Berlin und der Antisemitismus

Deutsche Behörden verhindern Auftritte einer Repräsentantin der UNO unter dem Vorwand der Antisemitismusbekämpfung. Bewaffnete Polizei dringt bei Ersatzveranstaltung in Räume einer Tageszeitung ein.

20 Feb 2025

Newsletter von German Foreign Policy

Vorbemerkung: Das polizeiliche Eingreifen gegen eine geplante Veranstaltung mit der UN-Menschenrechtsbeauftragten Franzesca Albanese stellt eine weitere Eskalationsstufe beim Angriff auf demokratische Grundrechte dar und macht auf bizarre Weise sichtbar, wie die angeblich im Namen des Kampfes gegen den Antisemitismus begründete neue deutsche „Staatsräson“ Deutschland international isoliert. Wir publizieren hier einen Artikel der GFP und verlinken zu weiteren der jungen Welt und des nd. Ferner weisen wir den Zugang zu einem Livestream von DIEM (MERA), über den man die Veranstaltung in der jungen Welt verfolgen kann. (Jochen Gester)

Bild: Palästina Museum

BERLIN/MÜNCHEN (Eigener Bericht) – Mit behördlichen Maßnahmen gegen Auftritte einer Repräsentantin der Vereinten Nationen erreichen die staatlichen Vorstöße gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland einen neuen Höhepunkt. In den vergangenen Tagen wurden mehrere Auftritte der UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Territorien, Francesca Albanese, in München und in Berlin auf Druck staatlicher Stellen kurzfristig abgesagt – unter dem Vorwand, gegen Antisemitismus vorgehen zu wollen. Eine ersatzweise in den Räumlichkeiten der Tageszeitung junge Welt abgehaltene Veranstaltung mit Albanese wurde am Dienstag von bewaffneten Polizisten überwacht, die gegen den erklärten Willen der Veranstalter in das von zahlreichen Mannschaftswagen umstellte Gebäude eingedrungen waren. Parallel nimmt die Repression gegen Demonstrationen zum Gaza-Krieg zu; mittlerweile werden Kundgebungen schon gewaltsam aufgelöst, wenn dort nur in einer anderen Sprache als Deutsch oder Englisch gesprochen wird, etwa auf Hebräisch. Mit dem Oktroy einer umstrittenen Antisemitismus-Definition schränkt Berlin inzwischen faktisch auch die Freiheit der Wissenschaft ein. Renommierte Wissenschaftler protestieren – vergeblich.

Die Antisemitismus-Resolution

Die Auseinandersetzungen um staatliches Vorgehen gegen tatsächlichen oder angeblichen Antisemitismus waren zuletzt im Herbst vergangenen Jahres eskaliert – besonders im Umfeld der Verabschiedung einer Antisemitismus-Resolution durch den Bundestag am 7. November 2024. Die Resolution legt für die Definition von Antisemitismus die international äußerst umstrittene Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) fest, die es ermöglicht, Kritik am Staat Israel als angeblich antisemitisch zu brandmarken. Zudem sucht sie Meinungen, die sich laut IHRA-Definition als angeblich antisemitisch einstufen lassen, auszugrenzen und repressiv zu bekämpfen – ganz besonders Kritik an Israel (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Amnesty International hatte im November – wie diverse weitere Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftler, Künstler und viele andere – gewarnt, bei der Umsetzung der Resolution seien „unverhältnismäßige Eingriffe in die Meinungs-, Kunst-, Wissenschafts- und Versammlungsfreiheit zu befürchten“.[2] Das bestätigt sich. Ein aktuelles Beispiel bietet eine weitere Bundestagsresolution vom 30. Januar 2025, die vorgibt, gegen Antisemitismus an Schulen und Hochschulen vorzugehen. Auch sie legt die IHRA-Definition zugrunde und sieht umfassende repressive Maßnahmen „bis hin zur ggf. Exmatrikulation“ vor.[3]

„Einfallstor für Bevormundung“

Die neue Resolution hat ebenfalls heftigen Protest ausgelöst. Weithin ist auf Verwunderung gestoßen, dass staatliche Stellen nun von der Wissenschaft die Anerkennung einer speziellen, nach wissenschaftlichen Kriterien – auch international – äußerst umstrittenen Definition einfordern. In Staaten, in denen Wissenschaftsfreiheit herrscht, ist derlei nicht der Fall. Der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Walter Rosenthal, konstatierte, zumindest einige Forderungen der Resolution könnten „auch bei besten Absichten als Einfallstor für Einschränkungen und Bevormundung etwa in der Forschungsförderung verstanden werden“. Der Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Ralf Michaels, urteilte, die Resolution setze „wesentlich auf Mittel, die in autoritären Staaten beliebt sind: Überwachung, Repression, Sicherheitskräfte“.[4] Die – jüdische – Historikerin Miriam Rürup, Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für Europäisch-Jüdische Studien an der Universität Potsdam, wies darauf hin, beide Resolutionen seien auch mit den Stimmen der AfD verabschiedet worden. Sie fragte, wie man Antisemitismus mit einem Papier bekämpfen wolle, das klare Zustimmung einer extrem rechten Partei finde. Michaels stufte die Resolution gar als „Steilvorlage“ für die AfD ein, „um Kontrolle über Schulen und Hochschulen zu erlangen, sollte sie einmal Regierungspartei werden“.[5]

Hier wird Deutsch gesprochen!

Zur faktischen Einschränkung des in Wissenschaft und Lehre möglichen Meinungsspektrums, mit der sich Deutschland international zunehmend isoliert und zum Provinzstandort wird [6], kommt kontinuierlich zunehmende Repression hinzu. Bereits im Sommer vergangenen Jahres hatte Amnesty International der Bundesrepublik sowie 20 weiteren europäischen Staaten vorgeworfen, das Recht auf Protest empfindlich einzuschränken – insbesondere bei Protesten, die sich gegen Israels Kriegsführung im Gazastreifen richten –, und beklagt, selbst friedliche Demonstranten müssten in Deutschland in wachsendem Maß damit rechnen, „stigmatisiert, kriminalisiert und angegriffen“ zu werden.[7] Die Lage spitzt sich inzwischen weiter zu. Betroffen sind vor allem Demonstrationen zum Gaza-Krieg, die insbesondere in Berlin häufig nur noch als stationäre Kundgebungen mit strengen Auflagen abgehalten werden dürfen, so etwa einem Trommelverbot, das verhängt wird, damit die Polizei strafbewehrte Parolen besser identifizieren kann. Videos, die brutale Polizeigewalt gegen Demonstranten zeigen, gehen auf sozialen Medien inzwischen regelmäßig um die Welt. Auf einer Kundgebung am 8. Februar erklärten die Berliner Behörden Rede- und Musikbeiträge sowie Parolen in anderen Sprachen als Deutsch oder Englisch für verboten. Nach einer Stunde wurde die Versammlung gewaltsam aufgelöst; unter anderem hatte ein Redner Hebräisch gesprochen.[8]

Unfreie Universität

In den vergangenen Tagen sind deutsche Stellen dazu übergegangen, im Hinblick auf Kritik an Israels Kriegsführung im Gazastreifen auch gegen Repräsentanten der Vereinten Nationen vorzugehen. Konkret betroffen war die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Territorien, Francesca Albanese, eine ausgewiesene Juristin, die, basierend auf ihrer jahrelangen Tätigkeit für die Vereinten Nationen, eine prononcierte Kritik an Israels Kriegsführung entwickelt hat. Sie war zu Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen an zwei deutschen Hochschulen eingeladen worden, an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität und an der Freien Universität Berlin. Beide wurden – offenkundig auf politischen Druck hin – abgesagt; in München war von einem zu erwartenden „Meinungskampf“ [9] die Rede, den man unterbinden wolle, in Berlin wurde auf angebliche Sicherheitsprobleme verwiesen. Die Freie Universität Berlin folgte mit der Absage einer offiziellen Forderung des Bürgermeisters der deutschen Hauptstadt, Kai Wegner (CDU), der vorab erklärt hatte, er „erwarte“ von der Hochschule, „dass sie die Veranstaltung umgehend absagt und ein klares Zeichen gegen Antisemitismus setzt“.[10] Die Veranstaltung mit Albanese konnte letztlich an einem anderen Ort durchgeführt werden.

Ein deutscher Sonderweg

Das traf auch auf eine zweite Veranstaltung mit Albanese am Dienstag in Berlin zu, für die die Räumlichkeiten ebenfalls unter massivem politischen Druck kurzfristig gekündigt worden waren, die dann aber noch in die Räume der Tageszeitung junge Welt verlegt werden konnte. Die Umstände belegen, dass nicht nur die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit in der Bundesrepublik inzwischen spürbar eingeschränkt werden; sie zeigen auch, dass die Freiheit der Medien kein Tabu mehr ist. In den Veranstaltungsraum drangen gegen den erklärten Willen der Veranstalter bewaffnete Polizisten ein. Bis zu fünf von ihnen, begleitet von einem Arabisch-Dolmetscher, überwachten das Event von seinem Beginn am frühen Nachmittag bis zu seinem Ende kurz vor Mitternacht.[11] Das Gebäude war zeitweise von mehr als 20 Mannschaftswagen der Polizei umstellt. Zur Begründung für den Einsatz hieß es, man müsse nicht nur Albaneses Äußerungen kontrollieren, sondern auch, ob im Publikum Straftaten begangen würden. Gemeint waren offenkundig Parolen, die in Deutschland strafbewehrt sind und an dieser Stelle lieber nicht ausgeführt werden sollen. Wie eine massive, bedrohliche Präsenz bewaffneter Polizisten in den Räumen einer unabhängigen Tageszeitung gegen deren erklärten Willen mit der Pressefreiheit vereinbar sein soll, erschließt sich nicht. Albanese teilte mit, sie habe in den vergangenen Wochen und Monaten als UN-Sonderberichterstatterin viele europäische Länder bereist, behördliche Repressalien wie in Deutschland allerdings in keinem einzigen erlebt. Sie sei nervös und froh, die Bundesrepublik in Kürze verlassen zu können.

Mehr zum Thema: Berlin und der Antisemitismus.

[1] S. dazu Berlin und der Antisemitismus.

[2] Deutschland: Verabschiedete Antisemitismus-Resolution gefährdet Grund- und Menschenrechte. amnesty.de 07.11.2024.

[3] Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP: Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern. Deutscher Bundestag, Drucksache 20/14703. Berlin, 28.01.2025.

[4], [5] Heike Schmoll: Scharfe Kritik an Antisemitismus-Resolution. Frankfurter Allgemeine Zeitung 31.01.2025.

[6] S. auch „Eine neue Etappe der Repression“ und Wissenschaft im Weltkriegsformat.

[7] S. dazu „Stigmatisiert, kriminalisiert, angegriffen“.

[8] Hanno Fleckenstein: Deeskalation sieht anders aus. taz.de 09.02.2025.

[9] Bernd Kastner: Münchner Uni verhindert Vortrag von UN-Sonderberichterstatterin. sueddeutsche.de 05.02.2025.

[10] Wegner fordert Absage der FU an UN-Sonderberichterstatterin. zeit.de 11.02.2025.

[11] Jamal Iqrith: Polizei in der jungen Welt. junge Welt 19.02.2025.

Erstveröffenticht bei German Foreign Policy
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9875

Wir danken für das Publikationsrecht.

Unter Polizeibeobachtung

Franzeska Albanese – Die Polizei schreibt mit

„Das Grünbuch“: Zivilisten im Krieg (I)

„Grünbuch“ skizziert die Heranziehung von Zivilpersonen in die militärische Logistik im Krisen- und Kriegsfall. Im Kriegsfall wird mit bis zu 1.000 Verletzten pro Tag gerechnet; Zivilisten werden nur noch „nachrangig“ behandelt.

11 Feb 2025

Newsletter von German Foreign Policy

Vorbemerkung: Die Autor:innen des Grünbuchs repräsentieren eine große parlamentarische Koalition aus CDU, FDP, SPD und Grünen – ja auch der Partei DIE LINKE, die sich hier zusammengefunden hat, um Hand anzulegen für die Kriegsfähigkeit der Republik, die sich in einem herbeiphantasierten Bedrohungszustand befinden soll. Wirklich bedroht scheint eigentlich nur die sicher geglaubte Beute an Bodenschätzen der Ukraine, die gerade von der imperialistischen Konkurrenz beansprucht und verdealt werden, aber irgendwie schon von der EU eingepreist waren. (Jochen Gester)

Bild: Collage Jochen Gester

BERLIN (Eigener Bericht) – Ein von Soldaten, Ministerialbeamten und Geheimdienstlern erstelltes „Grünbuch“ skizziert die im Krisen- und Kriegsfall in Deutschland bevorstehende Einbindung von Zivilpersonen in die militärische Logistik. Die Autoren legen dem Papier ein Szenario zugrunde, dem zufolge die Spannungen zwischen Russland und der NATO eskalieren und mehrere große NATO-Staaten, darunter etwa Deutschland, Frankreich und die USA, mindestens 70.000 Soldaten über deutsches Territorium nach Osten verlegen. Im Osten stehen sie russischen Truppen unmittelbar gegenüber. Schon bei der Verlegung der Truppen fallen zahlreiche Aufgaben an, die laut dem Papier von Zivilpersonen erledigt werden müssen, denn die regulären Bundeswehreinheiten werden weitgehend für Kampfhandlungen benötigt. Zu den Aufgaben, zu denen auch Zivilisten eingespannt werden, zählt etwa die Einrichtung sogenannter Convoy Support Center (CSC) – eine Art „Rast- und Sammelplätze für die mit Kraftfahrzeugen marschierenden Truppen“, die versorgt werden müssen. Auch im Gesundheitswesen wird die zivile Infrastruktur zur Behandlung verletzter Soldaten genutzt; gerechnet wird mit bis zu 1.000 pro Tag. Zivilisten werden nur „nachrangig“ behandelt.

Das Grünbuch ZMZ 4.0

Erstellt worden ist das Grünbuch ZMZ 4.0 von einem 20 Personen umfassenden Kernteam, dem mehrere Militärs, Vertreter verschiedener Bundes- und Landesministerien und dreier Verfassungsschutzämter sowie vier Mitarbeiter der Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers (PwC) angehörten.[1] Geleitet wurde die Arbeit an dem Papier von dem 2007 gegründeten Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit, einem als gemeinnützig eingetragenen Verein in Berlin, dessen Gesamtvorstand ebenfalls Vertreter mehrerer Bundes- und Landesministerien, Repräsentanten der Feuerwehren und des Malteser Hilfsdienstes, diverse private Securityfirmen sowie Marieluise Beck angehören, eine langjährige Bundestagsabgeordnete (Bündnis 90/Die Grünen), die seit ihrem Ausscheiden aus dem Parlament das mit Millionensummen aus dem Bundeshaushalt finanzierte Zentrum Liberale Moderne (LibMod) leitet. Dem Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit gehören – Stand: 3. Juni 2024 – 136 Mitglieder an, von denen 77 juristische Personen sind, also Organisationen unterschiedlicher Art. Vorstandsvorsitzender ist mit Albrecht Broemme ein ehemaliger Präsident (2006 bis 2019) des Technischen Hilfswerks (THW) und vormaliger Vizepräsident des Deutschen Feuerwehrverbandes (1999 bis 2006).

Das Szenario

Das Szenario, von dem das Grünbuch ZMZ 4.0 [2] ausgeht, sieht eine rasche Eskalation von Spannungen zwischen der NATO und Russland im Frühjahr 2030 vor. Demnach reagieren die NATO-Staaten auf eine Verlegung russischer Truppen nach Kaliningrad und in das Gebiet um Sankt Petersburg, indem sie ihrerseits große Verbände an ihre Ostflanke bringen. So verlegt die Bundeswehr – verstärkt durch Einheiten aus den Niederlanden, Kroatien und Norwegen – rund 30.000 Soldaten nach Litauen. Die Vereinigten Staaten entsenden 25.000 vor allem in Süddeutschland stationierte Militärs nach Polen. Frankreich, Großbritannien und Kanada bereiten die Dislozierung von 15.000 Soldaten nach Estland und Lettland vor. Dabei fungiert Deutschland jeweils als Drehscheibe (german-foreign-policy.com berichtete [3]) für den Transport von Truppen und Material. Das Grünbuch-Szenario geht zusätzlich davon aus, dass die Kriegsvorbereitungen auf Widerstand im eigenen Land stoßen: „Friedensaktivisten und NATO-Gegner von links und rechts“, so heißt es, „rufen zu Demonstrationen und Blockaden von Brücken und Grenzübergängen auf, um einen Krieg mit Russland zu verhindern.“ Zudem führen „Brandanschläge auf Stromverteilerkästen der Deutschen Bahn … zu Unterbrechungen des Güterverkehrs“; ein „Bekennerschreiben einer unbekannten linksautonomen Gruppe“ liege vor.

„Transit- und Gastnation“

Die Aufgabe, die die Bundesrepublik in diesem Szenario bewältigen müsste, sei es, heißt es im Grünbuch ZMZ 4.0, „den geplanten Aufmarsch und die Versorgung verbündeter und eigener Streitkräfte“ auf ihrem Weg über die „Drehscheibe Deutschland“ an die zur Ostfront werdende NATO-Ostflanke abzusichern – als „Transit- und Gastnation“ für durchziehende Truppen. Da die regulären Einheiten der Bundeswehr für etwaige Kämpfe im Osten benötigt würden, sei dies „eine gesamtstaatliche Aufgabe“, heißt es weiter.[4] Bereitgestellt werden müssten unter anderem Verpflegung, Treibstoffe, „Übernachtungs- und Abstellkapazitäten“; zu leisten seien „Unterstützung bei Wartung und Sicherung“ des militärischen Geräts „sowie die medizinische Versorgung“. „Bei groß angelegten militärischen Aufmärschen“ komme noch „die Verkehrslenkung“ hinzu. Auch müssten Convoy Support Center (CSC) errichtet werden, heißt es im Grünbuch – quasi „Rast- und Sammelplätze für die mit Kraftfahrzeugen marschierenden Truppen“, an denen „im Spektrum Verpflegung/Betten/Treibstoff/Werkstatt“ alles potenziell Erforderliche bereitgehalten werden müsse. Für den Betrieb der CSC seien außer „Blaulichtorganisationen“ und zivilen Stellen auch „Vertragspartner aus der [privaten] Wirtschaft“ heranzuziehen. Dies müsse man schon jetzt „der eigenen Bevölkerung … vermitteln“.

Krankenhäuser, Arztpraxen, Apotheken

Zivilpersonen sollen, wie sich aus dem Grünbuch ZMZ 4.0 ergibt, im Krisen- und Kriegsfall nicht nur zu Hilfstätigkeiten bei der Verpflegung durchziehender Truppen verpflichtet werden, sondern auch bei der gesundheitlichen Versorgung erkrankter oder auch in Kämpfen verletzter Soldaten. Prinzipiell würden sämtliche „Akteure des Gesundheitswesens“ benötigt, heißt es in dem Dokument [5] – nicht nur einschlägige Rettungsdienste, Krankenhäuser und Rehabilitationseinrichtungen, sondern auch ambulante Versorgungseinrichtungen, Arztpraxen und Apotheken. Bereits während des Aufmarschs der Truppen in Richtung Osten müsse in dem Szenario, das dem Grünbuch zugrunde liegt, für „60.000 Soldatinnen und Soldaten … eine (hausärztliche) medizinische Versorgung sichergestellt werden“. Grundsätzlich könne im Krisenfall, um erkrankte oder auch verletzte Soldaten zu versorgen, der sogenannte Kleeblattmechanismus angewandt werden. Dieser wurde im Frühjahr 2020 im Kontext der Covid-19-Pandemie entwickelt, um Akutpatienten möglichst schnell auf verfügbare Plätze in den Krankenhäusern zu verteilen. Mittlerweile ist er weiterentwickelt worden und steuert jetzt die Verlegung schwerkranker und im Krieg verletzter Ukrainer in die Krankenhäuser der Bundesrepublik.

„Ein reduziertes Versorgungsniveau“

Im Fall eines umfassenden Krieges könne der Kleeblattmechanismus aber kaum angewandt werden, heißt es im Grünbuch: Dann seien die Opferzahlen wohl zu hoch. Zu rechnen sei mit bis zu 1.000 Verletzten pro Tag, von denen „33,6 Prozent intensivpflichtig, 22 Prozent vermehrt pflegebedürftig und 44,4 Prozent leichter verletzt“ seien.[6] Zur Behandlung müsse man sie von der Front zunächst nach Deutschland transportieren. Dort werde man „zwingend auf zivile Versorgungsstrukturen“ angewiesen sein, die schon jetzt unter Überlastung litten. Die vorhandenen Kapazitäten reichten im Kriegsfall nicht aus, um die Zivilbevölkerung im bisherigen – oft schon unzureichenden – Umfang zu versorgen. Die Grünbuch-Autoren kritisieren eindringlich, „eine öffentliche Diskussion über eine daraus folgende Reduzierung des Versorgungsniveaus“ für die Zivilbevölkerung finde „nicht statt“; diese sei daher auf die „nötige Priorisierung“ – die bevorzugte Behandlung von Soldaten und die nachrangige Behandlung von Zivilisten – „nicht ausreichend vorbereitet“. Dies wiege umso schwerer, als im Kriegsfall „auch größere Fluchtbewegungen aus den Nachbarländern“ zu erwarten seien; auch die Flüchtlinge müssten versorgt werden, nicht zuletzt medizinisch. Dies müssten „Kommunen und Kreise“ übernehmen, unterstützt von Hilfsorganisationen.

Protest und Widerstand

Die Grünbuch-Autoren dringen darauf, organisatorische Vorbereitungen schon jetzt zu treffen und nach Möglichkeit auch Kapazitäten zu schaffen, all dies nicht zuletzt unter Heranziehung von Zivilisten. Zudem nehmen sie Maßnahmen in den Blick, um im Krisen- und Kriegsfall Protest und Widerstand zu bekämpfen. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.

Mehr zum Thema: Das Mindset für den Krieg und Die vierte Division.

[1] Sandra Bubendorfer-Licht, Leon Eckert, André Hahn, Günter Krings, Ingo Schäfer (Hg.): Grünbuch ZMZ 4.0. Zivil-Militärische Zusammenarbeit 4.0 im militärischen Krisenfall. Eine Situationsbeschreibung, Analyse und Handlungsempfehlungen. Berlin, Januar 2025.

[2] Laut Definition im Grünbuch ZMZ 4.0 wird die Zivil-Militärische Zusammenarbeit in der Zeit des Kalten Kriegs als ZMZ 1.0 bezeichnet. ZMZ 2.0 war demnach zivile Unterstützung für im Ausland stationierte Truppen der Bundeswehr seit 1990 (ursprünglich meist Civil Military Cooperation, CIMIC, genannt). ZMZ 3.0 wiederum ist der Begriff, unter dem die Amtshilfe der Bundeswehr etwa bei der Registrierung von Flüchtlingen, während der Covid-19-Pandemie oder bei Naturkatastrophen von Hochwasser bis zu Waldbränden subsumiert wird. ZMZ 4.0 bezeichnet die Einbindung ziviler Elemente in einen großen Krieg – die sogenannte Landes- und Bündnisverteidigung.

[3] S. dazu Die künftige Ostfront und Ein halbes Jahr Aufmarschmanöver.

[4], [5], [6] Sandra Bubendorfer-Licht, Leon Eckert, André Hahn, Günter Krings, Ingo Schäfer (Hg.): Grünbuch ZMZ 4.0. Zivil-Militärische Zusammenarbeit 4.0 im militärischen Krisenfall. Eine Situationsbeschreibung, Analyse und Handlungsempfehlungen. Berlin, Januar 2025.

Erstveröffentlicht auf German Foreign Policy
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9864

Wir danken für das Publikationsrecht.

Hier ist das GRÜNBUCH im Wortlaut.

https://zoes-bund.de/wp-content/uploads/2025/02/250207_Gruenbuch_ZMZ_digital.pdf

Und hier eine Stellungnahme der Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden

Europas Standards

15. Nov 2022

Die Kritik an den doppelten Standards Europas bzw. des Westens nimmt weltweit zu – aktuell vor allem mit Blick auf die Klimapolitik und auf den Ukraine-Krieg.

Redaktion „German Foreign Policy“

BERLIN/KAMPALA (Eigener Bericht) – Vor dem Hintergrund der UN-Klimakonferenz in Sharm el Sheikh nimmt die Kritik an den doppelten Standards der westlichen Mächte – auch Deutschlands – weltweit zu. Es gehe nicht an, dass die europäischen Staaten Vorhaben zur Öl- und Gasförderung in Afrika ablehnten, sofern diese wie etwa in der Demokratischen Republik Kongo der Deckung des afrikanischen Eigenbedarfs dienten, dass sie parallel aber gleichartige Vorhaben unterstützten, wenn sie wie etwa im Senegal Europa versorgten, heißt es in einem aktuellen Namensartikel von Yoweri Museveni, dem Präsidenten Ugandas: „Wir werden nicht eine Regel für sie, eine andere aber für uns akzeptieren.“ Identische Kritik an europäischen Versuchen, den Ländern Afrikas eine Abkehr von Öl und Gas zu diktieren, zugleich aber selbst die Nutzung von Kohle als Energieträger wieder zu intensivieren – etwa in Deutschland –, wird schon seit Monaten laut. Zudem wächst die Verachtung dafür, dass der Westen von der Welt Unterstützung im Ukraine-Krieg fordert, zugleich aber Kriege, die seine Interessen nicht tangieren, ignoriert und Flüchtlinge, wenn sie nicht aus der Ukraine kommen, an den EU-Außengrenzen ertrinken oder erfrieren lässt.

Von Recht und Macht

Die Kritik an den doppelten Standards der westlichen Mächte – an sich so alt wie die globale westliche Dominanz – flammt seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs verstärkt auf. Ursache ist, dass die doppelten Standards diesmal allzu grell hervortreten. So kontrastiert die im Westen verbreitete demonstrative Empörung über die Kriegsopfer in der Ukraine scharf mit der ebenso verbreiteten Ignoranz gegenüber Kriegsopfern etwa in afrikanischen Ländern. Denis Mukwege, Friedensnobelpreisträger aus der Demokratischen Republik Kongo, wies im Juni darauf hin, dass der Westen „Milliarden in die Ukraine pumpt“, während er „vor dem Leiden anderswo die Augen verschließt“.[1] Grotesk ist die am Sonntag geäußerte Forderung von Bundeskanzler Olaf Scholz, in der internationalen Politik müsse „das Recht vor der Macht gehen“ [2]; Scholz will dies auf Russlands Überfall auf die Ukraine angewandt wissen, nicht aber auf den NATO-Überfall auf Jugoslawien, den US-Überfall auf den Irak und den britisch-französischen Krieg gegen Libyen, der zu einem NATO-Krieg ausgeweitet wurde. Bitter ist in zahlreichen Ländern Afrikas und Asiens registriert worden, dass in Europa Flüchtlinge aus der Ukraine willkommen geheißen werden, während nichtweiße Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken oder an den EU-Außengrenzen Polens und der baltischen Staaten erfrieren.[3]

Erdgas aus Afrika

Seit dem Frühjahr kommt wachsender Unmut über die doppelten Standards insbesondere europäischer Länder in Sachen Klimaschutz hinzu. Erst im vergangenen Jahr hatten mehrere wohlhabende Industriestaaten angekündigt, ab spätestens 2023 keinerlei Projekte zur Öl- und Gasförderung im Ausland mehr zu finanzieren. Auf dem afrikanischen Kontinent, wo bis heute rund 600 Millionen Menschen nicht über Strom verfügen, rief dies Unmut hervor: Dort gilt der Sprung unmittelbar hin zur Versorgung mit erneuerbaren Energien als unrealistisch und vor allem nicht finanzierbar. Seit die Staaten Europas jedoch alles daran setzen, keinerlei russisches Erdgas mehr zu nutzen – aus politischen Gründen, es geht darum, Russland zu „ruinieren“ (Annalena Baerbock) –, stehen sie Schlange, um Zugriff auf afrikanisches Erdgas für den europäischen Bedarf zu erhalten. Von der Verzichtsankündigung des vergangenen Jahres ist keine Rede mehr (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Die Bundesregierung etwa unterstützt die Förderung von Erdgas vor der Küste des Senegal, um einen Teil der dortigen Vorräte zu erhalten. Italien wiederum hat in den vergangenen Monaten gleich sechs Liefervereinbarungen mit afrikanischen Staaten geschlossen. Zu den Staaten, die Europa beliefern sollen, gehört Mosambik; von dort ist soeben der erste Flüssiggastanker aufgebrochen.[5]

Berggorillas vs. Hunger

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich die europäischen Staaten umstandslos selbst herausnehmen, was sie anderen zu untersagen suchen, lassen sich die Länder Afrikas immer weniger von neuen fossilen Fördervorhaben abbringen. Ein Beispiel bietet die Demokratische Republik Kongo. Dort hat die Regierung im Juli angekündigt, Lizenzen zur Exploration von Öl und Gas im Kongobecken zu vergeben.[6] Das Vorhaben droht klimapolitisch fatale Folgen mit sich zu bringen: Im Kongobecken liegen Torfmoore, die so viel Kohlenstoff speichern, wie zur Zeit in den globalen Emissionen aus fossilen Brennstoffen über drei Jahre enthalten ist.[7] Die Regierung des Kongo weist allerdings darauf hin, dass jeder ihrer Bürger durchschnittlich so viel Kohlendioxidemissionen im Jahr verursacht wie ein Brite in zwei Tagen – und dass die wohlhabenden Industriestaaten es bis heute versäumen, dem Land zum Ausgleich für einen Verzicht auf die Ölförderung finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.[8] Die in Europa äußerst populäre Argumentation, die Öl- und Gasförderung im Kongobecken müsse dringend unterbleiben, da durch sie einmalige Berggorilla-Populationen gefährdet würden, stößt in dem Land, in dem 60 Millionen Menschen – annähernd zwei Drittel der Bevölkerung – keine 2,15 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben, nicht wirklich auf Verständnis.

„Moralischer Bankrott“

Aktuell entzündet sich die Kritik an den doppelten Standards vor dem Hintergrund der UN-Klimakonferenz in Sharm el Sheikh. So heißt es etwa in einem Namensbeitrag, den Ugandas Präsident Yoweri Museveni in der vergangenen Woche in dem US-Magazin Newsweek veröffentlicht hat, es könne nicht angehen, dass die Staaten Europas weiter Stimmung gegen Öl- und Gasförderung in Afrika machten, wenn sie – wie im Kongo – dem Eigenbedarf des Kontinents diene, sie aber bejubelten, wenn aus den afrikanischen Quellen die einstigen Kolonialmächte bedient würden. „Wir werden nicht eine Regel für sie, eine andere aber für uns akzeptieren“, schreibt Museveni; es sei ein „moralischer Bankrott“ für die Europäer, wenn sie wirklich erwarteten, „Afrikas fossile Brennstoffe für ihre eigene Energieerzeugung zu nutzen“, ohne zugleich zu billigen, dass die afrikanischen Staaten sie ihrerseits für ihren Bedarf verwendeten.[9] Museveni erinnert zudem an einen aktuellen Fall, der Deutschland mittlerweile zum Gespött der globalen Öffentlichkeit macht: daran, dass die Bundesrepublik zur Zeit Windräder abreißen lässt, um den Abbau von Braunkohle bei dem Ort Lützerath voranzutreiben.[10] Das sei exakt „der verwerfliche doppelte Standard, den zu erwarten wir in Afrika inzwischen gewohnt sind“, schreibt Museveni.

„Inakzeptabel“

Ugandas Präsident weist zudem darauf hin, dass 25 Milliarden US-Dollar pro Jahr laut Schätzungen der Internationalen Energieagentur (IEA) wohl ausreichen würden, um in den Staaten Afrikas bis zum Jahr 2030 gut 600 Millionen Menschen aus der Energiearmut zu befreien – „weniger als das, was im Westen in sechs Monaten für Waffen für den Ukraine-Konflikt ausgegeben wurde“.[11] Fast zur gleichen Zeit hat Sri Lankas Präsident Ranil Wickremesinghe darauf hingewiesen, die Regierungen des Westens seien binnen kürzester Zeit in der Lage gewesen, hohe Milliardensummen für den Ukraine-Krieg zu mobilisieren; für den Kampf gegen den Klimawandel aber stellten sie keine entsprechenden Summen bereit. Wickremesinghe urteilt: „Doppelte Standards sind inakzeptabel“.[12]

[1] Barbara Moens: Nobel laureate Mukwege: Ukraine war shows West’s double standards. politico.eu 13.06.2022.

[2] Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz zum Besuch des Bundeskanzlers in der Sozialistischen Republik Vietnam am 13. November 2022 in Hanoi. bundesregierung.de.

[3] S. dazu Flüchtlingssterben im Niemandsland, „Willkommen in Guantanamo!“ und „Willkommen in Guantanamo!“ (II)

[4] S. dazu Nach uns die Sintflut (II).

[5] Mozambique begins LNG exports. energy.economictimes.indiatimes.com 14.11.2022.

[6] Patrick Greenfield: West accused of double standards over oil and gas exploration in DRC. theguardian.com 01.11.2022.

[7] Claudia Bröll: Sisyphusarbeit für das Klima. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.11.2022.

[8] Karen McVeigh: West accused of ‘climate hypocrisy’ as emissions dwarf those of poor countries. theguardian.com 28.01.2022.

[9] Yoweri K. Museveni: Europe’s Failure to Meet Its Climate Goals Should Not Be Africa’s Problem. newsweek.com 08.11.2022.

[10] Windräder müssen der Braunkohle weichen. spiegel.de 24.10.2022.

[11] Yoweri K. Museveni: Europe’s Failure to Meet Its Climate Goals Should Not Be Africa’s Problem. newsweek.com 08.11.2022.

[12] Tax oil firms to pay for climate damage, island nations say. aljazeera.com 08.11.2022.

Erstveröffentlichung in „German Foreign Policy, 15.11. 2022
https://www.german-foreign-policy.com/

Wir danken für das Recht auf Veröffentlichung.

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