„Einfach abschießen“

In Europa werden stets neue Eskalationsforderungen laut: Abschuss russischer Kampfjets im Luftraum von NATO-Staaten, Seeblockade gegen russische Tankschiffe in Nord- und Ostsee. NATO erwägt Bau von Drohnenwall an ihrer Ostflanke.

Newsletter German Foreign Policy v. 23. 9. 2025

Bild: pixabay

BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) – Im Konflikt mit Russland um das Eindringen russischer Drohnen und Kampfjets in den Luftraum europäischer NATO-Staaten werden in Deutschland Forderungen nach einer ungehemmten Eskalation laut. „Jede militärische Grenzverletzung“ müsse künftig „mit militärischen Mitteln beantwortet“ werden – „bis hin zum Abschuss russischer Kampfjets“, fordert der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Jürgen Hardt. Identische Forderungen werden etwa in den baltischen Staaten laut. Hinweise, es gebe für den Umgang mit Kampfjets im eigenen Luftraum klare Regularien der NATO, die einen Abschuss aus gutem Grund allenfalls als „Ultima Ratio“ zuließen, verhallen weithin ungehört, obwohl sie auch von einer bekannten Hardlinerin kommen. Im Gespräch ist außerdem die Option, russische Flugobjekte über ukrainischem Territorium abzuschießen – also in den Ukraine-Krieg zu intervenieren –, darüber hinaus die Möglichkeit, die Ostsee für russische Öltanker zu sperren; eine faktische Seeblockade wäre ein Kriegsgrund. Einstweilen hat die NATO einen neuen Einsatz an ihrer Ostflanke gestartet („Eastern Sentry“), der auch Pläne für den Bau eines Drohnenwalls umfasst – eventuell durch deutsche Unternehmen.

Baltic Sentry, Eastern Sentry

Die NATO-Operation Eastern Sentry, die am 12. September gestartet wurde, knüpft an die NATO-Operation Baltic Sentry an. Diese wurde am 14. Januar 2025 initiiert und dient dazu, die Gewässer der Ostsee sowie deren Unterwasserinfrastruktur – Pipelines und Kabel – unter Kontrolle zu nehmen (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Eastern Sentry kontrolliert nun den Luftraum über dem östlichen Teil der Ostsee und über den dortigen Küstenstaaten von Estland über Lettland und Litauen bis nach Polen; außerdem dient die Operation der Überwachung der weiteren Länder an der NATO-Ostflanke von der Slowakei über Ungarn und Rumänien bis Bulgarien. In einem ersten Schritt sind Kampfjets in einige der Länder der Region entsandt worden; Deutschland hat vier Eurofighter zugesagt, Frankreich drei Rafale und Dänemark zwei F-16. Auch Großbritannien ließ Ende der vergangenen Woche zwei Eurofighter über polnischem Territorium patrouillieren.[2] Vor allem aber sollen entlang der NATO-Ostflanke neue Rüstungstechnologien installiert werden – Sensoren und Waffen etwa, um feindliche Drohnen aufzuspüren, zu verfolgen und zu zerstören.[3] Dabei soll das Allied Command Operations (ACO) im belgischen Mons mit dem in Norfolk (US-Bundesstaat Virginia) ansässigen Allied Command Transformation kooperieren.

Drohnenwall an der Ostflanke

Die Installation einer High-Tech-Sperre, eines Drohnenwalls, an der NATO-Ostflanke ist in Deutschland schon im Gespräch, seit sie im März in einem Papier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) vorgeschlagen wurde.[4] Mittlerweile hat das deutsche Rüstungs-Startup Helsing erklärt, zur Schaffung eines solchen Drohnenwalls bereit und in der Lage zu sein.[5] Kürzlich hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sich für das Vorhaben ausgesprochen; der NATO-Oberbefehlshaber für Europa, US-General Alexus Grynkewich, bestätigt, es stehe „im Einklang mit einigen unserer Überlegungen zur Stärkung unserer Ostflanke zu Land und zu Luft“.[6] Für die Produktion in Frage kämen – neben Helsing – weitere deutsche Rüstungs-Startups wie Tytan Technologies, das zur Zeit autonome Abfangdrohnen entwickelt, oder Donaustahl, das an Gefechtsköpfen für Abfangdrohnen arbeitet. Ergänzend zum Drohnenwall-Aufbau an der NATO-Ostflanke wird die Aufrüstung der Bundeswehr mit Drohnen auf nationaler Ebene vorangetrieben. Um sie zu beschleunigen, müsse der „Spannungsfall“ ausgerufen werden, verlangt der CDU-Militärpolitiker Roderich Kiesewetter; nur so ließen sich die Beschaffung von Drohnen und die Genehmigung neuer Einsatzoptionen signifikant beschleunigen.[7]

„Militärische Antworten“

Ergänzend zur weiteren Hochrüstung der NATO-Ostflanke dringen Politiker aus mehreren europäischen NATO-Staaten auf Maßnahmen, die die Spannungen mit Russland erneut verschärfen. Dabei handelt es sich zunächst um die Drohung, russische Flugzeuge, sobald sie in den Luftraum eines NATO-Mitglieds eindringen, einfach abzuschießen. So fordert etwa der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, dass „jede militärische Grenzverletzung“ in Zukunft „mit militärischen Mitteln beantwortet wird, bis hin zum Abschuss russischer Kampfjets über NATO-Gebiet“.[8] Auch Tschechiens Präsident Petr Pavel, ein ehemaliger hochrangiger NATO-General, verlangt Reaktionen „einschließlich des möglichen Abschusses russischer Maschinen“. „Wir dürfen keine Schwäche zeigen“, erklärte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas auf X. Litauens Verteidigungsministerin Dovilė Šakalienė schrieb gleichfalls auf X: „Wir müssen es ernst meinen.“ Man solle sich die Türkei zum Vorbild nehmen, die im Jahr 2015 einen russischen Kampfjet, der in Syrien operierte und dabei in den türkischen Luftraum geriet, schon nach 17 Sekunden abgeschossen habe.[9] Russische Kampfjets hätten daraufhin den türkischen Luftraum nicht mehr verletzt, behauptete Šakalienė.

„Bizarr“

Šakalienė verschwieg freilich – unklar ist, ob sie das aus Unwissenheit oder zur Täuschung des Publikums tat –, dass der Abschuss des russischen Kampfjets von Moskau mit schroffen Gegenmaßnahmen insbesondere ökonomischer Art beantwortet wurde, die der türkischen Wirtschaft ernste Schäden zufügten und erst aufgehoben wurden, als Ankara zur intensiven Kooperation mit Russland überging.[10] Nach Lage der Dinge wäre Moskau heute kaum fähig, den Abschuss eines seiner Kampfjets durch NATO-Staaten mit wirtschaftlichen Mitteln zu beantworten, würde also zu anderen Maßnahmen greifen. Völlig unabhängig davon hat die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Europaparlament, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die Forderung, man solle russische Kampfjets im Luftraum von NATO-Staaten einfach abschießen, „bizarr“ genannt.[11] Strack-Zimmermann, allgemein als Hardlinerin bekannt, wies darauf hin, dass es für den Umgang mit fremden Kampfjets im Luftraum von NATO-Staaten feste Regeln gebe und NATO-Piloten eigens dafür ausgebildet seien. Wer „eine Grundsatzdiskussion“ führen wolle, „wann der Pilot was zu machen“ habe, bewege sich „sehr weit in einen Bereich …, von dem die Wenigsten … eine Ahnung haben“, konstatierte Strack-Zimmermann. Ein Abschuss könne allenfalls „Ultima Ratio“ sein.

Kriegshandlungen

Vorschläge, die auf eine weitere Eskalation bis hin zu einem möglichen Kriegseintritt der NATO-Staaten Europas hinauslaufen, hat in der vergangenen Woche Polens Außenminister Radosław Sikorski gemacht. Sikorski äußerte nach dem Eindringen von rund 20 russischen Drohnen in den polnischen Luftraum, „der Schutz für unsere Bevölkerung“ etwa „vor herabfallenden Trümmern“ sei viel größer, wenn man „Drohnen und andere Flugobjekte“ schon über ukrainischem Territorium abschießen dürfe. Das läuft zwar faktisch auf einen Eintritt der europäischen NATO-Staaten in den Krieg hinaus. Der polnische Außenminister riet dennoch dazu: „Wir sollten darüber nachdenken.“[12] Ergänzend schlug Sikorski vor, „Deutschland oder auch die NATO“ sollten „eine maritime Kontrollzone in der Nordsee errichten“, um die Einfahrt von Tankern der sogenannten russischen Schattenfloote in die Ostsee zu verhindern. Faktisch käme dies einer Seeblockade gegen Russland gleich – in Gewässern, in denen die Freiheit der Seefahrt gilt, für die der Westen im Südchinesischen Meer eintreten zu müssen vorgibt.[13] Eine Seeblockade wäre für Russland – wie auch für jeden anderen Staat – ein möglicher Kriegsgrund. In Deutschland hat einen derartigen Vorschlag bislang nur der Kovorsitzende der Linkspartei Jan van Aken gemacht (german-foreign-policy.com berichtete [14]).

[1] S. dazu Die Ostsee-Wache.

[2] Jessica Rawnsley: RAF jets join Nato air defence mission over Poland. bbc.co.uk 20.09.2025.

[3] Eastern Sentry to enhance NATO’s presence along its eastern flank. shape.nato.int 12.09.2025.

[4] S. dazu Drohnenwall über der NATO-Ostflanke.

[5] S. dazu Die Rüstungsregierung im Amt.

[6], [7] Oliver Georgi, Thomas Gutschker, Eneko Mauritz: Kann ein Drohnenwall uns schützen? Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 21.09.2025.

[8], [9] Stefan Locke, Peter Carstens: Das nächste Mal: Abschuss. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.09.2025.

[10] S. dazu Ein Rückschlag für Syrien und Keine Ordnungsmacht.

[11] Abschuss russischer Flugzeuge? Strack-Zimmermann nennt Debatte „bizarr“. web.de 22.09.2025.

[12] „Wir haben keine Zeit zu verlieren“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.09.2025.

[13] S. dazu Piraterie in der Ostsee (III).

[14] S. dazu Piraterie in der Ostsee.

Erstveröffentlicht auf GFP v. 23.9. 2025:
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/10126

Wir danken für das Publikationsrecht.

«Der ukrainische Staat ist nicht bereit, etwas gegen rechtsradikale Nationalisten zu unternehmen»

Gewalt, Zensur und Spitzeltum florieren

Die Berichterstattung in deutschen Medien über die politische Situation der kriegserschütterten Ukraine gleicht inzwischen der Karikatur eines liberalen Journalismus. Sie sind mit nur wenigen Ausnahmen bereit, Kriegspartei zu sein und so fällt dann auch die Beurteilung der Verhältnisse aus. Zur öffentlich-rechtlichen Medienwelt gesellt sich mittlerweile in immer größerem Umfang eine von Konzernen in den sozialen Medien und auf öffentlichen Sreens betriebene Berichterstattung, die noch direkter das Interesse der Kriegsprofiteure bedient. Journalisten wie Günther Gaus, Klaus Bednartz oder Dieter Gütt, die lange für einen kritischen und offenen Journalismus standen, hätten hier keinen Platz mehr. Da lohnt sich dann auch schon mal ein Blick in das auch deutschsprachige Nachbarland Schweiz zu werfen, dessen Online-Portal „Zeitgeschehen im Fokus“ uns die Veröffentlichung dieses Intererviews gestattete. Es ermöglicht einen ungeschönten Blick auf ein Land, das unter russischen Kriegszerstörungen leidet, dessen politische Klasse aber auch nicht bereit ist, einen Weg aus dem Krieg zu ebnen. (Jochen Gester)

Bild: Asow-Brigade. Screenshot Instagram.

Interview mit Andrej Konovalov*

Zeitgeschehen im Fokus Wie stark beeinflussen die rechtsradikalen Nationalisten die Politik in der Ukraine?

Andrej Konovalov Wenn man über ihren Einfluss spricht, muss man wissen, dass die Nationalisten nicht im Parlament vertreten sind. Der Einfluss, den sie haben, geht nicht über den politischen Weg, sondern liegt in der Androhung von physischer Gewalt im öffentlichen Raum. 

Am 31. August 2015 kam es vor dem ukrainischen Parlament in Kiew zu schweren Ausschreitungen bei einer Demonstration nationalistischer Kräfte gegen die geplanten Verfassungsänderungen im Rahmen der Minsker Vereinbarungen.

Ein Demonstrant warf eine Handgranate in die Reihen der Nationalgarde. Dabei wurden über 140 Personen verletzt, darunter viele Polizisten, und drei Nationalgardisten kamen ums Leben. Auch mehrere Journalistinnen und Journalisten wurden verletzt.

Der Hauptverdächtige, Ihor Humenjuk, ein ehemaliger Freiwilliger des Bataillons «Sitsch» (eines freiwilligen Karpaten-Bataillons), wurde festgenommen und angeklagt. Im Juli 2023 verübte er einen weiteren Terroranschlag, diesmal im Gerichtsgebäude in Dnipro, wo er sich in einem Toilettenraum mit einer Sprengvorrichtung (vermutlich Handgranaten) selbst in die Luft sprengte und dabei zwei Polizisten verletzte.

Man lässt die Nationalisten einfach gewähren?

Der ukrainische Staat ist nicht bereit, etwas gegen die rechtsradikalen Nationalisten zu unternehmen. Zum Beispiel war der ukrainische Nationalist Serhyj Sternenko in eine Auseinandersetzung mit zwei Männern verwickelt, wobei er einen mit mehreren Messerstichen tötete, was ein medizinisches Gutachten bestätigte. Bei der Gerichtsverhandlung erhielt er Unterstützung von nationalistischen Organisationen, die das Gericht und die Richter unter Druck setzten. Das Verfahren endete mit einem Freispruch. Heute ist er als YouTuber einer der Hauptinfluencer der neuen ukrainischen Nationalistenelite. 

Wie reagierte die Politik darauf? 

Es ist bemerkenswert, dass Sternenko nicht nur von den rechts-nationalistischen Organisationen unterstützt, sondern auch öffentlich von der damaligen Gesundheitsministerin, Ulana Suprun, verteidigt wurde. Suprun, eine US-amerikanische Staatsbürgerin ukrainischer Herkunft, gilt als politisch gut vernetzt in liberalen und transatlantischen Elitekreisen der USA, insbesondere im Umfeld der Demokratischen Partei und westlicher NGOs mit finanzstarken Förderstrukturen.

Der Fall zeigt deutlich, wie aussergerichtlicher Einfluss und politisch motivierter Druck in der Ukraine gerichtliche Verfahren – selbst bei klarer Beweislage – entscheidend verzerren und beeinflussen können.

Man kann also sagen, dass der rechte Block, obwohl er nicht im Parlament vertreten ist, dennoch einen grossen Einfluss auf die Politik hat.

Ja, das ist hundertprozentig so.

Wie ist die Stimmung heute im Land? Die Zahl der Toten ist immens. Hinter jedem Toten sind Familien, Freunde, ganze Gemeinschaften, die trauern. 

Die öffentliche Stimmung ist schwer zu fassen, denn der mediale Raum in der Ukraine steht seit Beginn des Krieges weitgehend unter staatlicher Kontrolle. Die meisten Menschen haben Zugang nur zu den Fernsehsendern, die über die üblichen digitalen Pakete (zum Beispiel T2 oder Kabel-TV) verbreitet werden – insbesondere in ländlichen Regionen, wo viele weder Satellitenschüsseln noch schnellen Internetzugang haben.

Kurz nach Kriegsbeginn wurden im Rahmen des sogenannten «Telemarathons» fast alle dieser grossen Fernsehsender zu einem gemeinsamen 24-Stunden-Nachrichtenprogramm zusammengeschaltet. Dieses Programm wird auf nahezu allen grossen Kanälen gleichzeitig ausgestrahlt und ist inhaltlich eng mit der offiziellen Linie der Regierung abgestimmt. Offiziell geschieht dies zur Stärkung der nationalen Einheit im Krieg. In der Praxis bedeutet es aber auch, dass abweichende Meinungen kaum noch öffentlich sichtbar sind.

Zugleich hat der Staat mehreren Fernsehsendern, die oppositionellen Politikern oder kritischen Stimmen nahestanden, bereits vor oder kurz nach Kriegsbeginn die Lizenz entzogen – teils unter Berufung auf die nationale Sicherheit, teils mit dem Vorwurf prorussischer Propaganda. Auch Online-Medien und Journalisten, die von der offiziellen Linie abweichen, stehen häufig unter Druck oder werden diffamiert.

Das alles führt dazu, dass die öffentliche Auseinandersetzung heute stark eingeschränkt ist, insbesondere wenn es um Themen wie Verhandlungen, Kriegsdienstverweigerung oder Kritik an der Regierung geht. Zwar existieren formell noch unabhängige Medien, doch ihr Einfluss ist gering, und Zensur ist, auch wenn sie nicht immer gesetzlich festgeschrieben ist, in der Realität spürbar vorhanden.

Gibt es Umfragen, die Auskunft geben, welche Einstellung die Menschen haben?

Laut einer Umfrage der «Gruppe Rating» vom Februar 2025 befürworten 64 Prozent der Ukrainer direkte Verhandlungen mit Russ­land, und 81 Prozent halten einen kompromissorientierten diplomatischen Weg unter internationaler Beteiligung für realistisch.

Gleichzeitig zeigt eine Umfrage des Kiewer Instituts für Soziologie (KIIS) vom Juni 2025, dass 48 Prozent der Befragten kategorisch gegen eine faktische Anerkennung der russischen Kontrolle über besetzte Gebiete sind – auch nicht  zur Friedenssicherung. 43 Prozent wären hingegen zu solch einem Kompromiss bereit, solange keine formelle (de jure) Anerkennung erfolgt.

Trotz dieser Zahlen vermitteln viele Medien den Eindruck, die Bevölkerung sei nahezu geschlossen gegen Verhandlungen oder territoriale Zugeständnisse. Angesichts eingeschränkter Meinungsfreiheit und gesellschaftlichem Druck bleibt jedoch unklar, wie frei sich Menschen tatsächlich äussern können.

Wie geht der Staat mit Menschen um, die den Krieg kritisieren?

Wenn man kritisch gegenüber dem Krieg eingestellt ist beziehungsweise nicht in den Krieg gehen will, wird man für seine Einstellung bestraft, indem man mit Zwang in den Krieg geschickt wird. So will man die kritischen Stimmen zum Schweigen bringen. Das kann bis zum Tod führen. 

Ich möchte das gerne an zwei Beispielen verdeutlichen. Es gibt in der Ukraine einen Influencer namens Batya Prokop, auf Deutsch «Vater Prokop». Er berichtet über Gesundheit und Lifestyle. Er lebt in Odessa, einer russischsprachigen Stadt. Er hatte einen Stream auf Instagram gestellt und die Frage aufgeworfen, ob man in die Armee gehen soll oder lieber ins Gefängnis. Seine Erklärung war für die Regierung ein Problem.

Er verbreitete seine Auffassung über Social Media. Wenn man ins Gefängnis gehe, sei man ein politischer Häftling und habe dadurch eine bessere Position. Man könne dort ein bisschen lesen und Sport treiben und wenn man nach ein paar Jahren wieder entlassen werde, habe man noch beide Arme und beide Beine und komme lebend wieder heraus.

Wie waren die Reaktionen von staatlicher Seite darauf?

Nachdem er dieses Statement abgeben hatte, bekam er Besuch von ukrainischen Armeeangehörigen, die ihn wohl kaum für seine Aussage gelobt haben. Danach «entschied» er sich für den Dienst in der Armee. Er war bei einer Sturmbrigade und ist in der Zwischenzeit im Krieg gefallen. 

Das zweite Beispiel ist ein Fitnesstrainer in Odessa namens Sewastjan Gogowytsch. Er wollte nicht in den Krieg und hat die Rekrutierungsoffiziere beleidigt, als sie ihn rekrutieren wollten. Man spekuliert, er sei provoziert worden. Das Ganze wurde auf Video aufgenommen und veröffentlicht. 

Ein ukrainischer rechtsradikaler Nationalist hat ihn später mit einer Gruppe von Gleichgesinnten zusammen mit Journalisten besucht, und sie haben ihn verprügelt. Das blutig geschlagene Gesicht wurde auf ukrainischen Mainstream-Medien publiziert mit dem Kommentar: «Er holte sich eine blutige Nase, weil er die ukrainische Armee beleidigt hatte.» Tatsache ist, dass Menschen, die das «Heiligtum» der ukrainischen Armee kritisieren, in eine Situation geraten, in der die Gesetze nicht mehr gelten. Die ukrainischen Rekrutierungsoffiziere gratulierten den Nationalisten, die Sewastjan Gogowytsch verprügelt hatten.

Ein Video mit Glückwünschen an ihn ist ab Minute sieben in meinem YouTube-Video zu sehen.1 Auch er wurde gezwungen, in die Armee zu gehen. Ein Tag nach der Veröffentlichung sagte er in einem weiteren Video, dass er in der ukrainischen Armee dienen werde. In der Ukraine war das die Geschichte der Woche, aber niemand hat die Verantwortung für die Gewalt übernommen. Es stellt sich die Frage, wie es um die ukrainische Armee steht. 

Sind das Ausnahmen, oder ist die Mehrheit bereit, in den Krieg zu ziehen? 

Laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium waren im November 2024 rund 75 Prozent der aktiven Soldaten, die eingezogen wurden, nicht freiwillig eingetreten. Gleichzeitig berichtete die Uno über Folter, Schläge und psychische Gewalt in ukrainischen Rekrutierungszentren (TЦК).

Laut dem 42. Bericht des Uno-Menschenrechtsbüros (Dezember 2024 bis Mai 2025) kam es dort unter anderem zu Schlägen, Fesselung der Hände über Stunden, Todesdrohungen, Nahrungsentzug über 11 Tage bei Uniformverweigerung sowie zu systematischer Demütigung und schlechten Haftbedingungen.

Der ukrainische Ombudsmann registrierte allein im Jahr 2024 bereits über 7000 Beschwerden im Zusammenhang mit der Mobilmachung – dreimal mehr als im Vorjahr. Zugleich verstärkt das Faktum den Eindruck der Ungerechtigkeit, dass privilegierte Schichten der Gesellschaft – darunter auch Mitarbeitende westlicher NGOs oder grosser Beratungsfirmen wie Deloitte – vollständig vom Wehrdienst befreit sind, während in der breiten Bevölkerung nahezu täglich Meldungen und Berichte von Angehörigen über in den TЦК zu Tode gekommene Bürger auftauchen – oftmals mit deutlichen Spuren schwerer Misshandlungen und mit gefälschten medizinischen Gutachten. Solche Nachrichten tragen zusätzlich dazu bei, dass die Bereitschaft, in der Armee zu dienen, in der Gesellschaft weiter sinkt.

In ukrainischen Leitmedien ist inzwischen offen von der «Gesetzlosigkeit der Rekrutierungsstellen» die Rede – von Schlägen, Entführungen und Folter, für die niemand zur Rechenschaft gezogen wird.

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung, in der doch ein erheblicher Anteil russischsprachig ist? 

Die Stimmung ist angespannt. Man kann beispielsweise keinerlei russische Bücher legal kaufen, denn der Import ist gesperrt. Schon vor dem Krieg war es so, dass kein Buch auf Russisch publiziert werden konnte, wenn nicht die gleiche Anzahl auf Ukrainisch produziert wurde. Im Theater oder im Kino darf nicht mehr Russisch gesprochen werden – formell ist es erlaubt, aber nur mit gleichzeitiger ukrainischer Übersetzung, was in der Praxis unmöglich ist. Das führt zu einem faktischen Verbot. In der Schule darf nicht mehr auf Russisch unterrichtet werden, auch wenn es eine Privatschule ist. Es gibt in einigen Städten eine freiwillige Sprachpolizei. Sie geht in Cafés oder Restaurants.

Sie dokumentiert, wenn das Bedienungspersonal einen Gast auf Russisch begrüsst. Sie leiten das weiter, und das Restaurant muss schliessen, weil man dem Besitzer die Lizenz entzogen hat. Wenn Strassenmusiker russische Lieder singen, dann werden sie von den rechtsradikalen Nationalisten verprügelt. Ein Teil der Gesellschaft ist aktiv unterdrückt und hat keinerlei Möglichkeit, sich zu wehren oder politische Autoritäten zu finden, die sie schützen könnten. 

Kommen wir noch auf Selenskyj zu sprechen. Ist er noch ein rechtmässiger Präsident?

Die Tatsache, dass man keine Wahlen durchführt, signalisiert, dass man seine Niederlage erwartet. In der ukrainischen Verfassung ist festgelegt, wie das Land, wenn es sich im Kriegszustand befindet, trotz dem Ende der Amtszeit des Präsidenten weiter regiert werden kann. Wenn die Regierungszeit abgelaufen ist, muss der Parlamentspräsident interimsmässig die Regierungsgeschäfte übernehmen, bis es zu Neuwahlen kommt. Deswegen sollte das Verfassungsgericht konsultiert werden. Selenskyj und seine Anhänger blockierten das, um zu verhindern, dass er sein Präsidentenamt abgeben muss. So geht es weiter wie bisher.

Wie reagiert das Verfassungsgericht darauf?

Die Auseinandersetzung zwischen Selenskyj und dem Verfassungsgericht bestand schon vor dem Krieg. Der ehemalige Chef des Verfassungsgerichts wurde unter Missachtung der Gesetze abgesetzt. Er floh nach Österreich und wurde dort vergiftet. 

Selenskyj macht heute, was er will. Seine westlichen Unterstützer akzeptieren alles. Er hat freie Hand, allein zu entscheiden. 

In seiner Wahlkampagne hat er versprochen, alle wichtigen Entscheidungen dem Referendum zu unterstellen. Das hat er nicht eingehalten. Wenn heute gewählt würde, ist sicher, dass er die Präsidentschaft nicht erneut gewinnen würde. 

Herr Konovalov, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Aachen

  1. https://youtu.be/tW9gJK9fndc?si=V0CPk4qY6COoFhE5 ↩︎

* Andrej Konovalov ist in Kirowohrad in der Mitte der Ukraine aufgewachsen. Sein Bachelor-Biochemiestudium an der Universität Kiew hat er abgeschlossen. Nachdem er im Stadtzentrum ein aufgehängtes Banner der nazistischen Kollaborateure – der UPA – entfernt hatte, wurde gegen ihn ein Strafverfahren wegen «groben Rowdytums» eingeleitet, das mit bis zu vier Jahren Haft bestraft werden kann. Daraufhin verliess er die Ukraine. Sein mit Auszeichnung abgeschlossenes Bachelorstudium eröffnete ihm die Möglichkeit, kurzfristig ein Masterstudium an der Universität zu Köln aufzunehmen. Heute lebt er in Köln, arbeitet als Metabolic Engineer in einem Biotech-Startup. Er engagiert sich zugleich gegen den Krieg, indem er internationale Proteste für die Rechte zwangsrekrutierter Ukrainer mitorganisiert.

Erstveröffentlicht in Zeitgeschehen im Fokus
https://zgif.ch/kategorie/2025/zif-14/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Pünktlich getroffen: via Köln nach Gaza

Deutschland liefert nicht nur -trotz der von Merz angekündigten Einschränkungen – weiterhin Waffen und militärische Komponenten nach Israel, sondern ist auch logistische Drehscheibe zur Versorgung der israelischen Armee mit Militärgütern aus den USA, ohne die das unverminderte Morden in Gaza nicht möglich wäre. Ein Report. (Peter Vlatten)

Im August verkündete die deutsche Bundesregierung einen temporären Lieferstopp von Rüstungsgütern nach Israel an. Er sollte gelten für Waffen, “die im Gazastreifen zum Einsatz kommen können”. Dennoch werden bis heute weiterhin mutmaßliche Waffenteile nach Israel exportiert – über den Flughafen Köln/Bonn.

Yossi Bartal, 19 September 2025, The Diasporist

Das Flugzeug aus Memphis, Tennessee, landet, nachdem es über 7.500 Kilometer zurückgelegt hat,  meist am frühen Abend am Flughafen Köln/Bonn. An Bord dieser FedEx-Frachtflüge, die mehrmals wöchentlich den Atlantik überqueren, befinden sich nicht nur Exporte mit Ziel Deutschland. Laut internen Dokumenten, die the Diasporist einsehen konnte, enthalten diese Sendungen Güter aus den Produktionsstandorten der F-35-Kampfjets; in den Frachtpapieren ist als Endziel die israelische Luftwaffenbasis Nevatim in der Negev-Wüste angegeben. Der Ankündigung von Bundeskanzler Merz im August zum Trotz, den Großteil der Waffenlieferungen an Israel einzufrieren, werden die Sendungen bis heute weiter abgefertigt.

Nevatim, in den frühen 1980er-Jahren östich der Stadt  Be’er Scheva errichtet, gehört zu den wichtigsten Militärflugplätzen Israels und ist das Hauptquartier der israelischen F-35-Flotte. Seit 2023 dient Nevatim als einer der wichtigsten Ausgangsbasen für die zahlreichen tödlichen Luftangriffe auf den dicht besiedelten  Gazastreifen – einschließlich der aktuellen Bombardements von Gaza-Stadt.

Laut Dokumenten, die der irischen Nachrichtenplattform The Ditch vorliegen und von the Diasporist mit Angaben auf der FedEx-Webseite abgeglichen wurden, gingen allein in der zweiten Septemberwoche 30 solcher Sendungen am Flughafen Köln/Bonn ein. Die Mehrheit der eingesehenen Sendungen stammten aus Fort Worth, Texas, ein zentraler Produktionsstandort des F-35; aber auch aus anderen Orten, an denen Lockheed Martin, einer der größten Rüstungshersteller der Vereinigten Staaten, Fabriken oder Lager betreibt. Manche Pakete wiegen weniger als ein Kilo, andere deutlich mehr. Ihr genauer Inhalt bleibt unklar – möglich sind Bauteile für das elektronische Kampfsystem, Schaltpulte zur Waffensteuerung oder Infrarotsensoren. Schließlich setzt sich der F-35, der jeweils bis zu 120 Millionen Dollar kostet, aus einer immensen Zahl einzelner Komponenten zusammen.

Diese Lieferungen gelangen von Memphis – Sitz eines der größten Frachtflughafens der USA und zugleich Unternehmenszentrale von FedEx – mit FedEx-Maschinen nach Deutschland. Seit 2010 nutzt der Kurier- und Logistikkonzern den Flughafen Köln/Bonn als zentrales Drehkreuz für Sendungen nach Mittel- und Osteuropa sowie nach Israel. In Köln wird die für den Militärstützpunkt bestimmte Fracht auf deutschem Boden ausgeladen und verbleibt dort mehrere Stunden – mitunter Tage oder sogar Wochen –, bevor sie erneut auf ein weiteres von FedEx betriebenes Flugzeug verladen wird. Dieses zweite Frachtflugzeug startet täglich am späten Vormittag Richtung Ben-Gurion-Flughafen bei Tel Aviv. Von dort geht es weiter zum endgültigen Ziel, der Luftwaffenbasis Nevatim.

International wurde über den Transit dieser Teile bereits berichtet. Schon im Oktober 2024 meldete The Ditch, dass FedEx-Flüge mit entsprechenden Lieferungen auf ihrem Weg nach Köln irischen Luftraum durchquert hätten – ohne die vorgeschriebene Genehmigung für den Transport von Kriegswaffen. Die belgischen Tageszeitungen De Morgen und Le Soir wiederum berichteten, wie einzelne dieser Sendungen, teilweise mit dem US-amerikanischen ITAR-Label (International Traffic in Arms Regulations) versehen, im Juni ohne nationale Genehmigung vom Flughafen Köln auf ein FedEx-Lager in Belgien verbracht und dort zwischengelagert worden seien. Dies passierte zu einem Zeitpunkt, als Israels Luftraum während des iranisch-israelischen Kriegs gesperrt war.

In deutschen Medien fanden diese Berichte keine Resonanz. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Bundesregierung, Israels engster Verbündeter innerhalb der EU, noch keine offizielle Position zur Einschränkung von Waffenexporten nach Israel bezogen. Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren war Deutschland einer der wichtigsten Waffenlieferanten des Landes – nach den Vereinigten Staaten sogar der zweitgrößte.

Bis auf Weiteres

Am 8. August erklärte Bundeskanzler Merz, angesichts des „noch härteren militärischen Vorgehens der israelischen Armee“, dass die Bundesregierung „bis auf Weiteres keine Ausfuhren von Rüstungsgütern, die im Gazastreifen zum Einsatz kommen können”, genehmigen werde. Nach einem weiteren israelischen Angriff auf ein Krankenhaus Ende August, bei dem zahlreiche Journalisten getötet wurden, erklärte Merz, er sehe sich in seiner Entscheidung „dass Israel aus Deutschland keine Waffen bekommt, die im Gazastreifen (…) eingesetzt werden können, mehr als nur bestätigt.“

Dennoch belegen von The Ditch ausgewertete und von the Diasporist teilweise bestätigte FedEx-Trackingdaten, dass seit dem 8. August bis zu 302 Sendungen aus den USA, die für den Luftwaffenstützpunkt Nevatim bestimmt waren, im Flughafen Köln/Bonn abgefertigt wurden. Auch in dieser Woche passierten solche Sendungen, die vermutlich F-35 Ersatzteile enthalten, auf die Israel für seine aktuelle Militärkampagne im Gazastreifen angewiesen wäre, ungehindert deutsches Territorium. 

Ihr Einsatz im Gazastreifen ist nahezu sicher. Es lässt sich nicht exakt beziffern, wie viele der Luftschläge im Gazastreifen – die zusammengenommen zehntausende palästinensische Zivilisten sowie, laut einem Bericht der New York Times vom Mai 2025, auch mehrere israelische Geiseln töteten – mit F-35-Kampfjets durchgeführt wurden. Doch bestätigte ein Artikel auf YNET, der meistgelesenen Nachrichten-Website Israels, bereits im vergangenen Jahr, dass F-35 seit Oktober 2023 an Hunderten dieser Luftschläge direkt beteiligt waren. Auf Anfrage von the Diasporist wollte ein Sprecher der israelischen Armee den aktuellen Einsatz der Jets im Gazastreifen nicht kommentieren. Nach Angaben der israelischen Luftwaffe waren F-35 jedoch am jüngsten Angriff auf die katarische Hauptstadt beteiligt – ein Angriff, den Außenminister Johann Wadephul als inakzeptabel kritisierte.

Erst am 16. September erklärte die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begehe – und dass Staaten verpflichtet seien, die Lieferung von Waffen zu verhindern, die dort eingesetzt werden könnten. Vor dem Internationalen Gerichtshof ist weiterhin ein Verfahren gegen Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord anhängig – auch aufgrund solcher Waffenlieferungen. Doch Nachfragen von the Diasporist bei verschiedenen staatlichen Stellen offenbaren ein Geflecht aus Zuständigkeitslücken und Verantwortungsverschiebungen, das den ungehinderten Weiterfluss von Waffenteilen nach Israel über deutsches Territorium ermöglicht. 

Staatliche Duckmäuser

In Deutschland sind Zollbeamte für die Überprüfung von Waren verantwortlich, die in das Land ein- oder aus dem Land ausgeführt werden. So bestätigt die Generalzolldirektion in Bonn gegenüber the Diasporist, dass Sendungen von Kurierunternehmen in der Regel beim Zoll angemeldet werden – auch dann, wenn sie sich lediglich im Transit von einem Nicht-EU-Staat in einen anderen befinden. Dabei muss die Warenbeschreibung „so genau angegeben sein, dass die Ware leicht und eindeutig identifiziert werden kann”. Den Behörden sollte  somit bekannt sein, was sich in den Paketen befindet und ob es sich um militärische Teile handelt. Gleichzeitig betonte die Generalzolldirektion jedoch, dass Zollbeamte Waren zwar nach geltendem Unionsrecht und nationalen Rechtsvorschriften anhalten können, die weitergehende Zuständigkeit für „die Erteilung von Genehmigungen im Bereich von Rüstungsgütern und Waffen“ aber beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) und seiner nachgeordneten Behörde, dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), liege.

Als the Diasporist eine Anfrage zu diesen Sendungen an das BAFA stellte, machte die Behörde deutlich, dass die „bloße Durchfuhr von Rüstungsgütern […] keinen exportkontrollrechtlichen Genehmigungspflichten unterliegt“, solange es sich nicht um „Kriegswaffen nach dem deutschen Kriegswaffenkontrollgesetz“ handelt.

Es mag überraschen, dass nach deutschem Recht zwischen kompletten Waffensystemen und deren Komponenten unterschieden wird – selbst dann, wenn diese Komponenten für den Einsatz des Gesamtsystems unverzichtbar sind. Das bedeutet: Während die Durchfuhr einsatzbereiter Kriegswaffen – etwa Pistolen, ein ganzer Panzer oder Kampfjet sowie Sprengstoff – die Genehmigung des Bundeswirtschaftsministeriums erfordert, unterliegen deren Ersatzteile deutlich weniger Kontrollen.

Im Fall des von Merz angekündigten Waffenlieferstopps nach Israel sind dennoch auch „sonstige Rüstungsgüter“ eingeschlossen – also zum Beispiel Panzermotoren oder Ersatzteile für F-35-Kampfjets. Deshalb richtete the Diasporist eine Anfrage an das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Das Ministerium bestätigte, dass die Bundesregierung sehr wohl über die Erteilung von Genehmigungen für Rüstungsexporte – sowohl für Kriegswaffen als auch für sonstige Rüstungsgüter – „im Einzelfall und im Lichte der jeweiligen Situation“ entscheidet. Dieser Grundsatz gelte, so betonte das Ministerium, „auch für die Erteilung von Genehmigungen für die Durchfuhr von Rüstungsgütern durch das Bundesgebiet“. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung kann bestimmen, welche Teile deutsches Territorium passieren dürfen.

In derselben Mitteilung erklärte das Ministerium jedoch, dass die Durchfuhr sonstiger Rüstungsgüter – im Unterschied zu kompletten Waffensystemen – „überwiegend nicht genehmigungspflichtig“ sei. Zwar behält das Ministerium die Autorität darüber, welche Güter durch Deutschland transportiert werden dürfen, verlangt jedoch von Unternehmen, die diese Teile versenden, nicht, dass sie dafür zunächst eine Genehmigung einholen. Dies führt zu einer fehlenden Handlungsmacht, die administrativ leicht behoben werden könnte – denn das Ministerium könnte laut Außenwirtschaftsgesetz  Handlungspflichten anordnen, „um eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu verhüten”. Solche Beschränkungen können insbesondere für Handel mit „Waffen, Munition und sonstige[n] Rüstungsgüter[n]” angeordnet werden, so das Gesetz. 

Anders gesagt: Die Bundesregierung ist befugt, die Durchfuhr solcher Waffen per Anordnung zu stoppen, und ist dabei weder auf parlamentarische Gesetzgebung noch auf Europarecht angewiesen. Dennoch, so zeigt sich, werden die Transporte fortgesetzt – trotz Merz’ Aussage, dass keine Waffen aus Deutschland, die im Gazastreifen eingesetzt werden könnten, nach Israel geliefert werden sollen.

Als the Diasporist beim Bundeskanzleramt nachfragte, ob die Bundesregierung trotz der fehlenden Genehmigungspflicht die Durchfuhr von Waffenteilen nach Israel stoppen wolle, blieb die Frage unbeantwortet. Stattdessen wurde an das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie verwiesen. Auch eine weitere Anfrage an das Wirtschaftsministerium blieb bis zur Veröffentlichung dieses Artikels unbeantwortet.

Völkerrechtsscheu

Als Vertragsstaat der Genozidkonvention und des Römischen Statuts ist Deutschland rechtlich verpflichtet, Völkermord zu verhindern. Diese Verpflichtung wird zudem durch die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes verstärkt, das als Reaktion auf die Verbrechen des Holocaust die Unantastbarkeit der Menschenwürde zum obersten Prinzip erhebt und unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte als Grundlage des Friedens in der Welt betrachtet. Trotz dieses rechtlichen Auftrags und der eigenen verspäteten Erkenntnis, dass Waffenlieferungen an einen Staat, dem Völkermord vorgeworfen wird, gestoppt werden sollten, scheut Deutschland davor zurück, solche Maßnahmen vollständig umzusetzen.

In den letzten Wochen kam es zu teils hitzigen Auseinandersetzungen zwischen Journalisten und Regierungsvertretern über die Frage, ob bereits vor der Ankündigung von Merz am 8. August genehmigte Lieferungen weiterhin durchgeführt werden dürfen. Der Journalist Tilo Jung warf zwei Regierungssprechern vor, „Fake News“ zu verbreiten, da sie behaupteten, die Bundesregierung würde keine weiteren Waffen an Israel liefern. Tatsächlich berichtete der israelische öffentlich-rechtliche Fernsehsender Kan, dass am 25. August ein Transportflugzeug, das häufig vom israelischen Militär genutzt wird, vom Flughafen Köln/Bonn nach Israel geflogen sei.

Der stellvertretende Regierungssprecher behauptete hingegen zu den bereits erteilten Genehmigungen, die Bundesregierung könne vieles, aber nicht „Zeit und Raum verschieben“. Entgegen der Behauptung des Regierungssprechers verletzt der Widerruf von Genehmigungen – ein alltäglicher Verwaltungsakt – keinerlei Naturgesetze.Wie Susanne Weipert vom Bündnis „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ in einem Interview mit the Diasporist bestätigt, können Genehmigungen grundsätzlich widerrufen werden. Die Bundesregierung verfügt zudem über weitere Instrumente. Als Saudi-Arabien bei seinem Krieg gegen Jemen massive Völkerrechtsverletzungen vorgeworfen wurden, „fand die Bundesregierung 2018 einen Weg, bereits genehmigte Lieferungen mittels einer sogenannten Ruhensanordnung zu stoppen“, so Weipert.  Diese Anordnung wurde auch mehrmals verlängert. Angesichts der aktuellen Lage im Gazastreifen und des jüngsten UN-Kommisionsberichts, der Israels Handlungen als Völkermord einstuft, sei „die Regierung rechtlich verpflichtet, den Export von Rüstungsgütern unverzüglich zu stoppen, die zu diesen Verbrechen beitragen könnten“.

Die Verantwortung von Unternehmen

Nicht nur Staaten, sondern auch Unternehmen tragen Verantwortung, Genoziden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit keinen Vorschub zu leisten. Wie in einem Bericht der UN-Sonderberichterstatterin für die seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiete von Juni dieses Jahres hervorgehoben wird, besteht die Verantwortung von Unternehmen für Verstöße gegen das Völkerrecht „unabhängig von der Verantwortung der Staaten und ungeachtet dessen, welche Maßnahmen Staaten ergreifen oder nicht ergreifen, um sicherzustellen, dass sie Menschenrechte respektieren“. 

FedEx ist als globales Logistikunternehmen von diesen Verpflichtungen nicht ausgenommen, unabhängig von den rechtlichen Rahmenbedingungen in den Ländern, in denen es tätig ist. Tatsächlich verpflichtet sich FedEx in seinem Verhaltenskodex „zum Schutz der Menschenrechte in unseren Geschäftsabläufen“. Die Global Human Rights Policy des Unternehmens erklärt sogar, dass es bestrebt ist, „ethische Führung und unternehmerische Verantwortung durch die weltweite Förderung der Menschenrechte zu verkörpern“. Als Bezugspunkt wird dabei die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen genannt.

Auf die Fragen von the Diasporist zu Lieferungen an die israelische Luftwaffe und deren Übereinstimmung mit dem Verhaltenskodex sowie den globalen Richtlinien des Unternehmens antwortete FedEx lediglich, dass das Unternehmen „sich verpflichtet, alle geltenden Gesetze und Vorschriften in Bezug auf den Versand von Waren in unserem Netzwerk einzuhalten. Es ist grundsätzlich unsere Richtlinie, keine Einzelheiten zu Kundensendungen preiszugeben“. Von Menschenrechten ist hier keine Rede.

Die Zustellung läuft

Nur wenige Stunden vor der Veröffentlichung dieses Artikels, am Abend des 18. September, landete der Flug FDX4 aus Memphis in Köln mit zwei kleinen Paketen an Bord – eines aus Florida, das andere aus Oklahoma –, die jeweils weniger als ein Kilo wiegen. Als endgültiges Ziel ist der Luftwaffenstützpunkt Nevatim angegeben. Wann genau sie den Ben-Gurion-Flughafen erreichen sollen, ist noch unbekannt. Doch die Tatsache, dass sie nun auf deutschem Boden liegen, stellt eine klare Bewährungsprobe dar: Wenn Berlins Bekenntnis zum Völkerrecht mehr ist als bloße Rhetorik, werden diese Sendungen Köln nicht an Bord der nächsten Maschine verlassen.

Yossi Bartal ist freiberuflicher Journalist in Berlin.

Der Beitrag wurde publiziert am 19 September 2025 in The Diasporist, Wir danken für das Publikationsrecht.

Titelbild: Luftbild des Flughafens Köln/Bonn adaptiert aus Wikimedia Commons.

Diese Seite verwendet u. a. Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung