Lützerath darf nicht für dreckige Braunkohle plattgemacht werden!

Es ist immer das gleiche „grüne“ Narrativ. Um den Kohleausstieg auf was eigentlich – auf einen Sankt Nimmerleinstag- vorzuziehen? Dazu müsse erstmal – wie schon beim LNG und Fracking Gas behauptet – mehr Kohle gefördert und ein Ort wie Lützerath „leider“ plattgemacht werden. Überzeugend wirkt das immer weniger.

Wer es mit dem Kampf gegen die Klimakatastrophe ernst meint, muss Schluss machen hier und jetzt mit jedem Gramm mehr CO2, egal ob Gas, Öl oder Kohle. Die Pakistani, die in den Fluten ertrinken oder die Menschen in Afrika, die in endlosen Dürreperioden den Hungertod sterben, können nicht warten. Auch hierzulande werden die Schäden immer drastischer.

Die geplante Räumung ist diesmal Teil der direkten Einigung der grün geführten Wirtschaftsministerien im Bund und in Nordrhein-Westfalen mit dem Energiekonzern RWE Anfang Oktober diesen Jahres.

Die Gangart wird härter. Der schon unverhältnismäßigen Kriminalisierung und strafrechtlichen Bedrohung der Aktiven der „letzten Generation“ folgt nun auch der Versuch, den aktiven Widerstand in Lützerath zu kriminalisieren. Den Menschen in Lützerath wurde kurzer Hand durch RWE der Strom gekappt. Ein letztlich illegaler Akt des Konzerns, der auf die Störung der grundlegenden Überlebensbedingungen vor Ort gerade auch unter winterlichen Wetterverhältnissen abzielt, begründet damit, dass sich die Protestler ja selbst illegal auf RWE Eigentum aufhalten würden. Darum geht es denn auch, um Schutz bestehenden Eigentums, um den Schutz des von RWE in fossile Energie investierten Altkapitals und dem Anspruch, Profit daraus zu ziehen. Keineswegs geht es darum, einen für die Allgemeinheit akuten Energienotstand zu beheben. Pharisäerhaft ausserdem, die Zerstörung der Strominfrastruktur in der Ukraine als Menschenrechtsverletzung anzuklagen, gleiches aber im Inland selbst zu betreiben.

Es wird bundesweit zum Protest und Widerstand aufgerufen. Mit dem Beginn der Räumung wird für den Zeitraum 10. bis 15. Januar gerechnet. Mehr Details, auch zu dezentralen bundesweiten Veranstaltungen erfahrt ihr hier: Lützerath lebt !

Lützerath muss bleiben! Alle Versuche zur Kriminalisierung des aktiven Widerstands gegen die aktuelle verlogene Klimapolitik müssen zurückgewiesen werden.

Wir schliessen uns dem Protest an und rufen alle dazu auf, sich zu beteiligen ! Verbreitet diesen Artikel zum Beispiel oder den hier publizierten offenen Brief des Umweltaktivisten Michael Zobel, Naturführer und Waldpädagoge, der dem ganzen Wahnsinn seinen Spiegel vorhält:

Offener Brief an Innenminister H. Reul, Wirtschaftsministerin M. Neubaur, Ministerpräsident H. Wüst, Landrat S. Pusch, Polizeipräsident D. Weinspach, Bischof H. Dieser, Bürgermeister S. Muckel, an alle rund um Lützerath eingeplanten Polizistinnen und Polizisten…

Guten Tag zusammen,

Ende 2022, in wenigen Tagen beginnt das neue Jahr. Gute Wünsche? Das wird besonders zum Start 2023 schwierig. Beginnen wir tatsächlich mit der Räumung und endgültigen Zerstörung von Lützerath? Haben wir nichts gelernt, begehen wir die gleichen Fehler immer wieder?

Die Maschinerie scheint zu rollen, unaufhörlich.

Stimmen überhaupt die veröffentlichten Gründe, die die kommende Räumung legitimieren sollen? Es ist alles unausweichlich? Lützerath muss in wenigen Tagen geräumt und zerstört werden, um die Energieversorgung unseres Landes in diesem Winter zu sichern?

So ist es angekündigt, alle Verantwortlichen haben sich auf diese Erzählung geeinigt.

Ich sage, alle vermeintlichen Fakten beruhen auf vorgeschobenen Gründen, auf Vorwänden, genau wie 2018, als der Hambacher Wald geräumt wurde. Damals war es der angeblich fehlende Brandschutz (inzwischen vom Gericht als Vorwand geoutet), jetzt sind es die Energiekrise, der Krieg und die Versorgungssicherheit.

Obwohl diverse Studien, auch im Namen der Bundesregierung, das Gegenteil beweisen, auch in Zeiten des Krieges und des zusätzlichen Kohlebedarfs wird die Kohle unter Lützerath eben nicht gebraucht. Alle jetzt herangezogenen Gutachten zur angeblich unvermeidbaren Inanspruchnahme von Lützerath beruhen ausschließlich auf Zahlen und Berechnungen von RWE. Erinnert sich noch wer? In 2018 hieß es, ohne die sofortige Rodung des Hambacher Waldes wäre die Stromversorgung NRWs gefährdet…   sind bei Ihnen die Lampen ausgegangen?

Stattdessen ist die Räumungsmaschinerie in vollem Gang, unter anderem

– um die besten landwirtschaftlichen Böden NRWs zu vernichten

– um dutzende von geschützten Tieren aus den Winterquartieren zu vertreiben

– um viele jahrhundertealte Bäume zu fällen

– um denkmalgeschützte Gebäude und Höfe und Kulturdenkmale abzureissen (erinnert sich wer an den Aufschrei bei Kartoffelpürree auf Glascheiben vor Gemälden…?)

– um unüberschaubare Kosten zu generieren, die Räumung im Hambacher Wald hat zwischen 30 und 50 Millionen Euro gekostet…

– um schwerste Verletzungen und Traumatisierungen von Menschen auf beiden Seiten zu riskieren, wieso sind eigentlich die Politiker*innen noch im Amt, die die rechtswidrige Räumung 2018 zu verantworten haben, in deren Verlauf der junge Blogger Steffen Meyn starb?

– um einzig und allein die wirtschaftlichen Interessen eines Konzerns (RWE) zu sichern, der selber sagt „Ein Umplanen oder gar Verkleinern des Tagebaus, um Lützerath zu schonen, ist nur unter betriebswirtschaftlichen Einbußen möglich.“

– um die völkerrechtlich verbindliche Einhaltung des 1,5 Grad-Zieles vollkommen unmöglich zu machen

– um Fakten zu schaffen, obwohl entgegen aller Behauptungen eben nicht alles rechtlich geklärt ist, die Eibenkapelle in Lützerath ist im Besitz der katholischen Kirche, eine Wiese gehört nicht RWE, weitere Prozesse sind anhängig

– um ein zweifelhaftes Rechtsverständnis zu zementieren, ist es ein Zufall, dass Landrat Pusche in seiner Neujahrsansprache die Aktivisten in Lützerath und die Reichsbürger in einem Atemzug nennt?

– um das Vertrauen vieler vor Allem junger Menschen in die Glaubwürdigkeit von Politik vollends zu erschüttern. Es ist noch nicht lange her, da haben viele der jetzt handelnden Politiker*innen Wahlkampf mit dem Erhalt von Lützerath gemacht. Frei nach dem Motto: Was schert mich das Geschwätz von gestern…

Werte Politiker*innen, werte Entscheidungsträger*innen, werte Polizist*innen, ich und viele andere Menschen appellieren an Sie:

Stoppen Sie die Räumungsvorbereitungen in und um Lützerath!

Sorgen Sie für eine dauerhafte Befriedung im Rheinischen Revier.

Damit die 1,5 Grad-Grenze eingehalten wird, muss die Kohle unter Lützerath im Boden bleiben! Die Landesregierung muss mit RWE ein Räumungsmoratorium für Lützerath vereinbaren. Statt auf eine unnötige Eskalation der Situation unter Gefährdung von Menschenleben zu setzen, sollten Gespräche für eine friedliche Lösung vereinbart werden. 

Die Braunkohle unter Lützerath wird auch in der aktuellen Krisensituation nicht benötigt. Versorgungssicherheit braucht Investitionen in erneuerbare Energien. Für 100 Prozent Sonne und Wind! Die Zukunft ist Erneuerbar.

RWE versucht am Tagebau Garzweiler Fakten zu schaffen. Doch Deutschland und die Welt können sich die Klimaschäden durch die rheinische Braunkohle nicht länger leisten.

Aus allen diesen Gründen appellieren wir an Sie: Sorgen Sie bitte dafür, dass die Vorbereitungen zur Räumung von Lütezrath umgehend eingestellt werden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns einen gesegneten Jahreswechsel und ein räumungsfreies 2023.

Mit freundlichen Grüßen,

MIchael Zobel aus Aachen

Michael Zobel

Naturführer und Waldpädagoge

www.naturfuehrung.com

info@zobel-natur.de

0171-8508321

Gewerkschaftliche Perspektiven, wissenschaftliche Expertisen

Zur sozial-ökologischen Transformation

Von Stephan Krull

Seit der UN-Klimakonferenz 1992 haben die CO2-Emissionen stark zugenommen. Warum ist das so – trotz Klimakonferenzen und globaler Proteste? Und wie können wir die Katastrophe abbremsen?

Für die globale Klimabewegung ist klar, dass ein Systemwechsel dringender wird.1 Wenn Kohle und Öl wegen ausgetrockneter Flüsse nicht mehr transportiert werden können, wenn Strompreise explodieren, weil die Kühlung der AKWs wegen zu wenig Wasser in französi­schen Flüssen unmöglich wird, ist das ein deutliches Zeichen der ökologischen, sozialen und ökonomischen Krise des Kapitalismus. Die Klimakatastrophe zeigt uns die Grenzen dieser Art zu wirtschaften. Wir sehen zugleich an der Renaissance von Atomstrom, der unterlasse­nen Energie- und Verkehrswende, der fehlenden Umverteilung des Reichtums, dass der groß- und kleinbürgerliche Widerstand gegen den Systemwechsel auf Hochtouren läuft.

Die Ursachen für die Klimakatastrophe werden oft nicht im kapitalistischen System gese­hen, sondern diffus »denen da oben« inklusive fremdenfeindlicher Vorurteile und antisemiti­scher Begründungsansätze vorgeworfen. Jedoch ist die Aufmerksamkeit auf die wichtige Fra­ge zu lenken: Woher kommt die Macht, die Dinge wirklich zu ändern? Dazu müssen wir be­schreiben, wie die sozial-ökologische Transformation konkret aussehen könnte.

Gewerkschaften, Arbeitgeber und Staat

In den Gewerkschaften gibt es unterschied­liche Interessen und Haltungen zwischen ­exportori­entierten Industriegewerkschaften und binnenmarktorientierten Dienstleistungsgewerkschaf­ten. Es gibt die Strömungen der Arbeiter:innenbewegung, die Dominanz von Betriebsräten durch das Betriebsverfassungsgesetz, durch die Verbetrieblichung von Tarifpolitik, durch Dif­ferenzierung der Arbeits- und Entgeltbedingen ­zwischen den Branchen und innerhalb der Branchen. Dennoch müssen Gewerkschaften mit ihrem gesellschaftsverändernden Anspruch den Übergang von Wachstumszwang und Maximalprofit in ein sozial und ökologisch nach­haltiges Entwicklungsmodell forcieren.2 Das kollidiert immer mit der Macht des Kapitals und häufig mit kurzfristigen Interessen der Mitglieder der Gewerkschaft.

Hans-Jürgen Urban aus der linken Gewerkschaftsströmung, Mitglied im geschäftsführen­den Vorstand der IG Metall, sagt dazu u.a.: »Deswegen sollten sich die Gewerkschaften über die Wahrung von Beschäftigungs-, Einkommens- und Sozialinteressen ihrer Mitglieder hinaus an der Konzipierung, Legitimierung und Realisierung des neuen Entwicklungsmodells beteili­gen. Das erfordert eine entsprechende Strategiebildung auf der Grundlage eines erweiterten politischen Mandats.«3

Es geht um den Widerspruch zwischen flüchtigen Gegenwartsinteressen und langfristigen Zukunftsinteressen der Menschen. Der Widerspruch spiegelt sich in Gewerkschaftsrollen in der Autoindustrie und der Energiewirtschaft, den Kernbereichen gewerkschaftlicher Organisa­tion. In der Regierungskommission »Nationale Plattform ­Mobilität« und in der Kohle- und Gaskommission wird der Widerspruch sichtbar: für die Einhaltung des Pariser Klimaabkom­mens und für den Erhalt möglichst aller Arbeitsplätze in der sich kapitalistisch wandelnden Industrie. Das scheint ein Grund für zurückhaltende Forderungen in der Tarifrunde, die den­noch auf erbitterten Widerstand der Arbeitgeber stoßen. Tarifverträge können die sozialen Verwerfungen nicht allein auflösen, dazu braucht es gewerkschaftliche Mobilisierung über Branchengrenzen hinweg. So ließe sich der rechten Mobilisierung von Wut, Hass und Aus­grenzung etwas Demokratisches und Internationalistisches entgegensetzen. Die Zusammen­führung von Friedens-, Umwelt-, Klima- und Sozialbewegung ist eine Hürde, die noch zu nehmen ist. Das Bündnis von Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbänden sowie der evan­gelischen Kirche zur sozial-ökologischen Verkehrswende ist noch nicht praktisch geworden.4

Warum ist eine ähnliche Debatte vor gut 30 Jahren versandet? Im Magazin für die Ange­stellten (12/1990) der IG Metall wird über den Kongress mit dem Naturschutzring und das Programm »Auto, Umwelt und Verkehr – Umsteuern, bevor es zu spät ist« berichtet. Darin der damalige Vorsitzende Franz Steinkühler: »Die IG Metall hat nicht die 35-Stunden-Woche vereinbart, damit die Mitglieder 64 Stunden jährlich im Stau stehen. Die Schäden und Belas­tungen des Autoverkehrs für Mensch und Natur sind ­erheblich zu hoch.« Im Programm sind Vorschläge, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben: Tempolimit, Verringerung des Ausstoßes von Treibhausgasen, Demokratie in der Wirtschaft.5 Mit Ende der Systemkonkur­renz und der Eröffnung riesiger Märkte in Osteuropa, Indien und China, mit dem Erfolg des Neoliberalismus, mit der absoluten Marktorientierung geriet dieses Programm in Vergessen­heit – offensichtlich war es nicht tief in der Mitgliedschaft verankert. Nun schlägt der DGB vor, dem Betriebsrat bei »Maßnahmen, die geeignet sind, dem Umwelt- und Klimaschutz zu dienen«, ein Mitbestimmungsrecht einzuräumen.6 Es ­bedarf vor allem der Ermächtigung der Beschäftigten selbst, um den Widerspruch zwischen Profitinteressen und sozialen und ökolo­gischen Menschheitsinteressen zu lösen, um Druck aus den Betrieben aufzubauen, die Klima­bewegung zu unterstützen und so die soziale und ökologische Verkehrswende zu schaffen. Ein positives Beispiel ist die Zusammenarbeit von Fridays for Future und ver.di zum Tarifver­trag Nahverkehr.7

Realistisch und nachvollziehbar muss beschrieben werden, wie die sozial-ökologische Transformation umgesetzt werden kann, wie gutes Leben und gute Arbeit aussehen können. Die Mahnwache auf dem Wolfsburger Acker gegen die dort geplante Fabrik für Luxusautos beantwortet nicht die Frage, was aus der alten Fabrik und den 18.000 Beschäftigten in der Produktion wird, wenn Verbrennerautos in einigen Jahren auslaufen. Der Staat könnte mit sei­nem Einfluss bei VW die Subvention für den Bau von Autos einstellen und eine Fertigung für Schienenfahrzeuge ausloben. Dafür können die 40 Jahre alten Hallen 53 bis 55 und ihre Um­gebung demontiert und stattdessen Anlagen für den anderen Produktionszweck aufgebaut werden. Das kostet sicher nicht mehr als die für das VW-Projekt Trinity geplanten Mil­liar­den Euro. Für die Beschäftigten wäre das eine gute Perspektive im Fahrzeugbau – unter ähnlichen Arbeits- und Tarifbedingungen wie gegenwärtig.

Im Gesprächskreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Zukunft von Auto, Umwelt und Mo­bilität8 wurde die Idee entwickelt, das Verkehrswendebündnis durch regionale Transformati­onsräte unter Einbeziehung von Wissenschaftler:innen, Beschäftigten und ­ihren Interessenvertretungen, Umwelt-, Sozial- und Verkehrsverbänden mit Leben zu erfüllen – als Ergänzung zu den regionalen Transformationsnetzwerken aus dem »Zukunftsfond Auto«, in denen Industrie, kommunale Vertretungen und Gewerkschaften die Transformation zu Elek­troautos forcieren.9

Die Autoindustrie ist die exportstarke Schlüsselindustrie – mit ca. 800.000 Beschäftigten inklusive der Zulieferbetriebe, einem Umsatz von 500 Milliarden und einem Gewinn von 30 Milliarden Euro pro Jahr ­allein bei den »big three« (VW, Mercedes, BMW). Die Dominanz dieser Industrie ist historisch gewachsen, vorangetrieben durch die Nazis als Teil der Volks­gemeinschaftsideologie (Autobahnbau, »Volkswagen«) und als nachholende Modernisierung. Der gegenwärtige Hype um Elektroantriebe ist »Greenwashing«. Mit der Produktion von im­mer größeren und leistungsstärkeren Oberklasse- und Luxusautos werden die Treibhausgas­emissionen erhöht, die harte Konkurrenz ­einerseits und technische Kooperation andererseits (wie VW und Ford), der Verkauf von Opel an PSA sind Schritte in Richtung Oligopole: Such­bewegungen, um am Wachstums- und Profitmodell unter veränderten Bedingungen festzuhal­ten.

»Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet«, – so beschreibt Marx im Kommunis­tischen Manifest den Staat als »ideellen Gesamtkapitalisten«. Was bedeutet das in der Krise bei rapide sinken­den Absätzen, in der Klimakatastrophe? Die Entwicklung der ­Autoindustrie wird massiv poli­tisch und finanziell vom Staat unterstützt und voran­getrieben. Man kann von einem Autostaat sprechen, wenn die direkten und indirekten Subventionen (ca. 30 Milliarden Euro pro Jahr) und die Regierungskommissionen betrachtet werden. Sichtbar wird der Autostaat an Wech­seln von der Autoindustrie in die Politik und umgekehrt (Drehtüreffekt), an den Gesprächen während der Koalitionsverhandlungen von Christian Lindner mit dem VW-Boss Oliver Blu­me, an den Reaktionen der Polizei (Präventivhaft und 30 Tage Knast ohne Urteil) auf die Kli­maaktivist:innen in München.10

Der Autostaat kümmert sich um die globale Sicherung knapper Ressourcen und deren Lo­gistik.11 Die Verteilungskämpfe um Ressourcen werden mit viel Geld und Gewalt ausgetra­gen. Im Zuge der weiteren Verknappung, die auch den Binnenmarkt betrifft (z.B. Energie­mangel), ist die Verteilung offen: Wer bekommt was und wer entscheidet darüber auf welcher Grundlage? Das schreit nach gesellschaftlicher Verfügung und demokratischer Planung, es korrespondiert mit der Satzung der IG Metall, in deren Paragraf 2 es heißt: »Erringung und Sicherung des Mitbestimmungsrechtes der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Betrieb und Unternehmen und im gesamtwirtschaftlichen Bereich durch Errichtung von Wirtschafts- und Sozialräten; Überführung von Schlüsselindu­strien und anderen markt- und wirtschaftsbe­herrschenden Unternehmungen in Gemeineigentum.«

Daraus ergeben sich erste Erkenntnisse, an denen weitergearbeitet werden muss:

  • Ohne sozial-ökologische Transformation gibt es keine Arbeitsplatzsicherung und die Gewerkschaften – und damit die gesamte linke Bewegung – werden verlieren.
  • Die Autokonzerne (VW, Daimler, BMW) erfüllen die Norm des Grundgesetzes nicht. Die Grundgesetzartikel 14 und 15 (Enteignung zum Zwecke der Vergesellschaftung) sind zur Anwendung zu bringen.
  • Es bedarf umfangreicher politischer und gewerkschaftlicher Bildung, um diese Prozes­se zu verstehen und aktiv zu begleiten.

Wissenschaftliche Expertise ist gefragt

Gewerkschaften, soziale Bewegungen und die Linke im weitesten Sinne brauchen solidari­sche Kritik und Anregungen von außen: Die sozial-ökologische Transformation und die Ver­kehrswende sind hochkomplexe Projekte, die geplant, vorbereitet und wissenschaftlich be­gleitet werden müssen. Auto­industrie, Bahn- und Busindustrie, Infrastrukturbau, unterschied­liche Zulieferer, unterschiedliche Eigentümer und Eigentumsformen (privat, staatlich, Kom­munen, Länder, Verkehrsverbünde) sowie Millionen Beschäftigte sind betroffen. Dringend nötig sind interdisziplinäre Kompetenzgruppen für regionale Struktur- und Industriepolitik, für die Beratung von und mit Transformationsräten.

Technisch geht es um Umrüstung der Produktion und der Fabriken – weg von zwei Tonnen Stahl und monströser Elektronik auf vier Rädern zwecks Transport einer Person von A nach B – hin zu bedarfsorientiertem öffentlichem Personen- und Güterverkehr auf Schienen, Wasser­wegen und Straßen. Kleine smarte Busse für ländliche Regionen, Streetscooter für die »letzte Meile«, Cargo-Bahnen für innerstädtische Transporte, massiver Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs und die Vernetzung all dessen. Dazu wird der Rat von Ingenieur:innen be­nötigt.

Ökologisch geht es um die Verantwortung als Industrieland. Unser Land ist für zwei Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich bei nur einem Prozent der Weltbevölke­rung. Der Ausstoß von Treib­hausgasen muss schnell halbiert werden. Es geht um das Leben und Überleben von Millionen Menschen, um Gerechtigkeit, Gesundheit und Ernährungssi­cherheit. Neben Klima- und Agrarexpert:innen sind Techni­ker:innen, Stadt- und Landschafts­planer:innen gefragt.

Ökonomisch geht es um die Finanzierung der Verkehrswende. Es geht um die Frage, wie un­sere Wirtschaft nachhaltig funktioniert, ohne den Zwang Maximalprofite zu erwirtschaften und in wenigen Händen zu konzentrieren. Wir brauchen eine neue Ökonomie jenseits der neo­liberalen Betriebs- und Volkswirtschaftslehre.

Ethisch geht es um die Frage, ob wir so leben, arbeiten, produzieren und konsumieren wol­len. Sind gutes Leben in intakten Gemeinschaften und Zeitwohlstand für alle nicht erstrebens­werter als Arbeiten ohne Ende und Konsumzwang? Nicht nur Philo­soph:innen sind zur Suche nach Antworten eingeladen.

Juristisch geht es um die Eigentums- und Verfügungsfrage. Die Eigentümer der Autokonzer­ne leugnen ihre Verantwortung für die Klimakatastrophe, verhöhnen die Klimabewegung und blockieren die Verkehrswende. Ist das nicht ein Fall für die Anwendung der Artikel 14/15 un­seres Grundgesetzes? Müssen nicht zur Durchsetzung des Allgemeinwohls die Schlüsselin­dustrien zum Zwecke der Vergesellschaftung enteignet werden? Jurist:innen verschiedener Rechtsgebiete werden als Berater:innen benötigt.

Politisch geht es um das Primat der Politik gegenüber der Industrie. Es geht um die Rolle des Staates in dieser Transformation, um eine demokratische Industriepolitik:

Wo öffentliche Gelder fließen, müssen Wirtschaftsdemokratie, gute Arbeit und öffent­licher Einfluss gesichert werden. Politike­r:in­nen aller Ebenen und ihre wissenschaftlichen Berater:innen müssen ihre Möglichkeiten erweitern und die Transformationsräte unterstützen.

Sozial geht es schließlich und zusammenfassend um das Sozialstaatsgebot und die Verant­wortung für künftige Generationen (Ar­tikel 20 GG), um gute Arbeit und gutes Leben für alle. Es geht um die Zurückweisung der Zumutungen des radikalen Marktes. Dafür stehen Gewerk­schaften, die dazu die Expertise von Wissenschaftler:innen und solidarische Kritik von Um­welt-, Klima- und Sozialbewegungen benötigen.

Die Bedarfe im öffentlichen Verkehr sind riesig. Es werden Straßenbahnen, Busse und Züge benötigt – weit mehr, als Kapazitäten vorhanden sind. So, wie Arbeitsplätze in der Autoindus­trie abgebaut werden, können neue und gute Arbeitsplätze in der Schienenfahrzeugindustrie und in der Busproduktion aufgebaut werden.12 Gelegentlich ist als Ausrede zu hören, der Aus­bau des ÖPNV dauere zu lange und komme zu spät. Es ist ein Dilemma, dass der motorisierte Individual-Verkehr (MIV) nicht reduziert werden kann, wenn der Öffentliche Verkehr (ÖV) nicht ausgebaut wird. Nun muss begonnen werden, umzusteuern ‒ der Prozess wird ohnehin mehr als zehn Jahre benötigen! Der Dreiklang der Verkehrswende lautet: vermeiden, verla­gern und verbessern. Wir gewinnen, wenn wir jetzt die Verkehrswende und die damit verän­derte Produktionsstruktur vorantreiben. Gewerkschaften haben die Chance, die Verkehrs- und Produktionswende mitzugestalten – oder sich an die alte Industrie zu binden und zu verlieren. Anders als bei dem Ausstieg aus der Kohleförderung und Kohleverstromung geht es bei der Verkehrswende »nur« um einen Umbau. Das ist nicht weniger anspruchsvoll, muss bei guter gesellschaftlicher Planung jedoch nicht so angstbesessen sein wie in den Kohlerevieren.

* Stephan Krull war Mitglied des Betriebsrates bei VW und des Vorstandes der IG Metall in Wolfsburg, jetzt koordiniert er den Gesprächskreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung »Zukunft Auto Umwelt Mobilität«. https://stephankrull.info/

1 Siehe die jüngste Veröffentlichung von Greta Thunberg: Klimabuch, Fischer-Verlag, Oktober 2022.

2 Siehe unter anderem § 2 der Satzung der IG Metall.

3 https://hans-juergen-urban.de/

4 Breites Bündnis fordert sozial- und klimaverträgliche Mobilitätswende. https://www.sovd.de/aktuelles/meldung/breites-buendnis-fordert-sozial-und-klimavertraegliche-mobilitaetswende.

5 Auto, Umwelt, Verkehr – Umsteuern, bevor es zu spät ist. Bund-Verlag, Köln 1992

6 Betriebliche Mitbestimmung modernisieren. Entwurf für ein neues Betriebsverfassungsgesetz. https://www.dgb.de/themen/++co++21a2fa9a-b4bd-11ec-9da2-001a4a160123

7 Autor*innenkollektiv CLIMATE.LABOUR.TURN: «Mein Pronomen ist Busfahrerin». Die gemeinsame Kampagne von FFF und Ver.di zur Tarifrunde im öffentlichen Nahverkehr 2020. Download unter https://www.rosalux.de/publikation/id/44712/mein-pronomen-ist-busfahrerin

8 https://www.rosalux.de/stiftung/gespraechskreise/zukunft-auto-umwelt-mobilitaet/

9 https://www.allianz-fuer-die-region.de/mobilitaet/regionales-transformationsnetzwerk-suedostniedersachsen-retrason und https://ecomento.de/2021/08/19/zukunftsfonds-eine-milliarde-fuer-die-autoindustrie/

10 https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-klimaaktivisten-stachus-gewahrsam-30-tage-1.5687410

11 https://www.deutsche-rohstoffagentur.de/DERA/DE/Home/dra_node.html

12 Siehe https://www.isi.fraunhofer.de/de/themen/elektromobilitaet/arbeitsplatzeffekte.html und https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/spurwechsel/

Zuerst veröffentlicht auf Stephans Blog:
https://stephankrull.info/2022/11/30/gewerkschaftliche-perspektiven-wissenschaftliche-expertisen/

Wir danken für das Abdruckrecht.

Flughafen blockiert: Völlig überzogene Reaktionen

Von Wolfgang Pomrehn

Die „Letzte Generation“ hält der Staatsmacht den Spiegel vor. Foto: www.letztegeneration.de

„Letzte Generation“ legt kurzzeitig BER lahm. Antwort konservativer und sozialdemokratischer Politiker lässt harte Repression für alle befürchten, die sich nicht mit Untätigkeit in Sachen Klimaschutz abfinden. Ein Kommentar

Die Aufregung ist mal wieder groß. Am gestrigen Donnerstag blockierten Mitglieder der Letzten Generation vorübergehend den Berliner Flughafen, in dem einige sich – fernab rollender Flugzeuge – auf die Startbahnen setzten und andere darauf mit Fahrrädern herumfuhren. Nach eineinhalb Stunden war alles vorbei.

Die Reaktionen darauf könnten aufgeregter kaum sein, und ein Vergleich mit dem Schweigen, das für gewöhnlich die meisten rechtsextremen Brandanschläge und Morde zum Beispiel im unmittelbar an den Flughafen angrenzenden Berliner Bezirk Neukölln begleitet, lässt in die Abgründe des deutschen Bürgertums blicken.

Bei der CSU zum Beispiel überschlägt man sich fast: Der ehemalige Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, der stets seine schützende Hand über den Diesel-Betrug der deutschen Automobilindustrie hielt, wie seine Vorgänger und Nachfolger die Bahn verkommen ließ, Autobahnen baute und dazu noch Hunderte Millionen Euro im Maut-Desaster versenkte, nennt auf Twitter die Aktivistinnen und Aktivisten „Klima-Kriminelle“ die „weggesperrt“ werden müssten.

Vielleicht so, wie bei ihm zu Hause in Bayern. Dort sitzen derzeit 13 Personen nach Straßenblockaden in Polizeihaft, ohne dass sie einen fairen Prozess gehabt hätten. Sozusagen in Administrativhaft, wie sie Großbritannien früher in seinen Kolonien angewandt hat. Erst Anfang Dezember sollen sie entlassen werden.

Einer von ihnen, der 48-jährige Ingenieur Wolfgang Metzeler-Kick, befindet sich seit dem 9. November in der JVA Stadelheim im Hungerstreik. In einer Stellungnahme aus der Haft weist er unter anderem darauf hin, dass viele arme Länder kaum Ressourcen haben, um sich gegen den Klimawandel zu schützen, weil sie „ständig im Teufelskreislauf der Schuldentilgung gefangen sind“.

Die Industriestaaten trügen die historische Schuld an der Klimakatastrophe, die Streichung der Schulden wäre daher ein erster Schritt der Reparation. Außerdem fordert er ein Tempolimit und die Wiedereinführung des Neun-Euro-Tickets als Sofortmaßnahmen.

Für Deutschlands Konservative und Rechtsextreme, die nicht zwischen Kunstwerken und Plexiglas unterscheiden können und meinen, wenn Autofahrer keine Rettungsgassen bilden, haben die den Stau verursachenden Hindernisse schuld, grenzen derlei Forderungen offensichtlich schon an Terrorismus.

Mehr Repression

Aber auch sozialdemokratische Politikerinnen und Politiker meinen, auf der Welle der populistischen Hetze gegen Klimaproteste mitschwimmen zu müssen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bezeichnete in einem Tweet die BER-Blockade als „erneute Eskalation“ und nennt die Klimaschützer „Straftäter“. Ihre Aktionen würden gesellschaftliche Akzeptanz für den „Kampf gegen den Klimawandel“ zerstören.

Fragt sich allerdings, ob es die unter dem Fluglärm leidenden Anwohnerinnen und Anwohner oder die vielen Hartz-IV-Bezieher und -Bezieherinnen, denen man kaum die winzigste Erhöhung gönnt und die man lieber hungern lässt, interessiert, wenn vor den Toren Berlins der eine oder andere Flug ausfällt.

„Das Flugzeug ist kein Verkehrsmittel für Normalbürger:innen. Die meisten Menschen – etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung – sind noch nie in ihrem Leben geflogen. Ein wohlhabendes Prozent der Bevölkerung verursacht allein etwa die Hälfte der flugbedingten Treibhausgasemissionen“, schreiben die Blockierer in einer Pressemitteilung.

Und es fragt sich natürlich, welchen „Kampf gegen den Klimawandel“ die SPD-Ministerin meint. Etwa die Arbeitsverweigerung ihres liberalen Kabinettskollegen im Verkehrsministerium? Oder den Einsatz ihres Chefs für neue Erdgasförderung im Senegal? Oder das Engagement ihre grünen Kollegen im Wirtschaftsressort für Frackinggas aus den USA und den Abbau von Braunkohle im Rheinland?

Oder soll vielleicht mit den martialischen Reden einfach nur die Räumung in Lützerath und die verschärfte Repression vorbereitet werden, mit der man der Klimabewegung begegnen will, wenn diese sich nicht endlich mit der Untätigkeit der Regierung abfindet? (Wolfgang Pomrehn)

Erschienen in „Telepolis“ v. 25.11.22
https://www.heise.de/tp/features/Flughafen-blockiert-Voellig-ueberzogene-Reaktionen-7356870.html

Wir danken dem Autor für das Abdruckrecht.

Diese Seite verwendet u. a. Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung