichen Potentaten verkauft werden, so sie denn im Interesse Deutschlands unterwegs sind. Deshalb gehen auch Waffen an Staaten wie Saudi-Arabien, das im Nahen Osten für eine dem Westen genehme Ordnung sorgt, ebenso an Ägypten, dessen Putschisten-Fürst Flüchtlinge von der Fahrt übers Mittelmeer abhält.

Schon vor dem Beginn des Ukraine-Krieges wurde übrigens nicht nur von Politikern, sondern auch von Journalisten der Ausrüstungszustand der Bundeswehr beklagt, und selbst Satiriker, die sich als kritische Geister verstehen, forderten eine bessere Bewaffnung der Armee. Der wird mangelnde Einsatzbereitschaft bescheinigt, ohne dass jemand nach dem Ziel und Zweck von Einsätzen fragen wollte, die rundum auf dem Globus stattfinden und mit Landesverteidigung nichts zu tun haben. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz wurde dann von ihrem langjährigen Chef die Forderung nach einer Kriegswirtschaft erhoben: „Knallhart –Forderung von Wolfgang Ischinger: Deutschland braucht die Kriegswirtschaft!“ (Bild, 21.11.22) Ischinger, ehemaliger Diplomat und unterm grünen Aussenminister Fischer 1999 als Staatssekretär massgeblich am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien beteiligt, begründet dies mit dem steigenden Bedarf: „Der Bedarf an Gerät und Munition für die Bundeswehr und für die Ukraine ist dringlich und riesengross… Deshalb müssen entsprechende Prioritäten gesetzt werden.“ (Bild)

Die Ausrüstung der ukrainischen Armee und die Aufrüstung der Bundeswehr erfordern zusätzliche Produktionskapazitäten für Waffen und Munition und daher entsprechende Aufträge von Seiten der Politik. Scheitern würde der Ausbau der Rüstungsindustrie an bürokratischen Hemmnissen, sorgt sich die Presse, die sich ja als Vierte Gewalt im Staate durch eine besondere Gewalt-Affinität auszeichnet: „Die wehrtechnische Industrie könnte vieles von der Stange liefern, wenn das Verteidigungsministerium jetzt nach marktverfügbaren Produkten ruft… Aber es wird wegen der genannten bürokratischen Hemmnisse bisher kaum etwas abgerufen. Das wird sich nur ändern, wenn entsprechende Entscheidungen auf höchster politischer Ebene, also im Kabinett getroffen werden.“ (Bild)

Was da unter bürokratischen Hemmnissen gehandelt wird, sind unter anderem die demokratischen Entscheidungsverfahren, die über das Parlament und seine Ausschüsse laufen, sowie die geschäftsmässigen Verfahren, staatliche Aufträge auszuschreiben, um die Konkurrenz der Kapitale für sich zu nutzen. Was jetzt gefordert wird, heisst, diese Verfahren ausser Kraft zu setzen, damit die Rüstungsindustrie ihre Kapazitäten voll ausdehnen kann. Geld dafür steht seit der Ankündigung der Zeitenwende reichlich zur Verfügung. Und auch das Kapital steht Gewehr bei Fuss, um sich diese Geschäftsmöglichkeiten nicht entgehen zu lassen – die Aktie von Rheinmetall explodiert geradezu.

Mit den bürokratischen Hemmnissen ist es wohl auch nicht so weit her, denn im Sommer soll bereits eine neue Munitionsfabrik den Nachschub für die Ukraine und die Bundeswehr sichern. Rheinmetall will gleich eine Panzerfabrik ganz nah an der Front bauen, schliesslich baut der Konzern auch Flugabwehrsysteme.

Ideologische Begleitmusik

Währenddessen lobt der neue Minister Pistorius die Zusammenarbeit mit der Rüstungsindustrie: „Der Verteidigungsminister sagt, dass er `keine Berührungsängste` habe. Die Rüstungsindustrie sei ein Partner, `deshalb müssen wir an einem Strang ziehen`. Papperger (Chef von Rheinmetall) sagt, als Industrie müsse man nun `liefern`, das sei ´unsere verdammte Aufgabe`. Bundeswehr und Industrie müssten `Deutschland dienen.´ Leopard 2, Marder-Schützenpanzer, Munition – Papperger kann alles liefern. `Wir laufen hier auf Volldampf` sagt er.“ (SZ, 25./26.2.23) Der Vertreter der Rüstungsindustrie will also gerne seinen lohnenden Dienst für Deutschland erfüllen, doch da melden sich gleich Stimmen – nicht nur zur Unterstützung, sondern auch mit Bedenken.

Es gibt verschiedene Bedenkenträger. Kaum fordert André Wüstner, der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, bei Maybrit Illner eine Art Kriegswirtschaft, da fragt Mathis Feldhoff vom ZDF: „Die Forderung nach einer Art Kriegswirtschaft, um die Misere der Bundeswehr zu bewältigen, klingt nach Kaltem Krieg, ist aber ganz real. Doch ist sie auch realistisch?“ (ZDF heute, 1.2.23) Zwar befindet sich Deutschland als Nachschubstaat mitten in einem Krieg, doch der Kommentator vergleicht die gegenwärtige Situation eher mit der im Kalten Krieg und sorgt sich, ob die Forderung nach einer Kriegswirtschaft auch erfüllt werden kann.

Andreas Glas von der Bundeswehrhochschule Hamburg möchte trotz Hochfahren der Rüstungsindustrie von einer Kriegswirtschaft nichts wissen: „Der Begriff der Kriegswirtschaft bezeichnet eine Wirtschaftsordnung im Kriegszustand. Das trifft auf Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt keinesfalls zu. Wir befinden uns nicht in einem Verteidigungsfall, den müsste nämlich erst der Bundestag ausrufen.“ (ntv, 1.3.23) Kriegswirtschaft hat, diesem studierten Militär zufolge, nicht etwas mit dem Umfang der Aufrüstung zu tun, sondern mit dem Beschluss des Bundestages. Der Mann holt sich seine wissenschaftlichen Definitionen offenbar beim Parlament ab.

Doch mit seiner Einschränkung steht der Bundeswehrhochschullehrer nicht allein: „Der Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl von der London School of Economics ärgert sich … vor allem darüber, dass kaum einer erklärt, was er damit meint. Dann weiss man nämlich auch nicht, worüber man streitet.“ (SZ, 25./26.2.23) Hier wird überdeutlich, dass es nicht um die Sache geht – denn dass Aufrüstung und Ausbau der Rüstungs- oder Kriegswirtschaft sein müssen, darin sind sich alle einig –, sondern um die Bezeichnung der Sache, also darum, wie man es der Öffentlichkeit verkauft.

Da will man Bedenken anmelden und kenntlich machen, dass der jetzige Ausbau der Rüstungsindustrie mit Kriegswirtschaft rein gar nichts zu tun hat: „Kriegswirtschaft ist zuletzt immer Planwirtschaft, sagt Ritschl. Private Nachfrage werde mit drastischen Mitteln durch Staatsnachfrage verdrängt.“ (SZ) Bei Planwirtschaft soll man wohl gleich an Kommunismus denken – und davon sind wir ja meilenweit entfernt, das kommt gar nicht in Frage. Dabei überlässt auch in der Marktwirtschaft der Staat nicht alles einfach dem Markt. Gegebenenfalls klagt sogar das freie Unternehmertum, weil es nachhaltige Planung auf dem Arbeitsmarkt vermisst.

Ein solcher Bedarf wurde ja auch bei der Sicherstellung der Energieversorgung deutlich. Energieversorger wurden verstaatlicht und mit Kredit ausgestattet, um Gas- und Öltanker weg von Dritte-Welt-Staaten hin zu Deutschland umzulenken, weil es sich im Wirtschaftskrieg mit Russland befindet. Doch das alles soll natürlich nichts mit Kriegswirtschaft zu tun haben, so die Botschaft fürs breite Publikum. Denn schliesslich muss die Bevölkerung ihren Beitrag dazu in Form der Inflation, also Volksverarmung, bezahlen.

Rüsten für die zweite Front

Doch auch ein Friedensschluss ist heutzutage nicht unbedingt zu begrüssen, wenn er durch den Falschen vermittelt wird. Kaum hat China es geschafft, dass zwischen Iran und Saudi-Arabien wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen werden, hagelt es in der deutschen Presse Kritik (siehe SZ, 11./12.3.23; Bild am Sonntag, 12.3.23). Die macht auch nicht vor dem eigenen Verbündeten Saudi-Arabien halt, den man bislang mit Rüstungsgütern überhäuft hatte, damit er den Krieg in Jemen, laut UN die „grösste humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts“, in aller Rücksichtslosigkeit fortsetzen konnte. Schliesslich hat diese Vereinbarung China gestiftet, dem eine solche Regelung nicht zusteht und das bereits als ein weiterer Gegner in der Werte-Welt des Westens ausgemacht ist.

Auf die Gegnerschaft mit China wird sich denn auch schon gründlich vorbereitet, indem nicht nur vor dem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu dem Land öffentlich gewarnt wird, sondern auch der Handel unter Vorbehalt gestellt oder gar verboten wird. Das wird klargestellt: In keinem Fall darf man sich von einem Land abhängig machen, das bereits als Gegner ausgemacht ist. So werden bereits im Auftrag der Bundesinnenministerin die Telekommunikationsnetze auf Bauteile und Software aus China hin überprüft und gegebenenfalls ausgetauscht. Firmen wie Huawei werden weitgehend vom Handel ausgeschlossen (SZ, 7.3.23). Auch muss die Polizei sich Kritik gefallen lassen, da sie nicht nur zur Aufnahme von Unfällen, sondern auch zur Überwachung von Demonstranten Drohnen aus China einsetzt.

So setzen die Retter der regelbasierten Weltordnung Stück für Stück ihre Regeln gegenüber China ausser Kraft, weil sie das Land mitten im Frieden hinsichtlich der Handelsbeziehungen bereits als Feind definieren. Den gilt es zu bekriegen – in dem Kampf, der von den USA um die Hegemonie in der Welt angesagt ist und der schon seine Anlässe finden wird, um das Reich der Mitte als Ausgeburt des Bösen vorzuführen. Die Sirenen und Warnsysteme wurden jedenfalls schon mal getestet und auch sonst alles getan, um die entsprechende (Kriegs-)Moral im Volk zu verankern.

Einen solchen Frieden sollte man bekämpfen – und nicht bei der Obrigkeit „bitte, bitte“ machen, damit sie ihn aufrecht erhält.

Erstveröffentlicht im „Untergrund Blättle“ v. 10.4. 2023

Wir danken für das Abdruckrecht.

Arbeitsunfälle in Deutschland: Mehr als 1 Toter pro Tag

Von Renate Dillmann

Am 17.10. dieses Jahres starb der bulgarische Arbeiter Refat S. unter bisher ungeklärten Umständen im Duisburger Stahlwerk von Thyssenkrupp. Er war 26 Jahre alt, es war sein zweiter Arbeitstag. Refat S. wurde im Schlackebecken gefunden, die Polizei ermittelt noch. In jeder Woche sterben durchschnittlich 10 Arbeiter auf Baustellen, in Stahlwerken, Chemiefabriken, Schlachthöfen. In der Regel sind es Männer. Oft Migranten, die unter besonders hohem Arbeitsdruck in besonders wenig gesicherten Bereichen arbeiten. Öffentlich interessiert das tägliche Sterben in der BRD nicht groß – jedenfalls deutlich weniger als der natürliche Tod einer uralten Monarchin.

In Duisburg hat es einige durchaus beachtliche Demonstrationen gegeben, in denen Aufklärung und besserer Arbeitsschutz gefordert wurden – davon war in den Blättern der „Funke-Mediengruppe“, die das Ruhrgebiet geistig betreuen, nicht sonderlich viel zu lesen. In die überregionalen Nachrichten der Tagesschau oder des Heute-Journals bringt es ein solcher Protest natürlich erst recht nicht – kein Wunder, er greift ja nicht missliebige Potentaten in Russland, Iran oder China an…

Im Normalfall sind jedenfalls mehr als ein paar Zeilen in der Lokalpresse nicht zu erwarten: „Mann stirbt bei Arbeitsunfall in 30 Meter tiefem Versorgungstunnel“ (22.7.22 Berlin); „Tödlicher Baustellen-Unfall: Arbeiter (47) von Betonbalken erschlagen (21.9.22 München) und so weiter.

Die Statistiker der Gesetzlichen Unfallversicherung zählen selbstverständlich das Gesamtgeschehen in Deutschland penibel mit: „Im Bereich der UV (Unfallversicherung, RD) der gewerblichen Wirtschaft und der UV der öffentlichen Hand ereigneten sich 2021 insgesamt 806.217 meldepflichtige Arbeitsunfälle, die eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen oder den Tod zur Folge hatten, das sind 6,0 % mehr als im Vorjahr. Das Arbeitsunfallrisiko je 1.000 Vollarbeiter ist mit einem Wert von 19,78 um 7,2 % gestiegen.

Im Jahr 2021 waren 12.079 schwere Arbeitsunfälle zu verzeichnen, bei denen es zur Zahlung einer Rente oder eines Sterbegelds gekommen ist. Damit ist das Risiko je 1.000 Vollarbeiter, einen schweren Arbeitsunfall zu erleiden, von 0,321 im Vorjahr auf 0,296 in 2021 um 7,6 % gesunken. Bei den tödlichen Arbeitsunfällen ist gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um 111 Fälle auf 510 Todesfälle zu verzeichnen.“

Tragische Einzelfälle? Gehört die Gefahr eines eventuell sogar tödlichen Arbeitsunfalls schlicht zum „normalen Lebensrisiko“? Oder ist mehr zu den Ursachen zu sagen?

Unfallursache Kapitalismus

Unternehmen gehen durchaus robust mit der Gesundheit ihrer Arbeitskräfte um, weil sie den Produktionsprozess zum Zweck der Gewinnerwirtschaftung einsetzen. Das, was die Betriebe mit der gezahlten Lohnsumme an Leistung – extensiv wie intensiv – aus ihren Beschäftigten herausholen können, ist das entscheidende Mittel, die Spanne zwischen investiertem und hergestelltem Eigentum zu vergrössern. Wie sehr es ihnen gelingt, die in ihrem Betrieb geleistete Arbeit produktiv zu machen, ist die Grösse unter all ihren Ausgaben, auf die sie direkten Einfluss haben.

Mit ihrer Direktionsgewalt über den Betriebsablauf machen sie Vorgaben für den Arbeitsprozess und können diese durch Geschwindigkeit, Taktung oder die Menge der erteilten Aufträge objektivieren; so steigern sie kontinuierlich die Anstrengung, die der einzelne Arbeitnehmer an „seinem“ Arbeitsplatz zu erbringen hat.

Arbeitsunfälle, unmittelbare Gefahren und systematische Gesundheitsgefährdungen für die Arbeitskräfte gehören insofern in der Marktwirtschaft ebenso zum Arbeitsalltag wie der systematische körperliche und mentale Verschleiss, der seine Spuren in Form chronischer Krankheiten hinterlässt (dazu Teil 2). Kurz: Unternehmen verschwenden Physis und Psyche ihrer Beschäftigten und sparen an Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz.

Staat muss Arbeitsschutz erzwingen

Arbeitsschutz ist in der kapitalistischen Produktion nichts, worauf ein Unternehmen von sich aus Wert legt. Schutzvorrichtungen bei der Bedienung von Maschinen, Lärmschutz, die Verwendung nicht schädlicher Stoffe, stabil gebaute Arbeitshallen, die nicht einsturzgefährdet sind und in denen der Brandschutz gewährleistet ist – all das verursacht Kosten und wird deshalb, wenn es allein nach dem Willen der Unternehmen geht, nur gemacht, wenn die entsprechenden Schutzmassnahmen im Verhältnis zu den anfallenden Kosten und den zu erwartenden „Betriebsausfällen durch Unfall“ sich lohnen.

Ein Blick in die Geschichte oder in Länder, in denen für den kapitalistischen Weltmarkt produziert wird, ohne dass der Staat entsprechende Vorschriften macht, zeigt, wie brutal mit Leib und Leben der Arbeiter umgegangen wird. Karl Marx berichtet aus den Fabriken seiner Zeit, vom „systematischen Raub an den Lebensbedingungen des Arbeiters während der Arbeit“ und stellt fest: „Was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen?“ (Marx 1867: Das Kapital. S. 505)

Die rücksichtslose Praxis seiner Unternehmer hat der deutsche Sozialstaat im Interesse an einer nachhaltigen Benutzbarkeit seiner Arbeitsbevölkerung nach und nach durch Arbeitsschutzgesetze eingeschränkt.1 Heute gehören zum Arbeitsschutz diverse Rechtsverordnungen, u.a. Arbeitsschutzverordnung zu künstlicher optischer Strahlung (OStrV), Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV), Baustellenverordnung (BaustellV), Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV), Bildschirmarbeitsverordnung (BildscharbV), Biostoffverordnung (BioStoffV), Gefahrstoffverordnung (GefStoffV), Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArbSchV), Lastenhandhabungsverordnung (LasthandhabV), PSA-Benutzungsverordnung (PSA-BV), Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV).

Dass dermassen viele staatliche Verordnungen nötig sind, um den modernen Arbeitsprozess für die Arbeitnehmer wenigstens so aushaltbar zu machen, dass sie – zumindest als statistisches Kollektiv – ein Arbeitsleben durchstehen, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Erstens stellt es dem Zweck, um den es in den gesetzlich regulierten Fabriken, Baustellen und Büros geht, kein gutes Zeugnis aus – so etwas Unschuldiges wie „Versorgung der Menschen mit Konsumgütern“ wird es wohl kaum sein. Denn wenn es um diesen Zweck ginge, würde niemand die dafür fällige Arbeit so gefährlich und schädlich organisieren, dass bei der Produktion Physis und Psyche schon so in Mitleidenschaft gezogen werden, dass der Genuss der produzierten Güter gar nicht mehr sorglos zustande kommt.

Wenn zweitens per Rechtsverordnung einige (bisher erlaubte) Praktiken verboten werden – etwa die Überschreitung eines bestimmten Tageslärmpegels oder einer Hand-Arm-Vibration, dann sind damit alle Schädigungen an Ohren, Bandscheiben und Leber unterhalb der gezogenen Grenze bzw. Durchschnittswerte (!) erlaubt. Ganz im Gegensatz zur üblichen Vorstellung vom „Schutz“, legen die staatlich definierten Grenzwerte (das gilt übrigens auch für Lebensmittel u.a.) mit ihrem Verbot eines Übermasses also fest, in welchem Mass die Gesundheit der Betroffenen staatlich erlaubtermassen angegriffen und verschlissen werden darf.

Drittens verpflichtet der Staat sämtliche Unternehmen, in eine gesetzliche Unfallversicherung einzuzahlen. Er unterstellt damit, dass Arbeitsunfälle auch bei Geltung aller gesetzlichen Regelungen passieren, und zwingt die Betriebe als Gesamtheit, die durch Unfälle am Arbeitsplatz (zu denen auch Unfälle auf dem Weg dorthin gerechnet werden) sowie bei anerkannten Berufskrankheiten hervorgerufenen Behandlungs- und Folgekosten zu übernehmen.

Zur Finanzierung der Versicherung werden die Betriebe in „Gefahrklassen“ eingeteilt, was – neben der Anzahl der von ihnen beschäftigten Arbeitnehmer – unterschiedlich hohe Versicherungsbeiträge begründet. Die Einteilung beinhaltet ein objektives Eingeständnis. Sie macht nämlich deutlich, dass die Beteiligten in Politik und Wirtschaft sehr detailliert zu unterscheiden wissen, wie gefährlich die Produktionszweige ihrer kapitalistischen Marktwirtschaft im Einzelnen sind. Zudem sollen die Beitragskosten die Unternehmen im Idealfall motivieren, die Kosten der Unfallversicherung im Eigeninteresse durch freiwilligen Arbeitsschutz zu senken.

Die Realität dieses Ideals besteht allerdings in einer betriebswirtschaftlichen Abwägung: Sind die entsprechenden Arbeitsschutzmassnahmen teurer als der einzelbetriebliche Anteil an den Versicherungsbeiträgen, dann spricht aus Sicht des Betriebs „leider“ nichts zugunsten der Schutzmassnahmen. Oder anders formuliert: Die Gefährdung und Zerstörung von Gesundheit erhält auf diesem Wege einen Preis und wird damit zum Gegenstand einer Kosten-Nutzenabwägung, die nicht selten die Inkaufnahme vermeidbarer Unfälle und Krankheiten einschliesst.

Das gilt um so mehr, als staatliche Kontrollen bei den Arbeitsschutzmassnahmen sich auf Stichproben beschränken und nur alle Jubeljahre stattfinden, bei Betrieben unter 500 Mitarbeitern heisst das im Klartext: alle 20 Jahre – Resultat davon, dass das Personal bei der Gewerbeaufsicht zwischen 2005 und 2010 drastisch zusammengekürzt wurde.

Das Dilemma der Beschäftigten

Die staatliche Regelung erspart den Arbeitnehmern nicht, dass sie um entsprechende Arbeitsschutzvorrichtungen oft selbst noch kämpfen müssen (z.B. Lärmschutz).

Sie selbst sehen sich – gerade angesichts ständig steigender Leistungsanforderungen im Arbeitsprozess – dem Widerspruch ausgesetzt, dass Vorschriften bzw. Vorrichtungen vielfach zu einer Behinderung ihrer Arbeitsleistung führen, also Lohn oder Zeit kosten. So kommt es zu dem bekannten Phänomen, dass Arbeitnehmer die Schutzvorschriften – gegen ihr eigenes Schutzinteresse! – missachten, Maschinen bei laufendem Betrieb reparieren, Schutzvorrichtungen, weil störend abmontieren usw. usf.

Wenn es zu einem Unfall kommt, taucht deshalb als erstes die Frage auf, ob der betroffene Arbeitnehmer Sicherheitsschuhe oder Helm getragen und die neben dem Erste-Hilfe-Kasten ausgehängten Vorschriften beachtet hat – obwohl vom Chef über den Vor- bis zum Hilfsarbeiter alle wissen, dass die geforderte Leistung meist nicht zu erbringen wäre, wenn sich alle so verhalten würden. So wird versucht, die Verantwortung abzuwälzen: Nicht der auf Profit orientierte Betrieb mit seiner Organisation der Arbeit ist schuld, sondern derjenige, der für sich am Arbeitsplatz „zuviel“ rausholen wollte.

Fazit

Mit seiner Gesetzgebung zum Arbeitsschutz legt der moderne Sozialstaat die Bedingungen dafür fest, wie Benutzung und Verschleiss der Arbeitskräfte so vonstatten gehen, dass das Ganze gewissermassen „nachhaltig“ passieren kann. Das schliesst offenbar – siehe die Statistik der Gesetzlichen Unfallversicherung – nach wie vor eine erkleckliche Zahl an Arbeitsunfällen mit gesundheitlichen Folgen ein und auch ein paar hundert Tote pro Jahr.

Das ist auch kein Wunder, denn am Zweck der Arbeitsplätze in seiner Wirtschaft ändert ein solches Gesetz ja erklärtermassen nichts: Mit der Arbeit der Leute soll Gewinn erwirtschaftet werden – und das bedeutet unter den Bedingungen der globalen Standortkonkurrenz nichts Gutes für die Beschäftigten. Die wiederum müssen sich angesichts des brutalen Unterbietungswettbewerbs, in dem sie „normal“ und erst recht als migrantische Wanderarbeiter stehen, auf alle Bedingungen einlassen und schauen, wie sie damit klarkommen. Für Refat S. ist das nicht aufgegangen.

Es ist schon ein ziemlich robustes Verhältnis zur fremden wie eigenen Gesundheit, wozu die marktwirtschaftliche Konkurrenz ihre Subjekte nötigt…

Zuerst erschienen in „NachDenkSeiten“ v. 11. 11. 22
https://www.nachdenkseiten.de/?p=90247
Wir danken der Autorin für das Abdruckrecht.

Lesetipp:
Dillmann,Renate/Schiffer-Nasserie, Arian: Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung. Ökonomische Grundlagen/Politische Massnahmen/Historische Etappen. VSA-Verlag, Hamburg 2018

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