Das Momentum dreht sich

Wir berichteten bereits Ende März: „Nahost – deutsche „Staatsräson“ steht international mit dem Rücken zur Wand!“ Aber auch im Inland lehnen schon lange fast zwei Drittel der Menschen die brutale Kriegsführung Israels in GAZA ab.

Das Momentum dreht sich nun auch im Ukraine Konflikt. „Waffenstillstand und Ende des festgefahrenen Kampfgemetzels“? Oder „unbegrenzte Fortsetzung des Krieges mit wachsenden Risiken zu einer unkontrollierbaren Eskalation“?

Bei den Ländern des globalen Südens und der Mehrheit der Länder in der UN Vollversammlung ist die Ablehnung der fortgesetzten militärischen Unterstützung der Ukraine und der Verstetigung des Kriegsgeschehens, aber auch der westlichen Sanktionspolitik von Anfang an nie eine Frage gewesen.

In einem FB Post fasst Sevim Dagdelen nun die Entwicklung des Meinungsszenarios bei uns, in Europa und in den USA zusammen. Das Momentum dreht sich. Von anfänglicher Kriegsbegeisterung und Siegeszuversicht zu immer größerer Skepsis. Aber die Meinungen ihrer Bevölkerungen schert die Verantwortlichen auch in unseren Ländern wenig. (Peter Vlatten)

Fazit von Sevim Dagdelem zum aktuellen Meinungsszenario

Während FDP-Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann und der Grüne Anton Hofreiter unbeirrt für die Fortführung des Krieges in der Ukraine trommeln und Kanzler Scholz im Bundestag vor einer Verhandlungslösung mit Russland warnt, wächst in der Ukraine selbst die Unterstützung für diplomatische Initiativen zur Beendigung des Krieges. Aktuellen Umfragen zufolge befürworten mittlerweile 44% der Ukraine die Aufnahme von Gesprächen mit Russland (die Präsident Selenskyj per Dekret verbietet), nur noch 48% meinen, dass die Ukraine „weiterkämpfen sollte, bis sie den Krieg gewinnt“ – 2022 vertraten diese Position noch 70%, im vergangenen Jahr 60%. Wenn sich die gegenwärtigen Trends fortsetzen, sind diejenigen, die für eine Verhandlungslösung offen sind, auf dem besten Weg, sich zur Mehrheitsmeinung zu entwickeln. Die progressive US-Wochenzeitung „The Nation“ verweist diesbezüglich darauf: Je näher die Befragten an der Front wohnen, desto größer der Wunsch nach einer politischen Lösung für die Beendigung des Krieges. Und: Die Meinung der 6,5 Millionen Ukrainer, die das Land mit 44 Millionen Einwohnern seit Kriegsbeginn verlassen haben, werden in nationalen Umfragen nicht berücksichtigt; ebenso wenig die Ukrainer, die in den von Russland kontrollierten Gebieten – der Krim und großen Teilen des Donbass – leben, die mehrheitlich nicht im Sinne Kiews votieren dürften. [1]https://www.thenation.com/article/world/ukraine-russia-zelensky-war-peace-diplomacy/

Und in Deutschland? Hier ist ein Großteil für mehr diplomatische Maßnahmen statt immer mehr Waffenlieferungen. Laut einer Umfrage von FOCUS Online lehnen 55% der Befragten einen NATO-Beitritt der Ukraine ab. Im Osten Deutschlands sind es sogar 70%. Am meisten für die Befeuerung des Krieges sind die Grünen: 80% ihrer Anhänger unterstützen einen NATO-Beitritt der Ukraine. Auch werden weitere NATO-Waffenlieferungen mit 59% am stärksten von Anhängern der Grünen befürwortet, um Umkehrschluss findet in der Partei, die die deutsche Außenministerin stellt, die Forderung nach mehr Diplomatie am wenigsten Unterstützung (23%). Und Präsident Selenskyj? Nur 42 Prozent der Deutschen halten ihn für einen vertrauenswürdigen Gesprächspartner, ebenso viele verneinen dies. [2]https://www.focus.de/politik/focus-online-umfrage-die-wichtigsten-6-fragen-so-denkt-deutschland-wirklich-ueber-den-krieg-und-putin_id_260067582.html

Und in den USA? Auch dort wächst die Kritik an der Waffenhilfe für die Ukraine. Sagten 2022 nur 7%, die USA würden „zu viel“ Unterstützung leisten, ist heute mit 31% rund jeder Dritte dieser Meinung, bei den Anhängern der Republikaner sogar jeder zweite. Nur 13% der US-Republikaner meinen, Washington leiste „nicht genug“ für die Ukraine. Selbst bei den Demokraten von Präsident Biden meint nur jeder Dritte, Kiew müsse „noch mehr“ Hilfe erhalten.[3]https://www.pewresearch.org/global/2024/05/08/growing-partisan-divisions-over-nato-and-ukraine/pg_2024-05-08_russia-nato_0_02/

Es ist Zeit, den nicht gewinnbaren Krieg zu beenden, weiteres sinnloses Sterben und noch mehr Zerstörung zu verhindern. Statt wie der CDU-Vorsitzende Merz den Ukrainern in Deutschland mit Abschiebung an die Kriegsfront zu drohen und weitere Milliarden Euro Steuergelder für Waffengeschenke an einen zunehmend unpopulärer werdenden Präsidenten in Kiew zu verpulvern, müssen jetzt diplomatische Initiativen für eine Beendigung des Krieges unterstützt werden – das wollen immer mehr Menschen in Deutschland wie in den USA und auch in der Ukraine selbst.

Eine Mehrheit der Bevölkerung lehnt NATO-Beitritt der Ukraine ab und fordert von der Ampel-Regierung: Mehr Diplomatie statt Waffen!

Titelfoto Peter Vlatten

Universitäre Zeitenwende

Von Peter Nowak

Am Mittwoch, dem 26. Juni 2024, musste die Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger im Bundestag Rede und Antwort stehen: Sollen die Wissenschaftler*innen sanktioniert werden, die jüngst in offenen Briefen die staatliche Repression gegen pro-palästinensische Aktivist*innen verurteilten? Stark-Watzinger hatte unmittelbar nach Erscheinen des Briefes öffentlich angezweifelt, ob die Unterzeichner*innen – die teilweise seit Jahrzehnten zu Rassismus, Faschismus und Antisemitismus forschen – noch auf dem Boden der Verfassung stehen. Eine sorgfältige Prüfung des Briefinhalts wartete die Bundesministerin gar nicht erst ab, einen Grund zum Rücktritt sieht Stark-Watzinger in ihrer überhasteten Denunziation allerdings nicht; eine Staatssekretärin wurde bereits geschasst, damit ist die Sache erledigt.

Im Schatten der Aufregung um Stark-Watzinger, deren Macht im föderalen deutschen Bildungssystem letztlich begrenzt ist, werden in der Hauptstadt Fakten geschaffen. Die Berliner CDU-Justizsenatorin Felor Badenberg will die Vergabe von sämtlichen Fördermitteln künftig von einer Demokratieklausel abhängig machen. Davon wären neben Wissenschaftler*innen und Künstler*innen auch viele andere Personen betroffen, die von öffentlichen Mitteln abhängig sind. Über das Prozedere hat sich Badenberg, die übrigens bis April 2023 Vizepräsidentin des Verfassungsschutzes war, in den Medien geäußert: Bei Beantragung von Fördermitteln sollen die zuständigen Behörden in einem Stichwort nachsehen, ob Bewerber*innen im Verfassungsschutzbericht auftauchen oder gleich selbst eine Anfrage bei den Verfassungsschutzämtern stellen.

2010 war die Empörung noch groß, als die damalige Bundesinnenministerin Kristina Schröder die Förderung von zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen rechts von der Unterzeichnung einer Extremismusklausel abhängig machen wollte. Der Widerstand dagegen zog sich bis ins linksliberale Milieu und war entsprechend erfolgreich: Die Extremismusklausel ist mit der ehemaligen Ministerin in der Versenkung verschwunden. Jetzt taucht sie wieder auf, zufällig in Zeiten, in denen das Bildungs- und Wissenschaftssystem in Deutschland kriegsfähig gemacht werden soll. Bereits nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 wurde die Kooperation zu russischen und später auch zu chinesischen Wissenschaftler*innen gekappt. Stark-Watzinger zufolge ist im Zuge dieser »Zeitenwende« ein hochschulpolitischer Ansatz erforderlich, »der das hohe Gut der Wissenschaftsfreiheit mit unseren sicherheitspolitischen Interessen in Einklang bringt«.

Repressiver Umgang mit Protesten auf dem Uni-Campus, Fördermittelvergabe nur nach Verfassungsschutzanfrage und ein »Kalter Krieg« in der Forschungskooperation passen in eine Gesellschaft, in der die Räume für Widerspruch und Renitenz zunehmend eingeengt werden. 

Peter Nowak v. 29.6. 2024
https://peter-nowak-journalist.de/2024/06/29/universitaere-zeitenwende/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Antifaschistischer Regenbogen

»Neue Volksfront«

Gegen eine drohende Regierungsübernahme von rechts wendet sich in Frankreich die »Neue Volksfront« – ein buntes, aber auch brüchiges Bündnis

Von Volkmar Wölk

Manche Episoden der Geschichte hinterlassen Spuren. Sie können nur oberflächlich sein oder sie graben sich tief ein. Manchmal verblassen sie wieder und scheinen völlig verschwunden zu sein, nur um an unerwarteter Stelle erneut aufzutauchen. Sie überwinden Zeit und Raum als Teil einer großen Erzählung des Kampfes um Emanzipation.

Die Geschichte der Rainbow Coalition gehört zweifellos zu dieser Erzählung. Eigentlich war jener Zusammenschluss progressiver Bewegungen nur ein lokales Ereignis im Chicago Ende der 60er Jahre. Und doch war sie viel mehr. Gegründet von dem Aktivisten der Black Panther Party Fred Hampton entwickelte sie sich zu einem sozialrevolutionären Netzwerk, das marginalisierte junge Leute diverser Communities vereinte, die bis dahin isoliert gekämpft hatten. Es ging um einen grundlegenden sozialen Wandel, den Kampf gegen den Rassismus im Staat und in der Gesellschaft. Hampton selbst proklamierte: »Nichts ist wichtiger, als den Faschismus zu stoppen, denn der Faschismus wird uns alle stoppen.« Am 4. Dezember 1969 wurde Hampton vom FBI im Schlaf erschossen.

Von Nupes zur Neuen Volksfront

Die Agrarwissenschaftlerin und langjährige Sprecherin von Attac Frankreich, Aurélie Trouvé, brachte diesen Ansatz 2021 mit ihrem Buch »Der Regenbogen-Block. Für eine politisch radikale und inklusive Strategie« wieder ins Spiel. Eine solche Strategie, so Trouvé, verdeutliche sich in den Sätzen von Hampton: »Wir müssen Feuer mit Wasser bekämpfen. Wir dürfen Rassismus nicht mit Rassismus bekämpfen, sondern müssen ihm mit Solidarität entgegentreten. Wir dürfen den Kapitalismus nicht mit einem Kapitalismus auch für Schwarze bekämpfen, sondern mit der Forderung nach Sozialismus.« Heutzutage, da der Neoliberalismus an seinen Widersprüchen erstickt, schlussfolgert Trouvé, sei es unverzichtbar, die diversen Kräfte der organisierten Linken zu bündeln und die feministischen, sozialen, radikaldemokratischen, ökologischen und antifaschistischen, außerparlamentarischen Kräfte zum festen Bestandteil eines Bündnisses zu machen. Es geht um die Zusammenführung sowohl der unterschiedlichen Kampffelder wie auch der Kampfformen.

Aurélie Trouvé ist seit 2022 Parlamentsabgeordnete von La France Insoumise (LFI). Ihr Ansatz der »Regenbogen-Koalition« hatte zur Gründung des Wahlbündnisses Nupes (Neue ökologische und soziale Volksunion) beigetragen, das dem neoliberalen Status quo wie dem Rechtsruck etwas entgegensetzen sollte. Das Linksbündnis hatte keinen Bestand und scheiterte auch an inneren Widersprüchen. Mittlerweile hat sich die Lage nochmals deutlich zugespitzt: Das Lager des neoliberalen Präsidenten Emmanuel Macron ist offensichtlich heruntergewirtschaftet und verfügt spätestens seit der Niederlage bei der Europawahl über keine eigene Mehrheit mehr. Die Regierungsübernahme durch die extreme Rechte um Marine Le Pen erscheint als realistisches Szenario.

»Diese Volksfront wird umso schlagkräftiger sein, je weniger sie sich auf ein Wahl­bündnis politischer Apparate reduzieren lässt.«Didier Eribon Soziologe und Philosoph

Auf diese Gefahr reagierte die Linke mit der Gründung einer »Neuen Volksfront« (NFP), die jedoch mehr ist als nur eine aus der Not geborene Reaktion. Das Bündnis lasse Hoffnung schöpfen, urteilt Didier Eribon im Interview mit der Tageszeitung »Libération«. »Diese Volksfront wird umso schlagkräftiger sein, je weniger sie sich auf ein Wahlbündnis politischer Apparate reduzieren lässt. Es handelt sich um eine viel breitere Sammlungsbewegung, die im Entstehen begriffen ist: mit Gewerkschaften, Verbänden, ökologischen und antirassistischen Bewegungen, LGBT, Jugendorganisationen, Intellektuellen und Künstlern.« Eribon scheint richtig zu liegen mit seiner Einschätzung. Die Gewerkschaften, die in Frankreich traditionell nicht in Wahlkämpfe eingreifen, mobilisieren in großem Stil für das Linksbündnis. An einer Kundgebung am Donnerstag in Paris, zu der über 100 Organisationen – von der Liga für Menschenrechte bis hin zu Oxfam und Greenpeace – aufgerufen hatten, nahmen Zehntausende teil.

Vieles wird möglich

Aus dem Zusammenschluss, meint Eribon, könnte sich eine umfassende Dynamik entwickeln, die neue Perspektiven eröffne, besonders durch die kollektive Neudefinition eines Linksprojekts der sozialen Transformation. »In einem solchen Moment, wie wir ihn gerade erleben, werden viele Dinge möglich.« Ansätze zu einer wirklichen Veränderung sind erkennbar, wie etwa der Versuch, in und mit einem Wahlbündnis über ein reines Wahlbündnis hinauszuweisen und außerparlamentarische Bewegungen zu berücksichtigen.

Einige bisherige Abgeordnete des LFI wurden nicht erneut aufgestellt. Stattdessen kandidieren nun durchaus prominente Gewerkschafter*innen. Die nachvollziehbare Maßnahme hat allerdings auch einen schalen Beigeschmack, da es sich bei den nicht mehr Berücksichtigten durchweg um interne Kritiker*innen von Jean-Luc Mélenchon handelt. Andere Kandidaturen sind deutliche Zeichen an die außerparlamentarischen Bewegungen. So nominierte LFI einen der Wortführer der Bewegung gegen die umstrittene Schnellbahn-Neubaustrecke Lyon nach Turin in den Savoyen.

Und in Avignon wurde mit Raphaël Arnault ein bekannter Aktivist der antifaschistischen Jeune Garde aufgestellt – eine Entscheidung, die sofort zu heftigen Attacken führte. Denn Arnault ist durch den französischen Inlandsgeheimdienst mit dem »fiche S« markiert, einer Einstufung, die in Deutschland der eines »Gefährders« entspricht. In Frankreich sind schätzungsweise knapp 30 000 Personen von diesen Einträgen betroffen.

Bruchlinien

Vom LFI prallen solche Angriffe bisher ab. Mathilde Panot, Fraktionsvorsitzende des LFI im Parlament, konterte entsprechende Vorwürfe mit den Worten: »Ich bin stolz darauf, antifaschistische Kräfte in unserer Neuen Volksfront zu haben.« Allerdings zeigt der Fall auch mögliche Bruchlinien innerhalb des NFP auf. Fabien Roussel, Chef der französischen Kommunisten, forderte LFI umgehend im Fernsehen auf, die Kandidatur von Arnault rückgängig zu machen.

Ein deutlicher Bruch zeichnet sich mit dem Verhältnis zum Antisemitismus ab. Die Zerwürfnisse darum sind kein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Linken. Serge Klarsfeld, als Nazijäger bekannt, erklärte wegen Äußerungen von Funktionären des LFI, er würde im zweiten Wahlgang, »ohne zu zögern«, Le Pens Rassemblement National wählen, wenn der Gegenkandidat vom LFI komme. Bernard-Henri Lévy stützte diese Position in einem Gastbeitrag in der »Süddeutschen Zeitung« und warnte vor Frankreichs »antisemitischer Linken«. Zur entgegengesetzten Einschätzung kommt der konservative Philosoph und Historiker Emmanuel Todd, ebenfalls jüdischer Herkunft. Er urteilte kategorisch: »Wenn die Wehrmacht wieder in Paris einmarschiert, dann werde ich mich eher bei einem Aktivisten des LFI verstecken als bei einem Konservativen oder jemandem vom Front National.«

Linke Sozialwissenschaftler wie Geoffroy de Lagasnerie sehen nicht nur in diesem Fall eine umfassende Kampagne sowohl der Kreise um Macron als auch der extremen Rechten, um das neue Bündnis zu verunglimpfen. Er zitiert die US-Bürgerrechtlerin Bernice Johnson Reagon: »Wenn du Teil eines Bündnisses bist und dich darin wohlfühlst, dann ist das Bündnis noch nicht breit genug.« Welche Zukunft das Regenbogen-Bündnis haben wir, steht spätestens am 7. Juli fest.

Quelle: nd v. 29.6. 2024
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183336.neue-volksfront-linksbuendnis-in-frankreich-antifaschistischer-regenbogen.html?sstr=Volkmar|W%C3%B6lk

Wir danken für das Publikationsrecht.

Diese Seite verwendet u. a. Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung