Spanien: Integration im Gemüsebeet

Eine Finca schließt eine Lücke im spanischen Migrationssystem

Von Anika Reker

Der Artikel zeigt naheliegende Antworten auf die sog. Flüchtlingskrise. Menschliche Perspektiven in einer Zeit der Barbarei. Kooperation, Selbstermächtigung und Entwicklung von Menschen und ihrer Fähigkeiten. (Jochen Gester)

Bild: pixabay

Ein sonniger Samstagvormittag auf der Finca »La Petite« in der andalusischen Provinz Cádiz: Das vietnamesische Hängebauchschwein Roberta wälzt sich zufrieden im Schlamm, während Hühner zwischen Ponys und Ziegen nach Insekten picken. Nach und nach treffen die Mitglieder der Stiftung »Esperanza en Acción« (»Hoffnung in Aktion«) ein. Familien mit Kindern zieht es zuerst zu den Tiergehegen und dem selbstgebauten Spielplatz. An der Freiluftbar schenken Freiwillige Getränke aus. Schräg gegenüber werden Gemüsekisten verteilt – 55 sind es heute.

Der Inhalt dieser Kisten stammt aus dem Bildungsgarten, der sich im Zentrum des Geländes befindet. »Hier wachsen Möhren, dort drüben Bohnen, dort Salate«, erklärt Pape, der vor anderthalb Jahren aus dem Senegal nach Spanien gekommen ist. »Das hier ist Mangold – den kannte ich von zu Hause gar nicht. Auch Spinat nicht. Das habe ich alles erst hier kennengelernt.« Er zeigt auf die verschiedenen Gemüsesorten, die er und die anderen Finca-Bewohnenden in diesem Jahr ausgesät haben.

Im November 2023 erreichte Pape nach siebentägiger Bootsfahrt von seiner Heimatstadt Dakar aus die kanarische Insel El Hierro. Auf seinem Tiktok-Kanal zeigt er ein Video: Über 300 Menschen in orangefarbenen Schwimmwesten, dicht an dicht gedrängt auf engstem Raum. Die Reise sei sehr hart gewesen. Nicht alle an Bord hätten überlebt. »Ab dem vierten Tag hatten wir kein Essen und kein Wasser mehr. Keine Medizin. Sechs Menschen seien gestorben. Wir mussten sie ins Meer werfen«, erinnert er sich mit zitternder Stimme.

Endlich wieder ein Zuhause

Von den Kanaren aus gelangte Pape mithilfe des Roten Kreuzes aufs spanische Festland. Er beantragte Asyl und verbrachte die nächsten drei Monate in einer Unterkunft. Dort bestimmte der für solche Unterkünfte typische triste Alltag sein Leben: wenig Beschäftigung, viel Zeit für dunkle Gedanken. Hier, auf der Finca »La Petite« ist nun alles anders: »Ich stehe gegen 5 Uhr auf, gehe duschen und danach bete ich, ich bin schließlich Muslim. Gegen 7 Uhr trinken wir Kaffee und dann arbeiten wir.«

Ähnliche Artikel

Während Pape in den Beeten steht und von seinen Erfahrungen spricht, stoßen Paki Ortega und ihr Ehemann Ermindo dazu. Die beiden leben nur wenige Kilometer entfernt. Seit über drei Jahren sind sie Mitglieder der Stiftung, über die sich das Programm überwiegend finanziert, und zahlen monatlich einen Beitrag von 20 Euro pro Person. Als Dankeschön können sie einmal pro Monat eine Kiste mit Gemüse aus dem Garten abholen. Im Biosupermarkt würden sie für insgesamt 40 Euro deutlich mehr bekommen – das wissen sie. »Wir unterstützen das Projekt vor allem wegen des sozialen Aspekts. Darum geht es uns«, sagt Paki.

»Wenn die staatlichen Hilfen für Menschen, die auf illegalem Wege nach Spanien kommen, auslaufen, dann führt der Weg häufig in die Obdachlosigkeit. Viele kommen da dann nicht mehr raus.« José Gonzáles Díaz
Gründer von »Esperanza en Acción«

Für den Stiftungsgründer José Gonzáles Díaz ist es wichtig, dass Unterstützer*innen wie Paki und Ermindo regelmäßig die Finca besuchen. »Deshalb liefern wir die Kisten nicht aus. Unsere Mitglieder sollen herkommen und die Menschen kennenlernen, die hier leben. So können sie sich nach und nach ein soziales Netz vor Ort aufbauen«, erläutert er. Gerade hat er eine Tour über das Gelände mit potenziellen neuen Stiftungsmitgliedern beendet und lässt sich auf einer aus alten Paletten zusammengezimmerten Bank unter einem Obstbaum nieder.

Rund 220 Menschen unterstützen die Initiative derzeit finanziell. Auch die Stadt Chiclana beteiligt sich mit einem Zuschuss. Für dieses Jahr sind auch Fördergelder beantragt. Dank dieser Mittel kann die Finca Pape und aktuell vier weiteren jungen Männern ein Zuhause bieten, während sie auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge oder eine Arbeitserlaubnis warten. Essen, Kleidung, Arztbesuche und ein monatliches Taschengeld in Höhe von 100 Euro – all das wird über die Stiftung finanziert.

Der 2,5 Hektar große Bauernhof befindet sich im Besitz der Familie von Josés Ehefrau Rocio Martínez, die an diesem Vormittag hinter der Bar steht. »Dass uns das Gelände seit fünf Jahren kostenlos zur Verfügung steht, ist eine der größten Unterstützungen, die wir bekommen«, erzählt José. Unter der Woche geht er seinem Job als Anwalt nach.

Sprachkurse und Handwerk

Auf der Finca lernen die Teilnehmenden an dem Programm nicht nur, wie man Gemüse anbaut. Am Nachmittag gibt es Kurse, die von etwa 30 Freiwilligen ehrenamtlich gestaltet werden. Spanisch, Bewerbungstrainings und andere praktische Kurse wie Schweißen, Tischlern oder Maurern stehen auf dem Programm.

Die Ergebnisse dieser Arbeit sind überall auf dem Gelände sichtbar – der Kinderspielplatz und die Bank, auf der José sitzt, sind nur zwei davon. »Die Menschen sind dankbar dafür, dass sie etwas zurückgeben können. Sie fühlen sich gebraucht, und wir wertschätzen ihren Beitrag sehr«, sagt er.

Ein festes Programmziel besteht außerdem darin, den Bewohnenden ihre erste Arbeitsstelle in Spanien zu vermitteln. Dafür arbeitet »Esperanza en Acción« eng mit Firmen in der Umgebung zusammen – darunter Bauunternehmen, Restaurants und Hotels, eine Gärtnerei, eine Elektrofirma und ein Metallbauer.

Seit dem Projektstart vor fünf Jahren haben 16 Personen das Programm durchlaufen. Einer davon ist der 25-jährige Abdou aus Gambia, dem die Stiftung erfolgreich eine Art Ausbildungsvertrag in einer kleinen Tischlerei vermitteln konnte.

Seit seinem Auszug vor einigen Monaten besucht er fast jeden Samstag den Hof und hilft freiwillig im Garten. Auch heute ist er gekommen, sortiert in der alten Scheune mit seinen ehemaligen Mitbewohnern frische Eier in Kartons und erklärt dabei, warum er an seinem freien Tag freiwillig früh aufsteht: »Ich liebe Gartenarbeit und war einfach sehr zufrieden. Rocio und José haben mir so sehr geholfen hier. Es war einfach ein großes Glück, dass sie mich hier aufgenommen haben.«

Nach seiner Ankunft in Spanien hatte Abdou, genau wie Pape, einige Monate in einer Asylunterkunft verbracht. Er habe jedoch kein Asyl beantragt, weil er aus anderen Gründen nach Spanien gekommen sei. Migrant*innen, die keinen Asylantrag stellen, sondern vor allem eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis erlangen wollen, werden vom spanischen Staat nur in den ersten Monaten nach Ankunft unterstützt. Abdou wäre deshalb beinahe auf der Straße gelandet und hätte sich irgendwie mit illegalen Jobs durchschlagen müssen. Dann wurde auf der Finca »La Petite« ein Platz frei.

Die Stiftung half ihm dabei, einen legalen Aufenthaltstitel nach dem spanischen Prinzip des »Arraigo« (Verwurzelung) zu erhalten. Spanien ist das einzige Land in der Europäischen Union, das eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn jemand im Land Fuß gefasst hat – das kann zum Beispiel familiärer oder beruflicher Natur sein.

Um eine berufliche »Verwurzelung« zu erlangen, brauchen Migrant*innen ein Stellenangebot oder – wie in Abdous Fall – einen Ausbildungsvertrag. Um den Antrag zu stellen, muss man außerdem einen festen Wohnsitz vorweisen und eine bestimmte Zeit im Land verbracht haben. Genau an dieser Stelle setzt die Stiftung an, erläutert Gründer José: »Wir füllen hier eine Lücke, die von der öffentlichen Verwaltung nicht ausreichend abgedeckt wird. Wenn die staatlichen Hilfen für Menschen, die auf illegalem Wege nach Spanien kommen, auslaufen, dann führt der Weg häufig in die Obdachlosigkeit. Viele kommen da dann nicht mehr raus.«

Bisher betrug die Zeit für eine solche »Verwurzelung« ab der Wohnsitzanmeldung drei Jahre. Mit einer Reform des Einwanderungsrechts, die seit Mai 2025 in Kraft ist, wurde diese Zeit auf zwei Jahre reduziert. Diese Verkürzung begrüßt José sehr, denn so müssten Zugewanderten zumindest weniger Zeit in der Illegalität verbringen. Die wenigen Plätze, die auf der Finca zur Verfügung stünden, würden schneller wieder frei.

Einen anderen Punkt der Reform findet er allerdings mehr als ungerecht. Bisher war es so: Wer in Spanien ankam und zuerst einen Antrag auf Asyl stellte, der dann nach einigen Monaten oder Jahren abgelehnt wurde, konnte diese Wartezeit auf die »Verwurzelung« anrechnen lassen. Das ist seit der Reform nicht mehr möglich, wird ein Asylantrag abgelehnt, beginnt man sozusagen wieder bei null. »Die Gruppe der Asylbewerbenden wird dadurch benachteiligt. Sie haben sich für den Weg des Asyls entschieden, weil sie das in dem Moment für die beste Option gehalten haben, nun werden sie dafür in gewisser Weise bestraft.«

Der Asylantrag, den Pape bei seiner Ankunft in Spanien vor etwa anderthalb Jahren stellte, wurde bisher weder bewilligt noch abgelehnt. Der 35-Jährige nimmt es jedoch gelassen und macht sich wenige Gedanken über das, was passieren könnte. »Ich muss jetzt halt warten, und wenn es länger dauert, dann ist das eben so. Angst habe ich keine«, sagt er schulterzuckend, während er am Herd steht und in einem großen Kochtopf rührt. Er hat sich nach dem Trubel am Vormittag ins Wohnhaus zurückgezogen und bereitet ein Gericht aus seiner Heimat für sich und seine Freunde zu: »Poulet Yassa«, Hühnchen mit Reis.

Für ihn steht fest: Zurück nach Afrika will er nicht, auch wenn er seine Eltern und Geschwister sehr vermisst. »Das Leben im Senegal ist sehr schwierig. Man arbeitet den ganzen Tag und verdient trotzdem nur fünf Euro. Davon kannst du dir kaum was leisten, keinen Arzt bezahlen.« Sobald Pape seine Arbeitserlaubnis hat, möchte er am liebsten in einer Autowerkstatt arbeiten und seiner Mutter mindestens 250 Euro monatlich schicken. »Ich habe viel Hoffnung, dass das klappt.«

Auch José und Rocio sind guter Dinge. Sie wollen die Initiative weiter ausbauen, um mehr Plätze anbieten zu können. Außerdem wünschen sie sich, dass mehr Migrant*innen von der Idee, ökologische Landwirtschaft und Integration zu kombinieren, profitieren können – in Spanien und anderswo in Europa. Beide können sich vorstellen, in Zukunft als Mentor*innen anderen Projekten auf ihrem Weg zu helfen.

Erstveröffentlicht im nd v. 16.9. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194101.migration-spanien-integration-im-gemuesebeet.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

Hunger als Waffe

Über die gezielte Vernichtung der Schwächsten.

Von Günther Burbach

Bild: Mundo Obrero Workers World

Es gibt Bilder, die man nicht vergessen kann. Ein Kind, dessen Bauch aufgedunsen ist, während die Arme nur aus Haut und Knochen bestehen. Eine Mutter, die Blätter kocht, weil es sonst nichts gibt, um ihre Kinder noch einen Tag länger am Leben zu halten. Alte Menschen, die vor überfüllten Kliniken zusammenbrechen, weil nicht einmal mehr eine Infusion zu haben ist. Solche Szenen stammen nicht aus den dunklen Kapiteln des 20. Jahrhunderts. Sie passieren heute. Im Gazastreifen. In Syrien. Im Sudan. Drei Regionen, drei Konflikte und ein gemeinsamer Nenner: Hunger als Waffe.

Während in den Metropolen des Westens die Supermarktregale überquellen, während Europa über milliardenschwere Rüstungspakete diskutiert und die USA in neue Kriege investieren, sterben anderswo Kinder, weil ihnen gezielt die Nahrung entzogen wird. Es ist kein Unfall, kein unvermeidbares Schicksal, sondern eine Methode. Hunger wird bewusst erzeugt, um Menschen gefügig zu machen, um sie zu brechen, um Macht zu sichern. Es ist ein Massenverbrechen, das sich jeden Tag vor unseren Augen abspielt und das von der Weltgemeinschaft nicht verhindert, sondern oft aktiv mitgetragen wird.

Gaza – Der belagerte Streifen zwischen Blockade, Diebstahl und Gewalt

Im Gazastreifen ist die Katastrophe längst offiziell. Am 22. August erklärte die Weltgesundheitsorganisation, dass in Gaza die Bedingungen einer Hungersnot herrschen. Über eine halbe Million Menschen befinden sich in Phase fünf der IPC-Klassifikation, das bedeutet, dass Hunger nicht mehr droht, sondern Realität ist. Kinder verhungern, Erwachsene sterben an Unterernährung, Krankheiten breiten sich in einem Tempo aus, das alle Hilfssysteme überfordert.

Die unmittelbare Ursache ist die Blockade. Grenzübergänge sind nur sporadisch geöffnet, Hilfslieferungen werden kontrolliert, verzögert oder zurückgewiesen. Lastwagen mit Lebensmitteln, Milchpulver, Medikamenten und Wasseraufbereitungsanlagen stauen sich kilometerlang. Bürokratische Spitzfindigkeiten entscheiden darüber, ob ein Kind überlebt oder nicht. Wer glaubt, dass ein fehlendes Formular nur ein Verwaltungsdetail ist, irrt: In Gaza ist es eine tödliche Waffe.

Doch selbst die Lieferungen, die durchkommen, erreichen nicht immer die Bedürftigsten. Seit Jahren gibt es Berichte, dass Hamas Hilfsgüter kontrolliert, Teile abzweigt oder auf Schwarzmärkten verkauft. Für eine Familie bedeutet das: Ein Sack Reis, der eigentlich kostenlos hätte verteilt werden sollen, kostet plötzlich Summen, die unerschwinglich sind. Hilfe wird so zur Einnahmequelle und zum Instrument der Macht. Hamas, die sich in der Weltöffentlichkeit als Opfer präsentiert, trägt damit aktiv zur Verschärfung des Elends bei.

Und als wäre das nicht genug, lauert an den Verteilungsstellen die Gewalt. Internationale Medien haben dokumentiert, wie israelische Soldaten auf Menschen schossen, die versuchten, Lebensmittelpakete zu ergattern. Mehr als 1.400 Menschen sind so ums Leben gekommen, verhungert oder erschossen auf der Suche nach Brot. Es ist ein Zynismus ohne Beispiel: Menschen werden zuerst ausgehungert und dann getötet, wenn sie nach Nahrung greifen.

Das Resultat: Ein ganzer Landstrich gleitet in den Abgrund. UNICEF berichtet von Tausenden Kindern, die akut mangelernährt sind. Kliniken sind überfüllt, die Hälfte der Ernährungszentren funktioniert nicht mehr. Krankheiten wie Cholera breiten sich in der geschwächten Bevölkerung explosionsartig aus. Gaza ist nicht nur ein Schlachtfeld, es ist ein Sterbelager. Und Hunger ist hier nicht Nebeneffekt, sondern Strategie, von allen Seiten.

Syrien – Befreit von Sanktionen, gefangen im Hunger

Im Gegensatz zu Gaza wurde Syrien in diesem Jahr international als „Befreiungsgeschichte“ verkauft. Im Mai hob die EU ihre Wirtschaftssanktionen auf, im Juli folgten die USA. Nach über einem Jahrzehnt der Isolation durfte Damaskus wieder an die globale Wirtschaft andocken. Finanztransaktionen laufen wieder, internationale Investoren zeigen vorsichtige Bereitschaft. Syrien, so die Botschaft, sei zurück.

Doch wer sich die Realität im Land ansieht, erkennt eine andere Wahrheit: Millionen Syrer stehen am Rand des Verhungerns. Die Aufhebung der Sanktionen hat daran wenig geändert. Warum? Weil Hunger hier nicht primär eine Frage internationaler Politik ist, sondern das Resultat einer tödlichen Kombination aus Naturkatastrophe, zerstörter Infrastruktur und ökonomischem Zerfall.

Die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten hat das Land getroffen. Flüsse sind zu Rinnsalen geschrumpft, Brunnen versiegt, die Weizenernte ist um fast 40 Prozent eingebrochen. Aus einem Land, das einst als Kornkammer der Region galt, ist ein Hungerstaat geworden. Selbst wenn Getreide importiert wird, bleibt es für Millionen unbezahlbar. Die syrische Währung ist kollabiert, Grundnahrungsmittel kosten inzwischen das Vielfache des früheren Preises.

Die Landwirtschaft ist in Trümmern. Bewässerungssysteme sind kaputt, Mühlen stillgelegt, Stromnetze marode. Krieg hat nicht nur Häuser und Städte zerstört, sondern die gesamte Produktionsbasis des Landes. Sanktionen aufzuheben heißt nicht, diese Infrastruktur wieder aufzubauen. Es bedeutet lediglich, dass Syrien theoretisch Handel treiben könnte, praktisch aber fehlen die Kapazitäten, um Nahrung zu produzieren oder bezahlbar zu importieren.

Hinzu kommt die politische Realität: Korruption durchzieht die Behörden, Milizen kontrollieren Märkte und setzen Hilfsgüter als Druckmittel ein. „Loyalität gegen Nahrung“ ist in vielen Regionen die Regel. Internationale Organisationen wie das Welternährungsprogramm schlagen Alarm: 14,5 Millionen Syrer sind auf Hilfe angewiesen, Millionen stehen am Rand einer Hungersnot. Und das, obwohl die Sanktionen aufgehoben sind.

Das zeigt: Hunger ist in Syrien nicht mehr das Ergebnis äußerer Blockaden, sondern die Folge eines zerstörten Landes, einer kaputten Wirtschaft und einer politischen Klasse, die unfähig oder unwillig ist, für ihre Bevölkerung zu sorgen. Die Schlagzeilen aus Brüssel und Washington ändern nichts an den leeren Tellern von Damaskus, Aleppo oder Homs.

Sudan – Hungersnot als Schlachtfeld

Im Sudan ist Hunger noch unmittelbarer zur Waffe geworden. Seit 2023 zerreißt ein Bürgerkrieg das Land. Panzer, Drohnen und Raketen bestimmen die Schlagzeilen. Doch abseits der Fronten geschieht ein Verbrechen, das in seiner Wirkung nicht weniger tödlich ist: Hungersnot wird gezielt eingesetzt, um Menschen zu kontrollieren.

In Nord-Darfur und anderen Regionen haben die Vereinten Nationen offiziell Phase fünf, also Hungersnot, ausgerufen. Millionen Menschen sind betroffen, bis zu 25 Millionen könnten in den kommenden Monaten in den Abgrund stürzen. Milizen zerstören Felder, brennen Märkte nieder, blockieren humanitäre Konvois. Nahrung wird zur Waffe: Wer sie kontrolliert, kontrolliert die Bevölkerung. Wer sie verweigert, treibt Menschen in Flucht oder Tod.

Hilfsorganisationen berichten von Konvois, die an Checkpoints aufgehalten oder geplündert werden. Von Vorräten, die auf Schwarzmärkten landen, während Kinder verhungern. Von Preisen, die explodieren, während ganze Lagerhäuser in den Händen von Kriegsparteien liegen. Hunger ist im Sudan kein Nebeneffekt, er ist die Methode.

Und wie in Gaza oder Syrien gilt auch hier: Es gibt nicht nur „eine Schuldige“. Beide großen Kriegsparteien nutzen Hunger als Waffe. Für die Zivilbevölkerung bedeutet das eine permanente Geiselhaft, in der jedes Brot, jede Schüssel Wasser zu einer Frage von Leben und Tod wird.

Die Heuchelei des Westens

Während Millionen Menschen in Gaza, Syrien und Sudan ums Überleben kämpfen, investieren die westlichen Staaten Milliarden in Aufrüstung. Für neue Drohnensysteme, Raketenprogramme oder Munitionspakete sind binnen Stunden Gelder da. Für Brot, Milchpulver oder Medikamente fehlt es angeblich an Mitteln. Es ist der moralische Offenbarungseid einer Weltordnung, die Kinderleben hinter Panzerlieferungen einordnet.

Die Sprache der Politik tarnt das Verbrechen. Es heißt „Zugangsbeschränkungen“ statt Blockade. „Operative Herausforderungen“ statt verhinderter Hilfslieferungen. „Sicherheitsbedenken“ statt gezielter Tötungen an Aid-Sites. Worte werden benutzt, um Realität zu verwischen und währenddessen sterben Menschen.

Der gemeinsame Nenner: Hunger als System

Ob im belagerten Gaza, im ausgetrockneten Syrien oder im zerrissenen Sudan: Hunger ist kein Unfall. Er ist ein System. Er wird bewusst herbeigeführt, instrumentalisiert, verwaltet. Von Staaten, die blockieren. Von Milizen, die plündern. Von Regimen, die ihre Macht über Lebensmittel verteilen. Und von einer internationalen Gemeinschaft, die wegsieht oder gar mitmacht.

Es gibt keine Entschuldigung mehr. Wir wissen, was passiert. Wir sehen die Bilder, wir lesen die Berichte. Die Frage ist nicht, ob Hunger verhindert werden könnte. Die Frage ist, ob wir es wollen.

Schluss: Die Anklage

Die Geschichte wird nicht auf die Protokolle internationaler Konferenzen schauen, nicht auf die Gipfelerklärungen oder die diplomatischen Spitzfindigkeiten. Sie wird auf die Gesichter der Kinder blicken, die heute verhungern. Und sie wird fragen: Warum habt ihr das zugelassen?

Quellen

EU-Rat (offiziell): „Syria: EU adopts legal acts to lift economic sanctions on Syria“, 28.05.2025

https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2025/05/28/syria-eu-adopts-legal-acts-to-lift-economic-sanctions-on-syria-enacting-recent-political-agreement

Reuters: „EU council adopts legal acts to lift economic sanctions on Syria“, 28.05.2025

https://www.reuters.com/world/eu-council-adopts-legal-acts-lift-economic-sanctions-syria-2025-05-28

OFAC (US-Treasury) – Notice zur Aufhebung + FAQs (1220–1223), 30.06.–04.08.2025

https://ofac.treasury.gov/recent-actions/20250630

https://ofac.treasury.gov/faqs/added/2025-06-30

https://ofac.treasury.gov/sanctions-programs-and-country-information/syria-sanctions-inactive-and-archived

AP News: „Worst drought in decades is threatening Syria’s fragile recovery“, 04.09.2025

https://apnews.com/article/9ca740c576bfe5db768f9dcae2bb6758

Reuters: „Historic drought, wheat shortage to test Syria’s new leadership“, 18.08.2025

https://www.reuters.com/world/middle-east/historic-drought-wheat-shortage-test-syrias-new-leadership-2025-08-18

Reuters (Klima/Dürre-Überblick): „Severe droughts hit Syria, Turkey and Serbia“, 20.08.2025

https://www.reuters.com/sustainability/sustainable-switch-severe-droughts-hit-syria-turkey-serbia-2025-08-20

FAO/GIEWS (Country Brief, PDF, 18.08.2025): „The Syrian Arab Republic – FOOD SECURITY SNAPSHOT“

https://www.fao.org/giews/countrybrief/country/SYR/pdf/SYR.pdf

FAO/GIEWS (Brief, Web, 18.08.2025): „Syrian Arab Republic – Country Brief“

https://www.fao.org/giews/countrybrief/country.jsp?code=SYR&lang=ar

(engl. Zusammenfassung hier)

https://www.fao.org/giews/countrybrief/country.jsp?code=SYR&lang=ES

FAO (Open Knowledge, Kurzbericht zu Weizenlücke 2,73 Mio. t), 2025

https://openknowledge.fao.org/server/api/core/bitstreams/340daa9c-b4d0-4fa5-ae72-7cee1426419a/content

UNOCHA (Humanitarian Response Priorities 2025 – Syria), 24.07.2025

https://www.unocha.org/publications/report/syrian-arab-republic/syrian-arab-republic-humanitarian-response-priorities-january-december-2025

UNOCHA FTS (Funding Tracker Syrien 2025)

https://fts.unocha.org/countries/218/summary/2025

WFP – Syria Emergency (Lage/Bedarfe, fortlaufend)

https://www.wfp.org/emergencies/syria-emergency

WFP – Country Page Syria (Zahlen zu Food Insecurity/IDPs)

https://www.wfp.org/countries/syrian-arab-republic

WFP – Global: „Food security impact of reduction in WFP funding“, 22.07.2025

https://www.wfp.org/publications/food-security-impact-reduction-wfp-funding

UNICEF Syria – Situation Reports 2025 (Ernährung/Mangelernährung)

Mai 2025: https://www.unicef.org/syria/media/19766/file/Syria-Humanitarian-situation-report-May-2025.pdf

Juli 2025 (No.13): https://www.unicef.org/media/173941/file/Syrian-Arab-Republic-Humanitarian-SitRep-No.13-July-2025.pdf

Günther Burbach

Günther Burbach, Jahrgang 1963, ist Informatikkaufmann, Publizist und Buchautor. Nach einer eigenen Kolumne in einer Wochenzeitung arbeitete er in der Redaktion der Funke Mediengruppe. Er veröffentlichte vier Bücher mit Schwerpunkt auf Künstlicher Intelligenz sowie deutscher Innen- und Außenpolitik. In seinen Texten verbindet er technisches Verständnis mit gesellschaftspolitischem Blick – immer mit dem Ziel, Debatten anzustoßen und den Blick für das Wesentliche zu schärfen.
Mehr Beiträge von Günther Burbach →

Erstveröffentlicht im Overtom Magazin v. 11.9. 2025
https://overton-magazin.de/hintergrund/gesellschaft/hunger-als-waffe/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Mehr Verteidigung, weniger Soziales in den Niederlanden. Vorbild für Deutschland?

Die Partei von NATO-Generalsekretär Mark Rutte startet in den Wahlkampf und will harte Einschnitte im sozialen Bereich durchsetzen.

Von Stefan Schleim

Der Autor thematisiert den radikalen Sozialabbau, der jetzt den Niederländer:innen droht und entwirft dabei ein Szenario, das demnächst auch bei uns in Deutschland bevorstehen kann. Die Nussnießer und die Opfer werden die gleichen sein. (Jochen Gester)

Bild: Die niederländische konservative Partei VVD hat mit Parteichefin Dilan Yeşilgöz ihr Wahlprogramm vorgelegt, das starke Kürzungen im Sozialbereich vorsieht. Neoliberalismus und Kettensägen lassen grüßen. Bild: VVD

Beim NATO-Gipfel vor rund einem Monat in den Niederlanden merkte man dem früheren Ministerpräsidenten Mark Rutte an, dass ihm sein Amt als Generalsekretär des Verteidigungsbündnisses gefällt. Es fiel ihm leicht, Donald Trump zu umgarnen. Mister President durfte dann sogar in einem Flügel des Palasts Huis ten Bosch übernachten, also im Domizil der Königsfamilie höchstpersönlich. Normalerweise werden Staatsgäste im Amsterdamer Stadtpalast einquartiert.

Rutte hatte schon vor der Einigung der NATO-Länder auf höhere Ausgaben für Verteidigung und Infrastruktur angekündigt, dass das auf Kosten des Sozialstaats gehen würde. Wo früher noch 2 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt das Ziel waren, ging es plötzlich um 3,5 plus 1,5 Prozent. Bei den 1,5 Prozent für – wohl zumindest militärisch relevante – Infrastruktur ist die Ausgestaltung noch nicht ganz klar.

Den endgültigen Beschluss bezeichnete Rutte in der dazugehörigen Pressekonferenz als „große Verpflichtung für unsere Sicherheit“. Die NATO sei jetzt ein „stärkeres, ehrlicheres und tödlicheres Bündnis“, ergänzte er. Und Trump nutzte die Steilvorlage für unbescheidenes Selbstlob: „Niemand hat das für möglich gehalten, doch ich habe das durchgesetzt.“

Hoffen wir, dass Rutte sich hier nicht nur über eine Scheinsicherheit freut: Denn der Ausbau des Sozialstaats, der jetzt weiter rückgängig gemacht werden soll, war nach dem Zweiten Weltkrieg immerhin als Maßnahme gegen die Radikalisierung der Bevölkerung gedacht. Und an Radikalisierung herrscht heute wohl kaum ein Mangel.

Opfert man hier nicht die konkrete Gefahr aus dem Inneren der Demokratie für die abstrakte Bedrohung eines äußeren Feinds? Schließlich haben die Finanzkrise und danach die Coronapandemie zwar die Reicheren reicher gemacht, doch die Ärmeren in immer größere Bedrängnis gebracht. Vom Inflationsschock, den hohen Lebenserhaltungskosten haben sich noch längst nicht alle erholt. Das gilt für Deutschland ebenso wie für die Niederlande.

Auf in den Wahlkampf!

Während man in der Bundesrepublik im Februar Scholz ab- und Merz ins Kanzleramt gewählt hat, wechselt man in den Niederlanden gerade in den Wahlkampfmodus. Zur Erinnerung: Auch hier gibt es vorgezogene Neuwahlen, nachdem Geert Wilders das regierende Viererbündnis am 3. Juni platzen ließ.

Angeblich war ihm die Asylpolitik nicht hart genug, obwohl sich die Parteien an ihren Koalitionsvertrag hielten. Vielleicht war gerade das das Problem, dass eine rechtskonservative Regierung die Migrationspolitik tatsächlich entschärfen würde – und Wilders und seine Partij voor de Vrijheid (PVV) damit ihr Wahlkampfthema Nummer 1 zu verlieren drohten?

Ruttes rechtsliberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) hat unter Führung seiner Nachfolgerin, Dilan Yeşilgöz, jetzt als erste ihr Wahlprogramm vorgelegt: „Stärker aus dem Sturm“ will man kommen, so der Titel des 81-seitigen Dokuments. Punkt 1: Radikaler wirtschaftlicher Aufschwung. Punkt 2: Arbeit muss sich mehr lohnen. Punkt 3: Die größte Investition aller Zeiten in Sicherheit. Punkt 4: Mehr Ordnung für ein freies und sicheres Land. Punkt 5: Ein stärkeres Land durch einen schlankeren Staat. Neoliberalismus und Kettensägen lassen grüßen.

Zur Gegenfinanzierung dieser Pläne will man das Rentenalter erhöhen, das heute schon bei 67 Jahren liegt und bis 2030 weiter steigen wird. Schnellstudierenden will man einen Bonus auszahlen, wodurch man vielleicht weitere Kürzungen an den Hochschulen rechtfertigen kann? Das Gesetz für bezahlbare Mieten soll abgeschafft werden und Eltern krimineller Jugendlicher Geldstrafen erhalten.

Die Selbstbeteiligung in der Krankenversicherung soll wieder höher werden, während man passenderweise das Streikrecht im öffentlichen Verkehr und dem Gesundheitssystem einschränken will. Der Flugverkehr soll ausgedehnt werden. Und um das alles ja nicht zu stören, will man Autobahnblockaden unter Strafe stellen.

Kurzum, das Land soll für die Wirtschaft attraktiver werden. Das Nachsehen haben diejenigen, die heute schon soziale und finanzielle Probleme haben. Besonders frappierend: Jugendkriminalität kommt in Problemfamilien häufiger vor. Was wird passieren, wenn man deren Probleme noch vergrößert? Aber so funktioniert rechte Wahlpolitik: Dann hat man bei den nächsten Wahlen wieder ein besseres Argument, noch härter gegen Kriminalität vorzugehen.

Aussichten

Man hat noch drei Monate bis zu den Parlamentswahlen am 29. Oktober. Und jetzt sind viele sowieso erst einmal im Urlaub. Die anderen Parteien müssen aber schnell nachziehen.

Wer das Land danach regieren wird, steht in den Sternen. Koalitionsverhandlungen sind oft zäh und können sich schon einmal über ein Jahr hinziehen. Bis dahin bleibt die heutige Minderheitsregierung unter dem parteilosen Dick Schoof, den Wilders in einer besonderen Doppelrolle als Teil der Regierung und Oppositionsführer vor sich her getrieben hatte, geschäftsführend im Amt.

Bis zur Bildung einer neuen Regierung werden Themen, die das Parlament für kontrovers erklärt, nicht behandelt. So löst man keine Probleme, sondern zieht sie in die Länge.

Laut aktuellen Schätzungen würde Wilders PVV leicht verlieren, von 23,5 auf 18,6 bis 21,5 Prozent. Nach dem Zusammenschluss der Grünen und Arbeiterpartei (GL/PvdA) unter Führung des bekannten Europapolitikers Frans Timmermans steht dieses Linksbündnis momentan auf Platz 2, mit einer leichten Verbesserung bei 16,4 bis 18,1 Prozent. Dann käme, ebenfalls mit leichter Verbesserung, die VVD unter Yeşilgöz. Sie hat die Ambition, die erste Frau im Amt des niederländischen Ministerpräsidenten zu werden.

Von ihrem Wahldebakel erholt, folgen danach die Christdemokraten (CDA) mit 12,0 bis 14,0 Prozent. Danach die Bürgerlich-Liberalen (D66) mit 6,2 bis 7,3 Prozent der Stimmen, je nach Befragung. Da es in den Niederlanden keine Wahlhürde gibt, folgen danach gut zehn Parteien mit jeweils 1 bis 4 Prozent der Stimmen. Auch das erschwert die Regierungsbildung.

Die Wählerinnen und Wähler werden sich entscheiden müssen: Weiter den Sozialstaat zurechtstutzen, für das Versprechen wirtschaftlichen Aufschwungs und äußerer Sicherheit? Unter den Abgehängten lässt sich dann vielleicht weiter der Hass gegen Zugewanderte schüren: „Die nehmen uns alles weg!“ Doch auch in den Niederlanden gibt es einen immer größeren Fachkräftemangel aufgrund der im Durchschnitt immer älter werdenden Gesellschaft.

Oder wird man doch eine Richtung einschlagen, die den Zusammenhalt der Menschen und das Soziale in den Mittelpunkt stellt statt Wirtschaft und Aufrüstung?

Ähnliche Vermögensverteilung

Die Parallelen mit Deutschland – und übrigens auch mit den gemeinsamen Nachbarn Frankreich und Großbritannien – sind deutlich. Man scheint die stärkeren Schultern, die aus den letzten Krisen immer stärker kamen, eher zu entlasten, als die neuen Lasten stärker mittragen zu lassen.

Doch immerhin gibt es in den Niederlanden eine Vermögenssteuer, während man sie in Deutschland Mitte der 1990er aussetzte und die meisten Parteien sie tabuisieren: Über einem Freibetrag von zurzeit 57.000 Euro (für Singles) bezahlt man 36 Prozent auf den daraus erzielten Gewinn. Jedenfalls dann, wenn man keinen kreativen Weg zur Steuervermeidung gefunden hat, wie der reichste Niederländer, die Erbin der Heineken-Brauerei. Die Multimilliardärin soll dank Briefkastenfirmen in Luxemburg und auf einer britischen Insel so gut wie keine Steuern zahlen.

Letztlich stehen alle Länder mit einem noch mehr oder weniger intakten Sozialstaat und alternder Gesellschaft am Scheideweg: Die Krisen haben immer mehr Gemeinschaftsvermögen in private Hände gebracht und so immer mehr Superreiche erzeugt. Wer ein zweistelliges Millionenvermögen oder mehr besitzt, verdient daraus schon bei einer Rendite von 5 Prozent mehr, als er sinnvoll ausgeben kann.

Und was macht man mit seinem Übergewinn? Man investiert ihn in noch mehr Kredite und Sachwerte für noch mehr zukünftigen Gewinn. Bei der nächsten Krise, die früher oder später kommen wird, kauft man wieder günstig ein und vergrößert so die Schere zwischen Arm und Reich immer schneller. Demgegenüber stehen größere Massen, die ein Proletarierleben von der Hand in den Mund leben und die ein kaputtes Auto oder eine defekte Waschmaschine schon vor große Probleme stellt.

Eine funktionierende Demokratie muss hier vermitteln. Doch auch in Deutschland signalisieren führende Politiker härtere Zeiten, siehe etwa Merzens Äußerungen über die Work-Life-Balance oder die Ankündigung der Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU), die Menschen müssten länger arbeiten. Man ergänze: Natürlich sind nur diejenigen gemeint, die nicht schon vom Privatvermögen allein leben können, sondern ihr Geld noch selbst verdienen müssen.

Höherer Druck

Das Beispiel der Niederlande verdeutlicht, wie der Druck auf sowohl die Empfänger von Sozialleistungen als auch die arbeitende Bevölkerung – viele sind beides – weiter zunehmen wird. Jetzt kommt noch das Argument der hohen Verteidigungsausgaben hinzu.

Dasselbe zeichnet sich in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern ab. Der ARD-Kommentator Hans-Joachim Vieweger fand Wirtschaftsministerin Reiches Vorstoß nur logisch:  „Wir müssen länger arbeiten. … Das mag unpopulär klingen. Doch in Sachen Arbeitszeit müssen wir uns endlich ehrlich machen.“

Alles nur eine Frage der Ehrlichkeit also? Warum fügt man nicht ehrlicherweise hinzu, dass von der Gesellschaftsordnung und ihren Krisen vor allem das Kapitel profitiert, also die Besitzenden:

  • Die höheren Verteidigungsausgaben führen zu höheren Dividendenausschüttungen der Rüstungsunternehmen. Die Gewinne landen bei den Eigentümern, während die Gemeinschaft der Steuerzahler die Kosten trägt.
  • Die Gesellschaft altert, weil die Menschen seit den späten 1960ern weniger Kinder aufgezogen haben. Deshalb müssen immer weniger Arbeitnehmer die Zahlungen für immer mehr Rentner aufbringen. Großverdiener, Selbstständige, Beamte, Abgeordnete und Superreiche zahlen in der Regel erst gar nicht in die gesetzlichen Sicherungssysteme ein – und bekommen trotzdem oft bessere Leistungen.
  • Das Problem betrifft nicht nur den Arbeitsmarkt insgesamt und die Finanzierung der Renten, sondern insbesondere die Gesundheitsversorgung und Pflege. Hier wird der Druck stark zunehmen und dementsprechend der Zugang für viele schwerer werden. Die genannten privilegierten Gruppen kochen auch hier ihr eigenes Süppchen, tragen nicht oder weniger zum sozialen System bei – und bekommen trotzdem oft bessere Leistungen.
  • Mit feministischen Argumenten wurde und wird speziell auf Frauen der Druck erhöht, mehr außerhalb der Familie zu arbeiten. Das nutzt den Unternehmen. Da die Familienpartner aber üblicherweise nicht weniger arbeiten, wird die Kindeserziehung schwerer. Das erklärt vielleicht einen Teil der Verschlechterung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen – und verstetigt die niedrige Geburtenrate.
  • Da die restlichen Babyboomer schon in den nächsten Jahren in Rente gehen, ist dieser Drops gelutscht. Selbst ein „Geburtenwunder“ würde das Problem innerhalb der nächsten 20 Jahre nicht lösen.
  • Auch ein „Migrationswunder“ wird ausbleiben: Erstens konkurrieren Länder um Fachkräfte und hinkt Deutschland hier weit hinterher. Zweitens ist das politische Klima zurzeit eher migrationsfeindlich. Diejenigen, die trotzdem kommen, werden tendenziell in Randbereichen Fuß fassen, was strukturelle Probleme verstärkt; man denke an „Brennpunktschulen“ mit hohem Ausländeranteil. Die resultierenden negativen Schlagzeilen werden wiederum den politischen Druck gegen Migration erhöhen. Integration ist aber keine Einbahnstraße. In strukturstärkeren Gegenden hat man diese Probleme nicht oder in geringerem Ausmaß.
  • Der Klimawandel lässt die Wahrscheinlichkeit für Extremwetterereignisse steigen. Öffentliche Ressourcen werden vermehrt zur Bekämpfung von Bränden und Überflutungen eingesetzt werden müssen. Das wird den Druck bei „normalen“ Notfällen erhöhen. Während im Prinzip alle von den Hilfssystemen profitieren, trägt die Gemeinschaft der Steuerzahler die Kosten.
  • Laut wissenschaftlichem Konsens spielen klimaschädliche Emissionen hierfür die entscheidende Rolle. Während man die Kosten der Gemeinschaft aufbürdet, privatisiert man die Gewinne. So funktioniert ungezähmte, kapitalistische Profitmaximierung.
  • Insgesamt wird ein kleiner werdender Teil der arbeitenden Bevölkerung die Schuldenlast für die genannten und viele weitere Beispiele tragen müssen – und dafür unterm Strich weniger zurückbekommen.

Was heißt „ehrlich machen“?

Wenn wir uns „ehrlich machen“, hieß es, müssten die Menschen mehr arbeiten. Doch schon jetzt ist der Druck auf die arbeitende Bevölkerung hoch, ebenso wie der Krankenstand. Für weniger Leistung mehr tun zu müssen, wird die Menschen gerade nicht motivieren, sondern noch häufiger ausbrennen lassen.

Man redet über Ehrlichkeit, erwähnt aber mit keinem Wort die Notwendigkeit eines ehrlichen und gerechten Steuersystems. Wie bezeichnend, dass diese Diskussion oft als „Neiddebatte“ im Keim erstickt wird. Es ist aber nur ehrlich und gerecht, wenn diejenigen, die stärker von der bestehenden Gesellschaftsordnung profitieren und mehr dazu beitragen können, genau das auch tun.

Die Cum-Ex-Skandale haben das Gegenteil gezeigt: Anstatt diejenigen zu stützen, die ihr Privateigentum schützen, haben einige Superreiche sich nie gezahlte Steuern von der Gemeinschaft „zurückerstatten“ lassen. Während sie Steuervermeidung als Sport betreiben, während Straßen, Schienen, Schulen, Kindergärten, Schwimmbäder und vieles mehr verfällt, erwarten sie für die nächste Krise wieder die Rettung ihrer privatisierten Kredite und Sachwerte.

Die heutige Rede von der abstrakten äußeren Gefahr sollte uns nicht davon ablenken, dass der soziale Frieden in Zukunft wesentlich von der Gerechtigkeit des Steuersystems abhängen wird. Bis auf Weiteres stellen die Staatsbürgerinnen und Bürger hierfür an der Wahlurne die Weichen.

Stephan Schleim ist studierter Philosoph und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden tätig, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie. Sein Schwerpunkt liegt in der Erforschung von Wissenschaftsproduktion und –kommunikation. Schleim ist Autor mehrerer Bücher zu Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie.

Erstveröffentlicht im Overton Magazin v. 30.7. 2025

Wir danken für das Publikationsrecht.

Diese Seite verwendet u. a. Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung