Sanktionen als Instrument von Wirtschaftskriegen

Die umfassenden Analysen von Jörn Rieken lassen kaum einen Zweifel: Sanktionen sind ein Instrument von Wirtschaftskriegen. Oft sind ihre Auswirkungen sogar noch verheerender als die von „heissen“ Kriegen. Für einen Sozialisten gibt es keine „guten“ Sanktionen des eigenen kapitalistischen Landes oder imperialen Blocks gegen deren Konkurrenz. Ebenso wenig wie es „gute Kriegskredite“ gibt. (Peter Vlatten)

Bei Sanktionen geht es letztlich um eine neoliberale Umverteilung im globalen Maßstab

Die Verhängung wirtschaftlicher Strafmaßnahmen erreicht nur in Ausnahmefällen die vorgeblichen Ziele einer Veränderung von Regierungshandeln der sanktionierten Länder. Im Kern geht es bei den Sanktionen um die Aufrechterhaltung westlicher Dominanz gegenüber drohender Multipolarität.

Dr. Jörn Rieken, Jahrgang 1956,
arbeitete als Entwicklungsökonom über 25 Jahre im Ausland für GIZ, EU und UNO mit Schwerpunkt multilateraler Handelsabkommen.
Der hier veröffentlichte Artikel ist
die gekürzte Fassung eines Textes
aus der jüngsten Ausgabe des
außenpolitischen Journals Welttrends.de, das einen Themenschwerpunkt »Globaler Wirtschaftskrieg« enthält. Eine noch ausführlichere Fassung sowie weitere Informationen befinden sich ebenfalls auf Welttrends.de. Jörn Rieken gehört zum Autorenkreis von FGLB und ist Aktivist der IG BAU.

Weitgehende Umlenkungsmöglichkeiten der Handelsströme, eine massive Stärkung der innenpolitischen Reputation und mangelnde Konditionierung von wirtschaftlichen Strafmaßnahmen führen im Gegenteil eher zu einer Stärkung von Regierungen in den sanktionierten Ländern.

Weltweit Hauptleidtragende sind die ärmeren Bevölkerungsteile und die energieabhängige industrielle Produktion. Es ist eine neoliberale Umverteilung im globalen Maßstab. Bezogen auf die innerstaatlichen Verhältnisse droht der sanktionsgetriebene Weltwirtschaftskrieg zu sozialen Kriegen zu führen.

Handelspolitik ist immer auch Interessenpolitik – bestenfalls zum Gesamtnutzen der beteiligten Länder, oftmals jedoch nur für deren Eliten. Sanktionen setzen die in der Welthandelsorganisation (WTO) einstimmig ausgehandelten und vertraglich fixierten Regelungen außer Kraft. Nicht zuletzt deshalb ermächtigt das Völkerrecht einzig den UN-Sicherheitsrat dazu, Sanktionen zu verhängen.

„Unilateral verhängte wirtschaftliche Strafmaßnahmen“, so die offizielle Bezeichnung von nicht durch die UN genehmigte Sanktionen, hingegen „stellen eine einseitige kollektive Bestrafung dar“ und wurden daher bereits 2013 von der UN-Generalversammlung als Menschenrechtsverletzungen verurteilt.

Mit seinem Beschluss vom 27. März 2023 stellte der UN-Menschenrechtsrat noch einmal fest, dass Sanktionen völkerrechtlich verboten sind und gegen das Internationale, das Menschen- und das Humanitäre Recht verstoßen. Auch darüber hinausgehende Maßnahmen, wie die Eingriffe in internationale Zahlungssysteme und die Beschlagnahmung von Konten, verstoßen ganz offen gegen internationale Abkommen und die Grundprinzipien des internationalen Rechts.

Ein entsprechender Bericht an die 17. Generalversammlung der UN stellte 2015 fest, dass „unilateral verhängte Maßnahmen, besonders Handelsembargos, schwere nicht-intendierte Folgen auf Menschenrechte, öffentliche Wohlfahrt und langfristige Wachstumsperspektiven für die betroffenen Länder haben.“

Der UN geht es nicht um rückwärtsgewandte Bestrafung, sondern um Erzielung eines Friedens. Daher wurden bei UN-Sanktionen zeitliche Begrenzungen mit regelmäßigem Monitoring eingeführt. Bei einer Bewertung des Nutzens von Sanktionen kann nicht allein deren Effektivität in Betracht gezogen, sondern es müssen auch die Kosten für sanktionsverhängende Staaten berücksichtigt werden.

Die bisher umfangreichste Studie wurde von Hufbauer et al. im Jahr 1990 erstellt und 2000 erneuert. In über 115 Fällen haben Sanktionen nur in einem Viertel der Staaten grundlegende politische Veränderung erzwingen können.

Allerdings führten wirtschaftliche Strafmaßnahmen in mehr als der Hälfte der Staaten zu einer Destabilisierung des Ziellandes. Nach der Neuauswertung 2000 konnte ein klarer Erfolg gemäß der ursprünglichen Zielsetzung in nur 5 von 115 Fällen beschrieben werden.

Unilaterale Sanktionen

In fundamentaler Abgrenzung zu UN-legitimierten Sanktionen leistet sich der Westen „eine Art idealistischen Oberschusses“ an sanktionspolitischem Unilateralismus.

Auch aufgrund ihrer empirisch belegten geringen Erfolgsbilanz weisen sie eine Tendenz zu Verhärtung und Eskalation auf. Praktisch gefangen in einer immanenten Eskalationsdynamik können USA und EU nicht aufhören, immer weitere Maßnahmen zu verhängen in der Befürchtung, ansonsten keine weiteren Optionen mehr zu haben.

Gemäß einer Untersuchung des Instituts für Wirtschaftsforschung Ifo zu Sanktionen mit dem Stand von 2020 stellen die Autoren fest, dass westliche Demokratien die häufigsten Urheber von Wirtschaftssanktionen sind, vor allem die USA und EU, während afrikanische Länder die häufigsten Sanktionsziele sind.

Seit Ende des Kalten Kriegs hätten Wirtschaftssanktionen rapide zugenommen. Eindeutige Folgen zeigten sich als Kollateralschäden in sinkender Lebenserwartung in den sanktionierten Ländern, bei Frauen stärker als bei Männern.

Bereits heute sind die Kosten für den sanktionierenden Westen im Falle Russlands und Chinas evident. Baldwin wies in seiner Auswertung von Sanktionen bereits im Jahr 2000 darauf hin, dass die Bedeutung von Kosten anerkannt werden müsse, „Pyrrhus-Siege seien kein Erfolg (…); es benötige komplexere Konzepte als den Sieg“.

Auch der IWF konstatierte bereits im Juni 2022, dass „die gegenwärtigen Wirtschaftssanktionen weltweit sogar größere Schocks auslösen würden als je zuvor“.

Trotz dieser eindrücklichen Warnungen mutiert das sanktionspolitische Instrumentarium zunehmend zum „Standrepertoire der Außenpolitik“. Im Juni 2004 veröffentlichte die EU ein die Sanktionen betreffendes Konzept zu den „Basic Principles on the Use of Restrictive Measures“, in dessen Mittelpunkt zielgerichtete Sanktionen stehen. Unter diesen „smart sanctions“ werden insbesondere individuelle Finanz- und Reisesanktionen beschrieben.

Europa degeneriert zum Vasallen der USA

In aller Offenheit hatte der frühere Präsident Bush den Einsatz wirtschaftlicher Strafmaßnahmen damit begründet, dass „es das oberste Ziel der US-Strategie nach dem Ende des Kalten Kriegs sein muss zu verhindern, dass irgendwo auf der Welt irgendeine Macht zum ebenbürtigen Konkurrenten wird.“

Gemäß dem gegenwärtigen Präsidenten Biden werden derzeit vom Westen „beispiellose Sanktionen“ eingeführt, die „in ihrer Gesamtheit die Potenz entfachen, Schäden zuzufügen, die der Anwendung militärischer Macht gleichkommen“.

Die EU folgt mit ihren Maßnahmen dem Sanktionsregime der USA, meist mit einem gewissen zeitlichen Abstand. Die Gründe hierfür lägen in der „maßgeblichen Rolle des US-Dollars“ und der „amerikanischen Kontrolle über das internationale Finanzsystem“.

Für eine „strategische Autonomie der EU bleibe daher keinerlei Raum“, diagnostiziert der European Council on Foreign Relations (ECFR), das wichtigste Beratungsgremium der Europäischen Kommission. Und konstatiert eine zwangsläufig „erfolgende Vasallisierung Europas“.

Gezielte Sanktionen

Neben den allgemeinen ökonomischen Strafmaßnahmen setzen USA und EU vorwiegend auf sogenannte „gezielte“ Sanktionen gegen Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen. Betrug deren Anzahl vor Februar 2022 noch rund 2.700, so zählte Castellum AI im August 2023 fast 15.000 allein gegen Russland.

Bereits im Ersten Sanktionspaket der EU wurden sämtliche 351 Abgeordnete des russischen Parlaments mit Sanktionen belegt, die für die Anerkennung der „Volksrepubliken“ gestimmt hatten. Auch 27 Banken und Unternehmen, denen Geschäfte mit den separatistischen Gebieten unterstellt wurden, trafen die Strafmaßnahmen, ebenso sowie Moderatoren von Nachrichten und Talkshows.

Dabei werden wirtschaftliche Strafmaßnahmen von einem exklusiven Kreis an EU-Entscheidern beschlossen, zu deren Begründungen selbst EU-Parlamentarier keinen Einblick erhalten.

Auch auf den Widerspruch von EU-Mitgliedstaaten wie Ungarn, einzelne Personen auszunehmen, wurde nicht reagiert. Für sanktionierte Einzelpersonen bestehen keinerlei Anreize zu Verhaltensänderungen, selbst wenn sie es könnten. Auch „gezielte“ wirtschaftliche Strafmaßnahmen sind damit als „Vergeltung ohne Zielsetzung“ zu beschreiben.

Umgehungsstrategien

Wenn mit sogenannten „gezielten“ Sanktionen gegen Einzelne also nur symbolische oder unspezifische Effekte erzielt werden können, verbleiben noch wirtschaftliche Strafmaßnahmen.

Effektiv können Exportbeschränkungen aber nur dann wirken, wenn sie unter weltweiter Beteiligung möglichst vieler Im- und Exporteure erfolgt. An den vom Westen gegen Russland auferlegten Sanktionen beteiligen sich allerdings außer den USA, Kanada und den 27 EU-Staaten nur noch acht weitere Länder.

Einige Länder des Globalen Südens hingegen profitieren von den bis zu 30 Prozent betragenden Rabatten auf von ihnen importierte Rohstoffe. Trotz Preisabschlägen für nicht-westliche Abnehmer konnte Russland seine Exporteinnahmen im Jahre 2022 drastisch ausweiten und auch 2023 bei geringerem Handelsvolumen höhere monatliche Einnahmen erzielen als vor 2021.

Selbst der IWF bescheinigt Russland eine ausgesprochen stabile finanzielle Situation, niedrige öffentliche Verschuldung und hohe Leistungsbilanzüberschüsse. Auch wenn die Einnahmen aus Energieexporten 2022 um fast ein Viertel zurückgingen, erwartete der Fonds für 2023 ein russisches Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent.

Umgehungsstrategien erwiesen sich bisher als recht erfolgreich. In der Sanktionsliteratur wird immer wieder auf die begrenzte Effektivität unmittelbarer, das sanktionierte Land direkt betreffender Strafmaßnahmen hingewiesen.

In vielen Artikeln wird beschrieben, dass – gemessen an den deklarierten Zielsetzungen – Kubas wirtschaftliche Entwicklung, selbst nach Wegfall der sowjetischen Unterstützung, relativ stabil weitergelaufen wäre, Nordkoreas technologische Entwicklung bisher weitgehend ungestört verlaufe, und Iran sich wirtschaftlich und geopolitisch zur regionalen Mittelmacht entwickeln konnte.

Im Fall Nordkoreas waren wirkungsvoll einzig die extremen humanitären Kosten für den ärmeren Teil der Bevölkerung. Auch in Kuba und Iran wurde ein Großteil der Kosten auf die ärmere Bevölkerung abgewälzt.

Ein vollkommenes anderes Bild ergibt sich für sanktionierte Länder mit geringerer wirtschaftlicher Entwicklung.

Der Menschenrechtsbeauftragte der UN, Volker Türk, konstatierte im Januar 2023, „dass die seit 2017 gegen Venezuela verhängten sektoralen Sanktionen die Wirtschaftskrise verschärft und die Menschenrechte beeinträchtigt haben“.

Noch drastischere humanitäre Auswirkungen zeigen sich in Afghanistan. Dessen Wirtschaft wurde der endgültige Todesstoß versetzt, als die Reserven der Zentralbank durch USA und EU eingefroren und das Land vom Zahlungsdienstleister Swift ausgeschlossen wurde. Während die UN vor „einer der umfassendsten humanitären Krisen, die die Welt je sah“ warnen, sind die Unama-Mittel für Afghanistan nur zu 30 Prozent finanziert.

Bereits im März 2022 warnte der IWF vor dem Risiko einer dauerhaften Fragmentierung der Weltwirtschaft in geopolitische Blöcke mit unterschiedlichen technologischen Standards, Zahlungssystemen und Reservewährungen.

Die vom IWF vorausgesagte „tektonische Verschiebung“ würde hohe Anpassungskosten und anhaltende wirtschaftliche Effizienzverluste mit sich bringen, da Lieferketten und Produktionsnetzwerke neu ausgerichtet werden müssten.

Hier deuten sich Parallelen an zum endgültigen Zusammenbruch des Goldstandards 1931, als sich vier Währungsblöcke herausbildeten, die untereinander kaum verbunden waren.

Der internationale Handel reduzierte sich bis 1938 um mehr als 60 Prozent, die bis dahin hohe Intensität weltwirtschaftlichen Integration ging deutlich zurück. Erst in den 1970er Jahren wurde wieder das Niveau von 1914 erreicht.

Sanktionen im Energiesektor

Die Nachrichtenagentur Bloomberg berechnete bereits im Dezember 2022 die Kosten von Energiesanktionen für die EU auf eine Billion US-Dollar. Nach Angaben der Brüsseler Denkfabrik Breugel hat die EU Unternehmen und Verbrauchern bereits 2022 mit 700 Milliarden US-Dollar geholfen, einen Großteil der Preisanstiege abzufedern, „aber der Ausnahmezustand könnte noch Jahre andauern“.

Allein für Deutschland beliefen sich damals bereits sanktionsbedingte Kosten auf mehr als 440 Milliarden Euro.

Für die sanktionierenden Länder erwartete die OECD schon Mitte 2022 eine nachhaltige Schädigung des Konsums durch einen starken Verlust an Kaufkraft, eine lang anhaltende Rezession und den Rückgang von Investitionen.

Auch die Weltbank befürchtete wenig später eine Rückkehr zur Stagflation in Analogie zu den 1970er-Jahren, die von schwachem Wachstum in Kombination mit hoher Inflation geprägt waren.

Das Institut der Deutschen Wirtschaft sah EU und BRD bereits Ende 2022 als krisenbedrohte „wirtschaftliche Großmacht“. Nach den Krisen bei Banken, des Euro und der durch die Pandemie ausgelösten drohe nunmehr mit der Sanktionskrise ein lang anhaltender wirtschaftlicher Verfall.

Auch das IW formuliert, dass der „Zugang zu günstigen Rohstoffen wie Energiequellen“ einen schwer wettzumachenden Standortnachteil gegenüber den USA darstelle.

Aufgrund längerfristig mehr als dreifach höherer Energiepreise erwartet der DIHK eine „strukturelle Krise“ mit dem Potenzial, „Teile der wirtschaftlichen Struktur zu zersetzen“ sowie einer Verschiebung von Produktionsstandorten in Ausland.

In der öffentlichen Adressierung von Kostenträgern halten sich die meisten Regierungsvertreter noch zurück. Konkretere Formulierungen finden sich bereits in Wirtschaftskommentaren, nach denen die Friedensdividende aufgezehrt sei und daher die Sozialausgaben überprüft werden müssen.

Eindeutige Umverteilungseffekte zeigen sich bei den seit 2022 außerordentlichen Gewinnen vieler multinationaler Konzerne, besonders in den Branchen Energieversorgung und Nahrungsmittelverarbeitung. Dagegen mussten abhängig Beschäftigte in Deutschland mit 4,7 Prozent den „historisch“ größten Reallohnverlust seit dem Zweiten Weltkrieg hinnehmen.

Das WSI bezeichnet derweil die in so kurzem Zeitrahmen erfolgte Umverteilung von unten nach oben als „historisch“.

Sanktionen im Bereich Dienstleistungen

Bislang am effektivsten sind Sanktionen, die den Handel mit Dienstleistungen betreffen. So wurden im 7. Sanktionspaket der EU für den russischen Schiffstransport von Rohöl und Erdölprodukten Versicherungsleistungen nur noch bei Einhalten eines Preisdeckels für die exportierten Produkte erlaubt.

Diese Leistungen wurden vor 2022 zu 90 Prozent von EU- und britischen Firmen angeboten und die bedeutendsten Versicherer und Händler befinden sich in der EU, Großbritannien und der Schweiz.

Aufgrund rechtlicher Unsicherheit über den Geltungsbereich von Dienstleistungssanktionen haben sich mittlerweile auch alle westlichen Banken aus der Finanzierung von Handelsgeschäften zurückgezogen. Nicht betroffen sind allerdings Reedereien, da Griechenland Einspruch erhob.

Auch kann der Handel mit Rohstoffen aus Russland weitgehend ungestört weiterlaufen, da er vom bisher dominierenden Handelsplatz Schweiz nach Dubai umzog.

Keine Umgehungsmöglichkeiten hingegen gab es bei der Beschlagnahmung von auf ausländischen Banken deponierten Zentralbankreserven. Im Falle Irans, Venezuelas und Russlands hatte das für die betroffenen Länder zwar spürbare, bezogen auf deren Gesamtumfang jedoch begrenzte Folgen.

Der Ausschluss Jugoslawien aus dem Swift während dessen Zerfallsprozesses und die gleiche Maßnahme gegen Afghanistan heute hatte und hat gravierende Folgen für die gesamte Bevölkerung der betroffenen Staaten.

Auch in Kuba, Iran, Russland und Venezuela sind migrantische Arbeiter und private Personen für Überweisungen auf informelle Dienstleister mit oft sehr hohen Transaktionskosten angewiesen. Die regierungsberatende SWP konstatiert daher, dass es „unterschiedliche Auffassungen“ darüber gäbe, wer als ideale Zielgruppe anzusehen ist.

Erbitterte Konkurrenz

Aufgrund des Boykotts russischen Pipelinegases stiegt der LNG-Import Europas bis Anfang 2023 um 65 Prozent. Infolgedessen traten die europäischen Importeure in erbitterte Einkaufskonkurrenz mit ärmeren Ländern. Indien, Pakistan und Bangladesch verloren zusammengenommen rund 18 Prozent ihrer LNG-Importe.

Sogar vertraglich fest zugesagte Importe blieben aus, sodass Pakistan und Bangladesch wegen Erdgasmangels zeitweise Fabriken stilllegen und den privaten Konsum strikt beschränken mussten.

Noch 2021 belieferten Russland und die Ukraine den Weltmarkt mit rund 30 Prozent aller Weizen- und 20 Prozent aller Maisexporte. Mitte 2022 wurde das Abkommen über ungehinderte Getreidelieferungen der Ukraine über das Schwarze Meer ausgehandelt.

In dem Abkommen waren gleichfalls Bestimmungen enthalten, die einen sanktionsfreien russischen Getreideexport ermöglichen sollten. Dieser Teil des Abkommens wurde allerdings von der EU nicht umgesetzt. Aufgrund der Sanktionen waren anfangs nur wenige Reeder, Handelsbanken und Versicherungen bereit, russische Lieferungen zu ermöglichen.

Besonders betroffen sind arme Länder wie Somalia, in denen sich die Preise für Grundnahrungsmittel verdoppelten. Trotz dieser umfangreich dokumentierten Notlage soll der für 2024 geplante Etat der deutschen Entwicklungszusammenarbeit um 22 Prozent, das darin enthaltene Budget für humanitäre Hilfe sogar um 36 Prozent gekürzt werden.

Laut einer Studie der University of Edinburgh haben Düngemittel- und Energiepreise einen viel stärkeren Einfluss auf die Getreidepreise als punktuelle Exportschranken wie die Aussetzung des Getreidedeals.

Die weltweiten Düngerpreise verbleiben in Afrika bis heute auf dem dreifachen Niveau von 2021. Gemäß dem International Food Policy Research Institute (IFRI) sind rund 20 Prozent des weltweiten Düngerhandels von den Strafmaßnahmen betroffen.

Profitieren konnten hingegen die neun weltgrößten Düngemittel-Unternehmen, deren Gewinne von rund 14 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020 auf 49 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 stiegen.

Über die Sanktionen beim Waren- und Dienstleistungshandel hinaus sollen westliche Wirtschaftsstrafmaßnahmen auch auf Restriktionen für Investitionen aus dem Ausland ausgedehnt werden. Untersagte Auslandsinvestitionen wurden von 2019 bis 2022 von nur wenigen Dutzend auf mehrere Hundert vervielfacht.

Zusätzliche Probleme dürfte künftig das in westlichen Ländern geplante Outbound Investment Screening schaffen. Faktisch würde es dazu führen, dass westliche multinationale Unternehmen ihre globalen Geschäfte in eine nordamerikanisch-europäische, eine chinesische und eine indisch-südostasiatische jeweils separat geführte Firma aufspalten müssten.

Deglobalisierung

Selbst die Präsidentin der EZB und die US-Finanzministerin warnen inzwischen vor dem sanktionsbasierten Gespenst der Deglobalisierung und seinen Folgen wirtschaftlicher Fragmentierung mit weniger Handel, geringerer Produktion und höherer Inflation.

Die Auflösung der bisherigen Handelsbeziehungen werde sich gravierend auf Länder mit niedrigem Einkommen und weniger wohlhabende Verbraucher in fortgeschrittenen Volkswirtschaften auswirken.

Im bundesrepublikanischen Kontext werden wirtschaftlichen Strafmaßnahmen dagegen als „wertebasierte Handelspolitik“ verbrämt und die angestrebte Entkoppelung als „friendshoring“ bezeichnet.

Der IWF schätzt, dass die gegenwärtige „geoökonomische Fragmentierung“ zu höherer makroökonomischer Volatilität, größeren Krisen und einer „finanziellen Regionalisierung“ mit einem fragmentierten globalen Zahlungssystem führe.

Bei starker Fragmentierung des Handels könnten Kosten von bis zu sieben Prozent anfallen, und bei zusätzlicher technologischer Entkopplung der Produktionsverlust in einigen Ländern bis zu zwölf Prozent betragen.

So untergräbt die Sanktionsallianz das Fundament der internationalen Arbeitsteilung und scdigt sich langfristig selbst.

Erstveröffentlichungen: ausführliche Fassung, gekürzte Fassung auf telepolis 11.11.23 und auf ND 27.11.23

http://PDF Kurzfassung

Fehlanzeige Tempolimit – nichts bewegt sich in Deutschland jenseits vom Profit!

Deutschland ist inzwischen das einzige Land der EU, wo es noch kein Tempolimit gibt (siehe Grafik). Dabei ließe sich doch vollkommen kostenlos eine Menge CO2 einsparen, nicht weltbewegend viel, aber immerhin zählbar. Eigentlich müssten Finanzminister Lindner, aber auch seine Ampelpartner angesichts der sonst dicken Haushaltslöcher wahre Luftsprünge machen. Wo sonst gibt es sonst, und erst recht beim CO2, schon was umsonst ?

Stattdessen wird um die Finanzierbarkeit teuerster Maßnahmen für CO2 Einsparungen auf anderen Wegen, seien es zum Beispiel Wärmepumpen oder Wärmedämmung, regelrecht ein Kampf ausgefochten . Manch einer versteht die Welt nicht mehr. Warum greift der Finanzminister nicht einfach zu beim Tempolimit, das so wohlfeil zu haben ist? Gerade jetzt wo nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Haushaltslöcher so groß sind wie nie zuvor.

Ist es die große Freiheit? Sicher auch. Aber nur für die, die genug Power unter der Haube und in der Tasche haben. Wir kommen der Wahrheit schon näher, wenn wir die Wirkung der CO2 Bespreisung, die ja als Wunderwaffe zur Verringerung von CO2 gepriesen wird, betrachten. Denn durch den fossilen Mehrverbauch ohne Tempolimit kann Lindner hier mit mehr Steuereinnahmen rechnen. Die können dann wieder ausgegeben werden zum Beispiel fürs Militär, wo keine CO2 Bespreisung stattfindet.

Tempolimit kostet nicht nur nichts, sondern würde ja auch den Energiemarkt, auf dem ordentlich verdient wird, entspannen helfen. Das wiederum würde die Kosten – ja sicher nur ein kleines bischen- für die Allgemeinheit dämpfen. Aber wer verkämpft sich denn von den Verantwortlichen dieser Republick für sowas, wenn gleichzeitig ein kleines bischen Gewinne und umleitbare Staatseinnahmen, sei es für Aufrüstung oder auch Subventionen für die Automobilindustrie, verloren gehen?

All diese Wahrheiten reichen nicht aus, um zu erklären, warum ausgerechnet in Deutschland die Einführung des Tempolimits immer wieder ausgebremst wird. Die eigentliche Wahrheit ist in diesem System ganz einfach. Die Perlen der deutschen Autoindustrie, eine übermächtige ökonomische und politische Größe in diesem Land, fahren mit ihren hochkarätigen Kraftpaketen und Luxusfahrzeugen als besonderen Fokus die dicksten Profite ein. Die „grosse Freiheit“ hat also ihre materielle Basis.

Und kostet ein Tempolimit Arbeitsplätze? Wohl kaum. In die aufgemotzten Maschinen und Karossen fließt nur unwesentlich mehr Arbeit ein als in die Herstellung normaler Autos. Der größte Unterschied ist, daß sie unverhältnismäßig mehr Sonderprofit abwerfen. Ganz abgesehen davon, dass die Zukunft der Arbeitsplätze jenseits des Individualverkehrs liegen wird.

Noch Fragen, warum es so unglaublich schwierig ist , diese ganz einfache kostenlose Maßnahme „Tempolimit“ in Deutschland umzusetzen?

Lieber steckt man da junge Menschen, die sich dagegen mit verzweifelten Mitteln wehren, schon mal in Sicherheitsverwahrung. Erst Klimkanzlerin, jetzt Klimaregierung. Autokapital und Individualverkehr bleiben King. Deutschland 2023!

Bedrohte Heimat

Von Stephan Kaufmann

In Deutschland wird wieder vor »Deindustrialisierung« gewarnt. Dabei geht es um weit mehr als bloß Marktanteile

Als Außenministerin Annalena Baerbock diese Woche ihre Reise nach Australien wegen eines defekten Bundeswehrflugzeugs absagen musste, entdeckte die Öffentlichkeit ein weit größeres Problem als nur eine kaputte Landeklappe. »Deutschland blamiert«, jammerte die »Bild«. Und der britische »Economist« verwies darauf, dass Deutschland in der Vergangenheit aus »Selbstgefälligkeit« zu wenig investiert habe – in die Bundeswehr, in die notorisch verspätete Bahn und anderes. Damit reiht sich die Episode ein in die aktuelle Erzählung, Deutschland drohe die »Deindustrialisierung«. In der weltweiten Konkurrenz mit den USA und China könne es absehbar nicht mehr mithalten. Industrievertreter nehmen dies zum Anlass, der Bundesregierung ihre Wunschlisten vorzulegen: mehr Geld für die Unternehmen und mehr Arbeit für die Bevölkerung.

Die Warnung vor dem Niedergang des Industriestandortes ist ein wiederkehrendes Moment. In den 70er Jahren fürchtete man, die extrem gestiegenen Energiepreise würden das produzierende Gewerbe Deutschlands ruinieren. Anfang der 2000er wiederum galt die »Globalisierung« als Gefahr. »Bye-bye made in Germany«, titelte 2004 der »Spiegel« und schrieb: »Die Globalisierung erreicht eine neue Qualität: Sie bedroht die Basis der deutschen Wirtschaft – den industriellen Kern. Immer mehr Konzerne und Mittelständler verlagern Teile der Produktion ins Ausland. Lässt sich dieser Prozess noch stoppen?«

Hintergrund der Klage des »Spiegel« war, dass in den neunziger Jahren das deutsche Kapital in die osteuropäischen und asiatischen Billiglohnstandorte expandierte. »Kaum eine Woche vergeht, in der Unternehmen nicht ankündigen, Anlagen und Arbeitsplätze in Deutschland abzubauen und dorthin zu gehen, wo der Arbeiter ein bis zwei Euro pro Stunde kostet und nicht 27 bis 28 Euro«, schrieb das Magazin. »Das Land der Maschinenbauer und der Autohersteller, der Ingenieure, Mechaniker und Laboranten – es verliert allmählich seine industrielle Basis.«

Heute ist die Lage eine andere. Mit den hiesigen Lohnkosten scheinen Deutschlands Unternehmen ganz zufrieden zu sein. Geklagt wird eher über die teure Energie und über den Fachkräftemangel. Beides wiederum gilt als Bremse bei der Bewältigung der eigentlichen Aufgabe: den Wettlauf mit China und den USA um die Beherrschung der Zukunftstechnologien und -industrien zu gewinnen. In Sachen Digitalisierung liege Deutschland hoffnungslos hinter den USA, heißt es, und in Sachen E-Mobilität hinter China. Mit Milliardensubventionen bauen Washington und Peking Produktionskapazitäten für Batterien, Künstliche Intelligenz, Chips und Klimaschutztechnologien auf. Während also vor 20 Jahren sich das deutsche Kapital nach Osteuropa globalisierte und so seine Macht stärkte, gilt heute die industrielle Kapazität des Standortes an sich als gefährdet. »Wenn Deutschlands Autobranche verschwindet, täte sich ein riesiger ökonomischer Krater in der Mitte Europas auf«, zitiert der »Economist« Wolfgang Schröder vom Wissenschaftszentrum Berlin.

In der Umfrage »Elite-Panel« des Allensbach-Instituts stimmte zuletzt die Mehrheit der Topmanager und Unternehmer der These zu, Deutschland habe »seinen Zenit überschritten und seine besten Jahre hinter sich«. Die CDU fordert daher ein »Sofortprogramm für die Wirtschaft«, und die Ampel-Koalition hat ein »Wachstumschancengesetz« auf den Weg gebracht, vor allem Steuersenkungen für die Unternehmen.

Die Deindustrialisierungsklage erklingt allerdings von sehr hohem Niveau. Zwar wird darauf verwiesen, dass die deutsche Wirtschaft derzeit nicht mehr wächst und in den nächsten Jahren auch weniger zulegen wird als die in den USA, Frankreich oder Spanien. Allerdings war das deutsche Wachstum zwischen 2006 und 2017 auch höher als das der meisten Konkurrenten. Zudem ist die aktuelle Wachstumsschwäche vorübergehend – »jenseits des zyklischen Abschwungs sind die Aussichten für Deutschland nicht schlecht«, kommentiert die Berenberg Bank.

Und schließlich ist die aktuelle Wachstumsschwäche weniger einem allgemeinen Niedergang Deutschlands zuzuschreiben, sondern zum großen Teil seinen vergangenen Erfolgen: Während hier zulande der Anteil der industriellen Wertschöpfung an der Wirtschaftsleistung noch bei rund 20 Prozent liegt, ist er in den USA auf elf Prozent gesunken, in Frankreich und Großbritannien auf neun Prozent. »Außer Deutschland haben alle alten Industriemächte in den vergangenen 25 Jahren Marktanteile und Wettbewerbsvorteile an Asien verloren«, notiert die französische Bank Société Générale. Laut dem Index der ökonomischen Komplexität der Universität Harvard rangiert Deutschland weltweit an vierter Stelle hinter Japan, der Schweiz und Südkorea – die USA finden sich auf Platz 9, Frankreich auf Platz 17, dahinter folgt China. Als erfolgreiche Industrie- und Exportnation leidet Deutschland nun derzeit stärker als andere unter der schwachen Weltwirtschaft und den schrumpfenden Wachstumsraten Chinas.

Zwar besteht die Gefahr, dass die deutschen Unternehmen im Rennen um Zukunftstechnologien wie zum Beispiel Elektroautos zurückfallen. Noch aber ist Volkswagen weltgrößter Autobauer, wie auch Mercedes verzeichnete es zuletzt hohe Gewinne, die ihm Massen an Kapital einspielen, um im E-Auto-Rennen mitzuspielen. In den ersten sieben Monaten des laufenden Jahres hat Volkswagen bei den Erstzulassungen von Elektroautos in Deutschland den US-Konkurrenten Tesla wieder abgehängt.

Die Gefahr, vor der derzeit gewarnt wird, scheint daher weniger in einer Deindustrialisierung Deutschlands zu liegen, sondern darin, dass seine industrielle Führungsposition infrage steht. Jahrzehntelang haben deutsche Produkte den europäischen Markt »dominiert«, so das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft. Noch immer habe Deutschland »bei anspruchsvollen Industriegütern die Nase vorn«, aber »China holt rasant auf«, die deutschen »Vorsprünge sinken«. Die Stellung als weltweit führender Autoexporteur teilten sich in der Vergangenheit stets Japan und Deutschland, nun aber ist China vorn – was angesichts seiner ökonomischen Größe kein Wunder ist und was zum Teil an den westlichen Konzernen liegt, die in China produzieren und von dort exportieren.

Der Standort Deutschland sei immerhin noch »europäischer Durchschnitt«, so die Berenberg Bank – doch »Durchschnitt« ist zu wenig, wenn man die Konkurrenz schlagen will. In diesem Sinne kündigt auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen regelmäßig an, »wir wollen die Führenden bei klimafreundlichen Industrien, Technologien und Finanzierungen sein«, Europa müsse sich »einen Vorsprung verschaffen« und »eine Vorreiterrolle übernehmen«, um den Rest der Welt abzuhängen. Das ist kein defensives Programm.

Es geht um »Technologieführerschaft«, mahnt der deutsche Industrieverband BDI. Denn wer führt, macht das Geschäft – und nicht nur das. Der Aufbau der Industrie hat längst eine geopolitische Dimension. Ohne Führungsrolle, warnt von der Leyen, drohe »Abhängigkeit« vom Ausland, also Erpressbarkeit. Daher sei beispielsweise Europas Abhängigkeit von Hochleistungschips aus Asien »nicht nur eine Frage unserer Wettbewerbsfähigkeit. Es ist auch eine Frage der technologischen Souveränität.« Unabhängig vom Ausland will man insbesondere in der Militärtechnologie sein. »Das Ziel strategischer Autonomie verlangt, dass Schlüsseltechnologien und Produktionsfähigkeiten für die Landes- und Bündnisverteidigung von Europa weitgehend selbst bereitgestellt und gesteuert werden«, so der BDI, der andernfalls »die politische Überlebens- und Gestaltungsfähigkeit Europas« gefährdet sieht.

Politik und Wirtschaftsverbände gehen offensichtlich davon aus, dass der Weltmarkt vermehrt zum geopolitischen Schlachtfeld wird. Daher sollen Chip- und Batteriefabriken in der Heimat entstehen, also unter politische Kontrolle gebracht werden. Schrittweise aufgegeben wird damit die alte Strategie aus den Zeiten der »Globalisierung«, Produktionskapazitäten im billigeren Ausland aufzubauen, um so die Kosten zu drücken. Denn eigene Fabriken im Ausland sind lediglich Rechtsansprüche unter fremder Herrschaft. Darauf wies bereits 2008 der Schweizer Wirtschaftshistoriker Jörg Baumberger hin: »Rechtsansprüche lassen sich in eine Bilanz schreiben. Aber man kann sie nicht essen, mit ihnen nicht bauen, in ihnen nicht wohnen, mit ihnen nicht Krieg führen. Die Finanzgeschichte internationaler politischer Konflikte zeigt deutlich, dass in zwischenstaatlichen politisch-ökonomischen Interessenkollisionen nicht der Rechtsanspruch, sondern die physische Herrschaft ausschlaggebend ist. Die politische Macht beruht letztlich auf der Möglichkeit, physischer Herrschaftsausübung und nicht auf dem Umfang angesammelter Rechtsansprüche.«

Der Weltmarkt ist damit nicht mehr länger nur eine große Chance. Stattdessen gilt das Ausland zunehmend als Angreifer, gegen den man sich zur Wehr setzen muss. Angesichts der staatlichen Investitionsprogramme in den USA und China »darf Deutschland sich nicht an den Spielfeldrand drängen lassen«, warnte Wirtschaftsminister Robert Habeck. Und die Grünen-Parteichefin Ricarda Lang rief dazu auf, »das wirtschaftliche Fundament Deutschlands zu verteidigen«.

Die lohnabhängige Bevölkerung ist damit dazu aufgerufen, sich mit der heimischen Industrie zu solidarisieren. Schließlich fliehen die Unternehmen »in zunehmendem Maße aus Kostengründen« aus Deutschland, so der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks, und die daraus folgende »Deindustrialisierung ist eine Tragödie für unser Land«, klagt der Bundesverband der Mittelständischen Wirtschaft.

Angesichts der Bedrohung aus dem Ausland, das »unsere« Unternehmen wahlweise lockt oder bedrängt, legen Industrievertreter nun ihre Wunschlisten vor: Der Standort Deutschland müsse mehr »Investitionsanreize« bieten, also höhere Renditen. Dafür sollen Steuern und bürokratischer Aufwand sinken, im Gegenzug soll die staatliche Förderung ausgebaut werden. Die lohnabhängige Bevölkerung hingegen wird darauf hingewiesen, dass angesichts gestiegener Lohnstückkosten in den vergangenen Jahren »die errungenen Vorteile bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit wieder verloren« gegangen sind, so die Commerzbank.

Vor allem aber fordert die deutsche Industrie mehr Arbeitskräfte. »Der Mangel an Personal ist das größte Risiko«, erklärt Industrielobbyist Christoph Schemionek dem »Handelsblatt«. »Die Unternehmen könnten noch mehr Geschäfte machen, müssen aber Aufträge ablehnen.« Die Deutschen sollen also länger arbeiten, später in Rente gehen, zudem will man mehr Fachkräfte aus dem Ausland holen, um das Arbeitsangebot zu erhöhen. Denn letztlich läuft die internationale Konkurrenz der Standorte über den Vergleich der Lohnstückkosten und der Arbeitsproduktivität.

Das weiß auch die US-Regierung: »Amerikas Arbeiter können im Wettbewerb jeden aus dem Feld schlagen, sie brauchen nur eine Regierung, die für sie kämpft«, so hatte US-Präsident Joe Biden im Wahlkampf für sich geworben und versprochen, dass »die Zukunft hier in Amerika gefertigt wird«. So behandelt auch der nach eigener Aussage »gewerkschaftsfreundlichste Präsident, den die USA je hatten«, seine lohnabhängigen Landsleute als nationale Ressource im Kampf um globale Dominanz.

Die Politik nimmt die Aufgabe an. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sieht sich »an die späten 1990er Jahre erinnert« und fordert für Deutschland »ein Gesamtkonzept im Sinne einer Agenda 2030«. Es gehe darum, so Lindemann am Freitag, dass »Leistung sich wieder lohnt, dass Fördern und Fordern wieder stattfinden«. Obwohl die ökonomische Situation heute eine andere ist als Anfang der 2000er Jahre, wird daraus der gleiche Schluss gezogen wie damals: Die Deutschen sollen mehr arbeiten, sich mehr anstrengen – damit ihnen das Ausland nicht die Arbeitsplätze wegnimmt. Das Timing damals war bemerkenswert: 2001 sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Bild-Zeitung, »es gibt kein Recht auf Faulheit«. 2003 folgte die Agenda 2010. 2004 wurde vor der Deindustrialisierung Deutschlands gewarnt. Und Anfang 2005 trat Hartz IV in Kraft.

Erstveröffentlicht im nd
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175635.deindustrialisierung-industriestandort-deutschland-in-not.html?sstr=Stephan|Kaufmann
Wir danken für das Abdruckrecht.

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