China-Zölle: Wenn Politiker ökonomische Prozesse falsch verstehen

Von Heiner Flassbeck

Bild: Screenshot aus BpB-Video zum Thema Freihandel

Die EU plant Zölle auf E-Autos aus China. Das zeigt, wie falsch Politiker Wirtschaft verstehen. Ist China wirklich eine Bedrohung für den Freihandel? Ein Kommentar.

In diesen Tagen kann man gut beobachten, wie ein falsches Verständnis ökonomischer Prozesse enorme politische Konflikte nach sich zieht. Die Zölle, die Europa, angetrieben von der Europäischen Kommission und ihrer Chefin Ursula von der Leyen, auf chinesische E-Autos erheben will, zeigen wieder einmal, dass die moderne Politik enormen Schaden anrichtet, weil die Politiker die Systeme, in die sie eingreifen, nicht einmal im Ansatz verstehen.

Allenthalben und nicht nur in Europa werden Gefahren für den globalen Handel an die Wand gemalt, die mit China, China und nochmals China zu tun haben. Dahinter steht ohne Zweifel die Doktrin der amerikanischen Neocons, die mit allen Mitteln verhindern wollen, dass China auch nur an der amerikanischen Hegemonie kratzt.

Aber die Angst vor der chinesischen Gefahr würde ohne die vermutete ökonomische Bedrohung nicht glaubwürdig sein. Doch genau die beruht auf einem Missverständnis. China ist nicht die ultimative Bedrohung für den „Freihandel“, weil es den „Freihandel“, den alle glauben, verteidigen zu müssen, gar nicht gibt.

Freihandel klingt gut, obwohl kaum jemand weiß, was sich dahinter verbirgt. Typisch für unser Missverständnis hinsichtlich des Freihandels ist ein Zitat wie das folgende. Die Zeit schrieb vor einigen Jahren bei einem ähnlichen Anlass:

Die Idee des Freihandels ist, dass sich jedes Land auf die Herstellung der Güter spezialisiert, die es am günstigsten produzieren kann. Der Überschuss an Gütern kann exportiert und für den Erlös können andere Waren importiert werden. … China zum Beispiel sollte demnach arbeitsintensive Produkte wie Kleidung anfertigen, denn Arbeit ist in Asien relativ günstig. Europa, das höhere Löhne hat, sollte stattdessen Güter herstellen, für die große Produktionsanlagen gebraucht werden.

Das gibt den Nukleus der traditionellen Handelstheorie gut wieder, aber es ist, wie ich in meinem neuen Buch im Detail zeige, das entscheidende Missverständnis. Das Dogma der Freihandelsdoktrin, nach dem sich die Entwicklungsländer auf die Herstellung arbeitsintensiver Produkte beschränken sollen, ist durch nichts zu rechtfertigen. Es wird aber immer wieder als Rechtfertigung von Protektionismus missbraucht und verhindert auf diese Weise, dass die Schwellenländer – mit der Ausnahme von China und wenigen anderen asiatischen Ländern – schnell und erfolgreich aufholen.

Zwar werden in Asien und in China seit Jahrzehnten die allermeisten global verkauften Textil-Produkte hergestellt, aber es wird keineswegs mit arbeitsintensiven Methoden produziert, sondern immer mit modernster westlicher Technologie. Doch die Ökonomen, gefangen in ihrer kleinräumigen Gleichgewichtswelt, versuchen trotz eindeutiger empirischer Nachweise Handelsdogmen zu retten, die noch nie der Wirklichkeit der globalisierten Wirtschaft entsprochen haben.

Gewinnlosigkeit und Handelstheorie

Die neoklassische Theorie des internationalen Handels, die immer noch in den Köpfen der Ökonomen und in der Politik vorherrscht, unterstellt, dass Investitionen, die von Produzenten aus Hochlohnländern (mit hoher Arbeitsproduktivität) in Ländern mit niedriger Produktivität und niedrigen Löhnen getätigt werden, sich nach den relativen Preisen von Arbeit und Kapital richten.

Man unterstellt folglich, dass der Produzent eines mobilen Telefons, der seine Produktion nach China verlagert, für die Produktion in China eine völlig neue Technologie erfindet, die wesentlich arbeitsintensiver als in Deutschland ist, um dem niedrigen relativen Preis von Arbeit in China Genüge zu tun.

Der westliche Produzent schmeißt, nach dieser Vorstellung, seine in Deutschland erfolgreich angewendete Technologie weg, erfindet für China eine neue arbeitsintensive Technologie, mit der er das gleiche Produkt in gleicher Qualität herstellen kann. Das bietet er dann wegen der niedrigeren Produktivität zu genau dem gleichen Preis an, zu dem er es in Deutschland produziert hätte – also ohne jeden Zusatzgewinn. Er verzichtet folglich – laut neoklassischer Theorie – auf den Gewinn, den er gemacht hätte, wenn er seine hohe deutsche Produktivität in Form moderner Maschinen nach China transportiert und dort von Arbeitern bedienen ließe, die im Vergleich zu Deutschland niedrige Löhne erhalten.

Auf diese mehr als erstaunliche Deutung verfällt die neoklassische Theorie, weil sie unterstellt, dass Unternehmen ihre Technologie ohne weiteres in jede Richtung anpassen können und der Wettbewerb schließlich dazu führt, dass die Unternehmen keinen Gewinn machen. Vollständig ausgeschlossen sind in dieser Theorie Gewinne, die sich aus einem monopolistischen Vorsprung oder einem absoluten Wettbewerbsvorteil ergeben.

Nach der Theorie, von der die gesamte Volkswirtschaftslehre seit 200 Jahren beherrscht wird, sind die Unternehmen Zombies, die weder Weltmarktführer werden können (und wollen), noch mit anderen Unternehmen um Marktanteile konkurrieren. Machen die Unternehmen systematisch Gewinne durch Vorsprünge, die sie sich gegenüber anderen Unternehmen erarbeiten, ist der Markt in der Theorie, auf der die gesamte neoliberale Ideologie aufbaut, kein richtiger Markt. Diese Vorstellung ist zwar mehr als lächerlich, aber sie beherrscht wie kaum eine andere Doktrin das ökonomische Denken.

Betrachtet man China durch diese Brille, ist es klar, dass absolute Vorteile, die chinesische Unternehmen haben, nur durch staatliche Subventionen erreicht werden konnten. In den Augen der Leyen-Spieler ist China ein Markt, den man ohne Weiteres mit jedem anderen Markt vergleichen kann. Gewaltige absolute Vorteile und gewaltige Gewinnmargen der aus China heraus exportierenden Unternehmen werden einfach ausgeblendet.

Bisher waren es vorwiegend westliche Unternehmen, die von den riesigen, absoluten Vorteilen profitierten. Direktinvestitionen haben seit der Öffnung Chinas so gewaltige Effekte, dass über viele Jahre der chinesische Handel in keiner Weise mit dem Handel eines der westlichen Industrieländer vergleichbar war.

Der chinesische Handel bestand nämlich zum großen Teil aus dem Handel von westlichen Unternehmen, die ihren Standort in China hatten. Man schätzte vor zehn Jahren noch, dass 60–70 Prozent der gesamten Exporte Chinas nicht die Exporte originär chinesischer Unternehmen waren, sondern Exporte solcher ausgelagerten westlichen Unternehmen.

Nicht auch noch die Chinesen selbst

Nun, da auch originär chinesische Unternehmen mit der Hilfe modernster Technologie und immer noch relativ günstiger Löhne (weil die durchschnittliche gesamtwirtschaftliche Produktivität in China immer noch relativ niedrig ist) selbst diese absoluten Vorteile nutzen, treten die westlichen Laienspieler auf den Plan und behaupten, es könnten ja nur staatliche Subventionen sein, die die chinesischen Produkte so günstig machten.

Solange westliche Unternehmen die absoluten Vorteile Chinas nutzten, um in der Welt zu Niedrigstpreisen zu verkaufen (oder übermäßig hohe Gewinne zu machen) war alles in Ordnung, jetzt, da die Unternehmen aus dem Schwellenland das Gleiche tut, muss man mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten dagegenhalten. Absurder kann Politik nicht mehr sein.

Nimmt man alles zusammen, bleibt nur eine einzige Schlussfolgerung: Die gesamte Idee des Freihandels ist überholt, weil sie auf Doktrinen beruht, die durch nichts zu rechtfertigen sind. Auch wenn der internationale Handel frei wäre, wüssten wir nicht, ob er auch effizient ist. Genau das aber, die Gleichsetzung von Effizienz und Freiheit, ist es, die den Kern der Freihandelsdoktrin und der angehängten politischen Schlussfolgerungen bis zu den Regeln der Welthandelsorganisation ausmacht.

Die einfache Überlegung, die den Ökonomen und den Politikern das Leben so leicht gemacht hat, dass prinzipiell jeder Eingriff in den freien Handel schädlich und ineffizient ist, hat mit den Verhältnissen in der realen Welt nichts zu tun. Wir benötigen ein ganz neues internationales Handelssystem, das auf den wirklichen Verhältnissen aufbaut und nicht auf der neoklassischen Fiktion vom Freihandel.

Es geht keineswegs nur um staatliche Verzerrungen des Wettbewerbs, sondern um die Frage, was in der realen Welt Wettbewerb überhaupt bedeutet, zumal, wenn man weitere Verzerrungen des Wettbewerbs durch das Weltfinanzsystem (über ungerechtfertigte Wechselkursänderungen) oder Verzerrungen durch Unterbewertungsstrategien innerhalb einer Währungsunion (wie im Falle Deutschlands) einbezieht.

Einfach wird das alles nicht. Ein Land beispielsweise, das sich gegen den massiven Import aus einem anderen Land wehrt, in dem Unternehmen (auch ohne staatliche Hilfen) hohe Produktivität mit niedrigen Löhnen kombinieren und extrem hohe Monopolgewinne erzielen, ist nicht ohne Weiteres zu verurteilen. Diese Maßnahme kann gerechtfertigt sein, wenn durch solche Monopolgewinne ansonsten gesunde Unternehmen im Inland geschädigt oder vernichtet werden.

Auf der anderen Seite aber gibt es Aufholen von Entwicklungs- und Schwellenländern nur durch solche absoluten Vorteile und den Gewinn von Marktanteilen durch diese Länder. Will man das verhindern? Wer allerdings die billigen Importe der eigenen Unternehmen aus einem Schwellenland wie China begrüßt, die billigen Importe aber mit Zöllen belegt, sobald auch chinesische Unternehmen davon profitieren, ist auf jeden Fall ein schlimmer Nationalist.

Völlig absurd wird es, wenn jedes Land, wie gerade von Gabriel Felbermayr in der Zeit vorgeschlagen, auf der Basis der falschen Theorie auch noch versucht, den internationalen Handel nach nationalen strategischen Gesichtspunkten zu nutzen. Dann wird es ein Hauen und Stechen geben, bei dem mit Sicherheit am Ende alle verlieren, Deutschland am allermeisten, weil es in der Vergangenheit am meisten profitiert hat.

Erstveröffentlicht auf telepolis am 7.10. 2024
https://www.telepolis.de/features/China-Zoelle-Wenn-Politiker-oekonomische-Prozesse-falsch-verstehen-9964354.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

Weder verschlafen, noch überrannt

Die deutsche Autobranche macht sich daran, ihre Krise zu überwinden – auf Kosten der Wettbewerber und der Beschäftigten

Bild: Wikimedia

Von Stephan Kaufmann

Die deutsche Autoindustrie ist derzeit das Sorgenkind der Nation. Ihr Absatz sinkt oder stagniert, Entlassungen stehen an. Als Schuldige an der Misere werden zwei Gruppen präsentiert: zum einen das Management der Autobauer, das den Trend zum Elektroantrieb »verschlafen« habe, und zum anderen subventionierte Anbieter aus China, das mit seinen »Überkapazitäten« den Weltmarkt überschwemme. Um die nationale Schlüsselindustrie zu verteidigen, stellt die Politik ihr Verkaufsprämien in Aussicht, Schutzzölle, billigere Energie und schwächere Umweltauflagen.

Bei den Maßnahmen handelt es sich jedoch nicht nur um eine Verteidigungsstrategie, sondern auch um eine Offensive. Denn die deutsche Industrie bleibt angewiesen auf die Märkte des Auslands, wo sie ihre Wettbewerber aus dem Feld schlagen will. »Die deutsche Industrie ist nicht mehr so überlegen, wie sie einmal war. Werden wir auf dem Weltmarkt verdrängt?«, titelt die Wochenzeitung »FAS« und stellt damit klar: Wer siegreich sein will, muss überlegen sein, um andere zu verdrängen.

Erfolgsverwöhnte Schlüsselbranche

Die Autoindustrie ist »eine unserer Schlüsselbranchen«, erklärt Finanzminister Christian Lindner. Sie trägt elf Prozent der gesamten Industrieproduktion, in Frankreich sind es bloß sieben Prozent, in Italien nur fünf. Die Branche ist innovativ – sie liefert rund 40 Prozent aller Patentanmeldungen und beschäftigt 800 000 Menschen – und sie ist erfolgsverwöhnt: Die deutschen Autobauer haben in den vergangenen Jahrzehnten Preis- und Innovationskriege geführt und gewonnen, ihre Produktivität mittels Automatisierung sowie Produktionsverlagerungen vervielfacht und sie haben Wettbewerber aufgekauft oder an den Rand gedrängt. Etwa ab der Jahrtausendwende erlebte die deutsche Autobranche sogar ein »goldenes Zeitalter«, so das unternehmensnahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) – und zwar ausgerechnet in einer Zeit, in der Autobauer in anderen Ländern litten. Damals begann die Verschiebung des Weltautomarktes gen Asien, vor allem nach China. »Anders als die Konkurrenz in Westeuropa konnte die Autoindustrie am Standort Deutschland davon profitieren«, erklärt das IW. Zwischen 2000 und 2017 wuchs ihre Produktion deutlich.

Grundlage des Erfolgs war das Geschäftsmodell der deutschen Hersteller, das auf zwei Säulen steht: Erstens verlagerte man die Produktion und Verkauf ins billigere Ausland, insbesondere nach China – heute stellt die Branche nur noch etwa 30 Prozent ihrer Autos auf dem deutschen Heimatmarkt her. Zweitens konzentrierte man sich auf das höherpreisige Premiumsegment, das deutsche Konzernmarken mit Marktanteilen zwischen 70 und 80 Prozent dominierten. Das sicherte ihnen riesige Profite und trug gleichzeitig zum Klimawandel bei: Trotz aller Emissionssenkungen pro Fahrzeug produziert der Pkw-Verkehr in Europa immer mehr Klimagase. Denn die Zahl der Autos steigt stetig und diese Autos werden im Durchschnitt immer schwerer.

Der Erfolg der deutschen und asiatischen Hersteller ging vor allem zu Lasten von Standorten in anderen Ländern Europas. Frankreich oder Italien verloren seit 2000 über die Hälfte ihrer Produktionsmenge. Zwar kam es in Deutschland ab 2018 ebenfalls zu Produktionsrückgängen. Es bleibe aber »festzuhalten, dass sich die Automobilindustrie am Standort Deutschland im Vergleich mit anderen traditionellen Automobilländern in Europa in den letzten 25 Jahren gut gehalten hat«, so das IW, »über den Zeitraum zwischen den Jahren 2000 und 2017 sogar extrem gut«.

Die goldene Zeit scheint jedoch zunächst beendet. Wo liegt das Problem? »Die größte Gefahr stellt nicht der Technologiewandel hin zum elektrifizierten Antriebsstrang dar«, erklärt das IW. Schwerer wiege die Bedrohung der zwei Säulen, auf denen das deutsche Geschäftsmodell ruhe: die Globalisierung und das Premiumsegment.

Zu viele Fabriken

Aktuell leiden die deutschen Autobauer an einer Absatzkrise, vor allem in Europa. Noch immer liegt der Autoabsatz dort drei Millionen Stück unter dem Stand von vor der Corona-Pandemie. Die Hersteller kämpfen um Anteile an einem schrumpfenden Kuchen bei Verbrennermodellen, gleichzeitig enttäuscht der Verkauf von E-Autos in Europa und den USA die Erwartungen. Als Wachstumsmarkt verbleibt nur China, wo die deutsche Autoindustrie immerhin einen Anteil am Gesamtabsatz von über 20 Prozent hat. Dort allerdings lässt ebenfalls das Wachstum nach, weswegen Mercedes jüngst eine Gewinnwarnung herausgegeben hat. Zudem konzentriert sich ausgerechnet in China das Wachstum auf Elektroautos, wo die Deutschen wegen der starken heimischen Konkurrenz nur einen Marktanteil von fünf Prozent haben.

»Es gibt keine Alternative zum globalen Absatz.«Institut der deutschen Wirtschaft

Vorerst vergangen sind also die Zeiten, in denen das Geschäft in China so gut lief, dass es die Probleme in anderen Märkten ausgeglichen hat. Das macht China zum zentralen Problem – und zur Lösung. Denn dort »entscheidet sich die Zukunft der deutschen Automobilindustrie«, so das IW.

Als katastrophal kann man deren Lage allerdings nicht bezeichnen. Trotz Absatzschwierigkeiten machte VW in den Jahren nach Corona noch jährliche Gewinne von 20 bis 25 Milliarden Euro, für 2023 schüttete es 4,5 Milliarden an Dividenden an die Aktionäre aus. Auf ähnlich hohe Gewinne kamen die Autobauer BMW und Mercedes. Letzterer kündigte diese Woche an, für weitere drei Milliarden Euro eigene Aktien zurückzukaufen, um den Aktionären eine Freude zu machen. Geld genug hat der Konzern. Seine Umsatzrendite liegt trotz jüngster Gewinnwarnung noch bei rund acht Prozent, bei BMW sind es noch sechs Prozent. Zentrales Problem der Branche sind eher die Überkapazitäten, die sich nicht nur in China finden. Die Fabriken der deutschen Autobauer könnten rund ein Drittel mehr produzieren, doch es findet sich keine Nachfrage. Damit, so das IW, »ist die Profitabilität diverser Standorte derzeit wohl nicht mehr gegeben« – Fabrikschließungen stehen an. Denn erhalten werden nur Arbeitsplätze, die für jene, die sie einrichten, rentabel sind. Daran zeigt sich, dass die Autobranche nicht »unser Wohlstand« (»Die Zeit«) ist, sondern das Kapital ihrer Eigentümer.

Elektroauto – von wegen »verschlafen«

Die deutschen Autobauer sind also nicht direkt in einer Krise. Allerdings suchen sie nach Wegen, ihren Absatz dauerhaft anzukurbeln, um ihre Kapazitäten auszulasten und Überkapazitäten bei den Konkurrenten zu schaffen. Der Vorwurf, sie hätten dabei den Trend zur E-Mobilität »verschlafen«, muss stark relativiert werden. Unter den zehn größten Herstellern von batterieelektrischen Fahrzeugen im Jahr 2023 finden sich vier chinesische Unternehmen und drei deutsche, merkt das IW an. Deutschland war der zweitgrößte Produzent von Elektrofahrzeugen mit knappem Vorsprung vor den USA – allerdings weit hinter China. Mit 15 Prozent liegt der Weltmarktanteil der deutschen Autoindustrie bei Elektrofahrzeugen nur leicht unter ihrem Anteil am Gesamtmarkt. Auch geforscht wird kräftig: Noch immer halte Deutschland die meisten internationalen Patentanmeldungen zum elektrifizierten Antriebsstrang, so das IW. »Daraus folgt, dass der gern gemachte Vorwurf die Autoindustrie am Standort Deutschland habe den Technologiewandel verschlafen, nicht durch die vorliegenden Daten gedeckt wird.«

Das Problem der deutschen Autobauer liegt daher eher in der Tatsache, dass die Elektrifizierung ihre Dominanz im profitablen Premiumsegment gefährdet. »Insbesondere in China werden die deutschen Hersteller von neuen Wettbewerbern mit Elektroautos unter Druck gesetzt, die auch auf das Premiumsegment abzielen.«

Die Lösung: In Führung bleiben

Angesichts weltweiter Überkapazitäten zielt die deutsche Autoindustrie darauf, ihre Modelle in ausländische Märkte zu drücken – sie hat keine andere Wahl. Die Pkw-Produktion am Standort Deutschland ist primär für den Export bestimmt, etwa drei Viertel ihrer Produktion ging 2023 ins Ausland. »Es gibt keine Alternative zum globalen Absatz, wenn man die Kapazitäten am Standort Deutschland erhalten will«, so das IW.

Die Autoindustrie macht sich also daran, ihre Kosten zu senken, die Beschäftigten produktiver zu machen und im profitablen Premiumsegment ihren Technologievorsprung gegenüber der Konkurrenz aufrechtzuerhalten oder neu zu erringen. Die Politik ihrerseits stellt neue Kaufprämien in Aussicht sowie die Absenkung der CO2-Emissionsgrenzen und Zölle auf E-Autos aus China. Der Option, den Klimaschutz in Europa durch preiswerte chinesische Autos zu fördern, wird eine Absage erteilt: »Es kann nicht sein, dass unsere Unternehmen untergehen, weil der Markt durch staatlich subventionierte Produkte geflutet wird«, so EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra. »Das würde am Ende die europäische Industrie umbringen und das werden wir nicht zulassen.«

Zudem eröffnet sich der Politik die Aufgabe, den Zugang zu anderen Märkten offen zu halten. Denn von dort soll die Zahlungsfähigkeit kommen, die die deutschen Fabriken profitabel hält. Dagegen wehren sich allerdings zunehmend Regierungen anderer Länder, die ihre eigenen Industrien schützen wollen. Besonders aktiv sind hier in jüngster Zeit Brasilien und die USA, aber auch China und Großbritannien. Unter den zehn aktivsten Staaten bei der Errichtung neuer Handelshemmnisse finden sich also die drei größten Einzelabnehmer von in Deutschland gefertigten Pkw. Die Sicherung des »freien Welthandels« bleibt damit absehbar eine zentrale Aufgabe der deutschen Außen-, Handels- und Geopolitik. Und bei der Lösung dieser Aufgabe bleibt sie angewiesen auf die Unterstützung durch Deutschlands militärische Schutzmacht, die inzwischen auch wieder Deutschlands größter Exportmarkt geworden ist: die USA, die ihren eigenen Kampf gegen China führen. Am Freitag beschloss Washington Zölle auf chinesische E-Autos von bis zu 100 Prozent.

Erstveröffentlicht im nd v. 28.9. 2024
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185586.industrie-deutsche-autobranche-weder-verschlafen-noch-ueberrannt.html?sstr=Stephan|Kaufmann

Wir danken für das Publikationsrecht

Sozialismus und Marktwirtschaft? Revisionismus oder Perspektive am Beispiel Kubas“ Veranstaltung

Veranstaltung 8.Juni 2024 19 Uhr

Interbüro Wedding, Genterstr. 60

Die Frage, ob Sozialismus und Markt miteinander funktionieren können oder einen zentralen Widerspruch darstellen, ist so alt, wie sozialistische Aufbauversuche selbst. Von der sowjetischen „Neuen Ökonomischen Politik (NÖP)“ über Mao-Chinas „Neue Demokratie“, dem Sozialismus-Modell Titos in Jugoslawien, den Wirtschaftsreformen Chrustschows in der Sowjetunion der 1960er, bis hin zum Konzept der „Sozialistischen Marktwirtschaft“ in Vietnam und China: Die Debatte wurde immer geführt, teilweise in Politik übersetzt und ist heute so aktuell wie nie. 

Auch das sozialistische Kuba experimentiert seit dem Kollaps des sozialistischen Ostblocks in den 1990er Jahren mit marktwirtschaftlichen Mechanismen. Während Kritiker:innen genau diese Experimente und das Einführen marktwirtschaftlicher Elemente in die sozialistische Wirtschaft als ursächlich für den Niedergang des Sozialismus in der Sowjetunion identifizieren, feiern Befürworter:innen die wirtschaftlichen Erfolge des Modells mit Verweis auf den Aufstieg Chinas zur Jahrhundertwende.

Wir wollen an diesem Abend mit Befürworter:innen und Gegner:innen des Konzepts „Sozialistische Marktwirtschaft“ ins Gespräch kommen und verschiedene Problemstellungen, die sich aus dem Konzept ergeben, diskutieren. Auf dem Podium diskutieren die Autoren und Aktivisten Marcel Kunzmann und Lorenz Küstner.

Marcel Kunzmann, geboren 1992, hat von 2012 bis 2016 Geschichte und Politik in Jena studiert und absolvierte davon ein Jahr an der Universität von Havanna, wo er Kurse zu marxistischer Philosophie, sozialistischer Volkswirt­schaftslehre und Geschichte besuchte.

Lorenz Küstner, Mitglied der Kommunistischen Organisation (KO), hat 2015 zwei Semester in Havanna marxistische Theorie und Planwirtschaft studiert. Zur Zeit arbeitet er an einem Buch über die Geschichte Kubas mit Fokus auf

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