Bild: Times of Gaza
Die humanitäre Situation in Gaza ist katastrophal, der Tod allgegenwärtig. Wie ergeht es den medico-Partner:innen?
Von Riad Othman
Im Gegensatz zu den eingeschlossenen Menschen gelangen Bilder noch aus Gaza heraus, trotz tagelanger Signal-Ausfälle. Es sind Bilder des Grauens. Inzwischen muss von über 30.000 Toten ausgegangen werden, wenn wir zurückhaltend Zahlen der unter Trümmern begrabenen Menschen einschließen. Dazu mehr als 60.000 Verletzte und eine nie dagewesene, absichtliche Zerstörung der Lebensgrundlagen von rund 2 Millionen Menschen. 85 Prozent der Bevölkerung sind vertrieben. Wir haben es mit Verbrechen zu tun, die sich mit der Selbstverteidigung Israels längst nicht mehr rechtfertigen lassen.
Um eine Einschätzung möglicher „Kollateralschäden“ durch ihre Angriffsplanung habe sich die Armee in vielen Fällen nicht gekümmert, berichtet das hebräischsprachige Online-Magazins Sicha Mekomit (dt.: Ortsgespräch). Es gebe viele Fälle grober Fahrlässigkeit, wenn nicht gar absichtlicher Angriffe auf zivile Ziele – ohne dass an diesen Orten bewaffnete palästinensische Gruppen präsent gewesen wären.
Das Bild des Leidens in Gaza vervollständigen Zahlen, die alle paar Tage von der Weltgesundheitsorganisation oder Institutionen mit sperrigen Namen wie „Büro der Vereinten Nationen für humanitäre Angelegenheiten“ (OCHA) bekanntgegeben werden. Was aber sagen uns Zahlen und Statistiken? Was bedeuten Begriffe wie Vertreibung, Zerstörung, Hunger, fehlender Zugang zu sauberem Wasser? Wie können wir uns die Menschen hinter den Zahlen und Begriffen vorstellen, die ihr Leben und Sterben beschreiben?
Ein sehendes Auge in Gaza
Mohammed Zaanoun ist Fotograf und ist seit Jahren Teil des progressiven Foto-Kollektivs Active Stills. Darin arbeiten vor allem Palästinenser:innen und jüdische Israelis zusammen, dokumentieren die Besatzung, den Landraub im Westjordanland, die Abriegelung Gazas und die Brutalität israelischer Sicherheitskräfte in Ost-Jerusalem. Aber auch die Protestbewegung gegen den Justizcoup in Israel, Proteste der Schwarzen jüdischen Minderheit gegen Polizeigewalt, Kämpfe um die Rechte von Geflüchteten.
Im Gazastreifen war Mohammed für das Kollektiv viele Jahre ihr Auge, schon während der wochenlangen Massenproteste des „Großen Marschs der Rückkehr“ 2018. Auch medico hat immer wieder Bilder von ihm genutzt. Inzwischen ist er zum zweiten Mal seit Kriegsbeginn am 7. Oktober 2023 vertrieben worden, wie er Mitte Januar in einem Artikel für das israelische Journal +972 schrieb. Mit seiner Frau und ihren vier Kindern ist Mohammed gezwungen, in Rafah auszuharren, nahe der ägyptischen Grenze, eingekeilt zwischen israelischen Truppen im Osten und dem Mittelmeer im Westen. So wie inzwischen eine Million Palästinenser:innen mit ihnen.
„Ich habe Mühe, meine Kinder mit Nahrung und Wasser zu versorgen. Mein 2-jähriger Sohn Kenan verlangt ständig nach Milch, die ich ihm nicht geben kann. Sie sind traumatisiert und reagieren sehr heftig auf das Geräusch von Bomben und Explosionen. Es ist oft schwierig, zu arbeiten, da die Kinder mir nicht erlauben, aus dem Haus zu gehen. Und da sich die israelischen Streitkräfte Berichten zufolge darauf vorbereiten, den Philadelphi-Korridor an der ägyptischen Grenze wieder zu besetzen, könnten wir bald gezwungen sein, erneut zu fliehen. Ich weiß nicht, wohin wir noch gehen könnten.“
Zweimal, so schreibt Zaanoun, hat er seine Kinder nach israelischen Angriffen schon aus den Trümmern retten müssen. Seine Existenz, wie Gaza insgesamt, liegt in Trümmern. Doch immerhin leben Mohammed, seine Frau und ihre Kinder noch.
Kein sicherer Ort
Unseren Partner:innen in Gaza ergeht es nicht besser. Majeda Al-Saqqa von der feministischen Culture & Free Thought Association (CFTA) aus Khan Younis war gezwungen, ihre Familie weiter nach Süden zu bringen. Sicher ist es auch in Rafah oder im Flüchtlingslager Al-Maghazi nicht, aber bis vor kurzem galt es zumindest als etwas weniger unsicher. Hierher geflohen sind auch die Hunderte Menschen, die zuvor bei Majeda, bei Kolleg:innen und in den Zentren der CFTA Zuflucht gesucht hatten. Ihre Situation ist verzweifelt, etwas essen können die meisten von ihnen nur alle zwei Tage, manche seltener. CFTA versucht, sie auch an den neuen Zufluchtsorten weiter zu unterstützen, aber das ist zunehmend schwierig geworden.
Hunderttausenden Menschen drohte schon im Dezember eine Hungersnot. Für große Teile Gazas gelten die höchste und zweithöchste Kategorie im Warnsystem für Ernährungsunsicherheit der Welternährungsorganisation. Unterdessen berichtet Majeda Al-Saqqa, dass sie sich einem operativen Eingriff am Bein unterziehen musste – immerhin nicht in Folge einer Kriegsverletzung, aber dennoch auf dem Boden eines Krankenhauses und ohne Betäubung.
Entführung und Folter
Glück im größten Unglück hatte auch Walid Al-Khalili, der als Fahrer einer mobilen Klinik unserer Partnerorganisation PMRS arbeitet. Im November ist der Vater von drei Kindern im Norden Gazas verschwunden, lange wussten die Kolleg:innen bei PMRS nicht, ob er noch am Leben ist. Erst Wochen später tauchte Walid wieder auf. Laut seinem Überlebensbericht, den er gegenüber dem Palestinian Center for Human Rights in Gaza gab, wurde er während seiner Arbeit und als medizinischer Helfer identifizierbar von der israelischen Armee festgenommen und nach Israel gebracht.
Walid berichtet von schweren Misshandlungen, von Demütigungen und von Folter. Er beschreibt, wie ein Apotheker von einem israelischen Scharfschützen ermordet wurde und wie er zum Zeugen des Todes mehrerer Gefangener in Israel wurde. Gefesselt und mit verbundenen Augen wurde Walid nach 41 Tagen zusammen mit etwa 30 anderen Palästinensern zum Güterübergang nach Gaza in Kerem Shalom gebracht. Am 23. Dezember fand Walid in Rafah zurück zu seiner Familie und seinen Kolleg:innen von PMRS.
Fragliche Zukunft
Zwischenzeitlich haben uns die Mitarbeiter:innen von PMRS darüber informiert, dass zwei Stockwerke des Zentrums zur Behandlung nicht übertragbarer Krankheiten in Gaza-Stadt, das vor allem mit deutschen Steuergeldern aufgebaut worden ist, weitgehend zerstört wurde. Zerstört ist auch das Labor, das PMRS mit medico-Unterstützung und Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung über mehrere Jahre aufgebaut hatte und das einzigartige Diagnosekapazitäten in Gaza bereithielt. Wichtig war das PMRS-Zentrum insbesondere, weil der medizinische Sektor durch die Abriegelung Gazas stark geschwächt war und andere Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten außerhalb Gazas seit bald zwei Jahrzehnten nicht frei zugänglich sind.
Ob PMRS und medico ein solches Zentrum erneut schaffen können, ist derzeit völlig ungewiss. Damit verbunden ist die für Hunderttausende Menschen in Gaza viel drängendere Frage, ob Israel ihnen überhaupt jemals die Rückkehr in den Norden des Gazastreifens gestatten wird. Die Menschen in Gaza haben ein Recht darauf. Doch nur wenn dieses Recht gegenüber Israel durchgesetzt wird, lässt sich überhaupt über eine Zukunft für Gaza sprechen. Doch für eine echte Zukunft braucht es mehr als Wiederaufbau. Zentral ist die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung.
Entnommemn aus dem medico-newsletter:
https://www.medico.de/blog/kein-ort-nirgends-19363
Wir danken für das Publikationsrecht.