Verklärt die „traditionelle Linke“ das Russlandbild der Deutschen?

Dieser Artikel erschien unter der Überschrift „Meint Ihr, die Russen wollen Krieg“oder verklärt die „traditionelle Linke“ das Russlandbild der Deutschen?

Von Conrad Schuhler

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat nicht nur die Nato und den Westen zu mächtigen Hilfsaktionen für die ukrainische Armee und zu gewaltigen Sanktionen gegen die Wirtschaft Russlands bewogen, er hat zur gleichen Zeit eine ideologische Offensive gegen die „traditionelle Linke“ ausgelöst, die diese endgültig mundtot und politikunfähig machen soll. Die Vorwürfe kommen dabei nicht nur vom Lager der Mainstream-Medien und -Parteien, sie rühren auch von FreundInnen und GenossInnen im Lager der Friedensbewegung und der gesamten Linken. Sie beziehen sich vor allem auf diese zwei Punkte:

  • Wir (ich begreife die Formel „traditionelle Linke“ als auch auf mich und meinesgleichen gemünzt) würden Opfer und Täter vertauschen. Wir würden die Invasion als quasi den Russen aufgezwungen hinstellen. Damit würden wir die Invasion und die Kriegsverbrechen der Russen rechtfertigen. Der anders lautende Satz unserer Erklärungen, der militärische Überfall sei durch nichts zu rechtfertigen, sei eine verlogene Schutzbehauptung.
  • In der Frage der internationalen Auseinandersetzungen seien wir immer noch in einem „letztlich reaktionären Lagerdenken“ befangen, überhaupt würden wir uns in der „Systemkonkurrenz lieber auf die Seite einer rotgelackten national-kapitalistischen Einparteienherrschaft“ stellen (China), anstatt zu sehen, dass im Ukrainekonflikt „nicht die USA und die Nato, sondern Putin und seine Oligarchenclique den Takt in diesem Konflikt angeben“.
Zu 1: Opfer und Täter im Ukraine-Krieg

Unsere Kritiker führen an, die Ukraine-Invasion sei von langer Hand geplant, schon daran könne man erkennen, sie sei nicht ausgelöst worden durch eine aktuelle Bedrohung durch die Nato. Schon 2014 habe Russland mit der Annexion der Krim bewiesen, dass es sich über Völkerrecht und Kriegsrecht jeder Art hinwegsetze und seine Waffen sprechen lasse. Es dürfe nicht heißen: Kriegstreiber Nato, sondern: Kriegstreiber Russland.

Wenn die Kritiker uns vorwerfen, wir unterhielten ein sentimentales Verhältnis zu Russland, voll von Sympathie für die sozialistischen Anstrengungen und voller Schuldgefühl angesichts des Nazi-Überfalls auf die Sowjetunion, die 27 Millionen Sowjet-Menschen das Leben kostete, dann muss ich für meinen Teil sagen: Ja, das stimmt. Ich erinnere mich an das Jahr 1963, kurz nach der Kuba-Krise, als Jewgeni Jewtuschenkow nach Deutschland kam und den Propagandisten der „roten Gefahr“ sein Lied entgegenhielt:

Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Befrag die Stille, die da schwieg
Im weiten Feld, im Pappelhain,
Befrag die Birken an dem Rain (…)
Frag Mütter, die seit damals grau,
befrag doch bitte meine Frau.
Die Antwort in der Frage liegt:
Meinst Du, die Russen wollen Krieg?

Der große Saal in den Münchner Kammerspielen quoll über von vielen Hunderten von Menschen, die eben erst die Angst vor einem atomaren Weltkrieg durchgestanden hatten und nun begeistert waren von der ansteckenden und hochpoetischen Friedensleidenschaft, die von dem jungen Sibirier ausstrahlte. Mit einem Tross von Filmern, Schriftstellern, Verlagsleuten zog man dann nach Schwabing, wo der von allen innig gedrückte Jewgeni von der schönen Wirtin „bei Gisela“ zur Begrüßung geküsst wurde, bevor er nach einem kurzen Drink mit der noch schöneren Barbara Rütting in die Schwabinger Nacht entschwand.

Die Begegnung mit Tschingis Aitmatow

Es gab nicht nur solche Begegnungen fast kitschig schöner Gefühlsausbrüche. Mitte der Achtziger Jahre, die Perestroika klopfte schon an Moskaus Türen, war Tschingis Aitmatow zu Gast bei seinem Freund und Übersetzer Frieder Hitzer. Seit seiner Erzählung „Dschamilja“ war Aitmatow der Schriftsteller, der das Schicksal seiner kirgisischen Heimat mit dem Aufbruch in den Sozialismus literarisch packend verwob. Sein Vater war 2. Sekretär der Kommunistischen Partei Kirgisiens gewesen und in den Stalinschen „Säuberungen“ getötet worden. Der Sohn Tschingis war im Zentralkomitee der KP seines Landes, hatte 1968 den Staatspreis der UdSSR erhalten und firmierte als glänzender Vertreter der Kunst der Sowjetunion auf seinen zahlreichen Auslandsreisen. Als ein Freund des Münchner Gastgebers, der Verfasser dieser Zeilen, dem großen, die Menschen seiner kirgisischen Heimat so eindringlich und emphatisch schildernden Schriftsteller entgegenhielt, die Sowjetunion würde ihr Versprechen, den Sozialismus aufzubauen, nicht einhalten, entgegnete Aitmatow: „Wir haben die technologische Struktur für den Sozialismus aufgebaut – die sozialen Bedingungen für das Gedeihen des sozialistischen Menschen müssen wir noch schaffen.“

Auch der erste Teil dieses Eingeständnisses stimmte ja nicht. Die Sowjetunion hatte nicht mithalten können im Kalten Krieg, der das ökonomisch viel kleinere Land zu Rüstungsausgaben zwang, die ihm beim Aufbau der Wirtschaft bitter fehlten. Neben der bürokratischen Verkrustung und der Korruption mancher Bürokraten war dies ein Hauptgrund, warum es 1989/90 zur „Implosion“ des Systems kam – es streckte die Waffen auf allen Gebieten und seine Wirtschaft wurde in einem korrupten Ausverkauf an die cleversten und brutalsten Zugreifer „privatisiert“. Treibende und dirigierende Kraft dieser Art der Überführung in ein kapitalistisches Land waren clevere, sehr anpassungsfähige Teile der alten Eliten („die roten Direktoren“) sowie die Sicherheitsdienste, die ein zuverlässiges Bild über die Verwendungsfähigkeit der Kader besaßen und sich selbst bei der Verteilung der Pfründe nicht vergaßen. Der starke Mann hinter dem trunksüchtigen Jelzin wurde bald Wladimir Putin, Ex-Oberstleutnant des KGB und Ex -Vizebürgermeister von St. Petersburg. Wladimir Putin war 1996 in die Kreml-Verwaltung eingestiegen, 1997 wurde er Vize-Kanzleileiter von Präsident Jelzin, 1998 Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, 1999 ernennt ihn Jelzin zum Ministerpräsidenten. 2000 wird er mit dem Segen Jelzins mit 52 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt.

Wladimir Putins siegreiche Parole im Wahlkampf 2000 lautete „Nie wieder die Neunziger Jahre“. Das erste Jahrzehnt nach dem Einsturz des Sozialismus war eines der rasanten und ebenso chaotischen wie kriminellen Privatisierung, was zu einer Rückentwicklung der Industrie und zu einem sprunghaften Anstieg der Armutsraten führte. Die von der Weltbank durchgezogenen Reformen ließen die Zinsen in die Höhe schießen, der bankrotte Staat stellte seine Lohnzahlungen ein, die wirtschaftlichen Abläufe wurden auf den Tauschhandel zurückgeworfen, der 1998 mehr als 50 % des zwischenbetrieblichen Handels ausmachte. Das Pro-Kopf-Einkommen der Russen stürzte von 1990 bis 2000 um rund 40 % ab. Diesen Absturz konnte Putin im ersten Jahrzehnt seiner Präsidentschaft (er blieb bis 2008 im Präsidentenamt, musste dann der Verfassungsvorschrift von nur zwei aufeinanderfolgenden Amtsperioden einer Person weichen und wurde Ministerpräsident, ehe er 2012 wieder zum Präsidenten gewählt wurde) aufhalten und einen neuen Aufschwung bewirken: Von 2000 bis 2010 wuchs das Pro-Kopf-Einkommen auf fast das Doppelte. Die Reallöhne stiegen jährlich um 10 % und mehr.

Ein wesentlicher Faktor war die Strategie der Putin-Regierung, Exportgewinne zu nutzen, um mit hohen Investitionen in die Wirtschaft einzugreifen und das öffentliche Eigentum wiederzubeleben. Das Tempo der Privatisierung wurde gedrosselt, in einem Präsidialerlass von 2014 wurde eine Liste von 1.064 Unternehmen aufgestellt, die nicht privatisiert werden durften und eine Reihe von Aktiengesellschaften aufgeführt, an denen der Staatsanteil nicht verringert werden durfte. Der damals reichste Oligarch, Chodorkowski, wurde von Putin in einem TV-Streitgespräch heftig angegriffen und schließlich wegen Unterschlagung und Steuerhinterziehung für acht Jahre ins Straflager geschickt (a.a.O.). Der Yukos-Konzern Chodorkowskis wurde aber nicht etwa verstaatlicht, sondern zu einem größeren Teil an Mitglieder der Seilschaft aus dessen St. Petersburger Zeit verhökert.

Putin hat die Oligarchenschar neuformiert – Personen mit öffentlichen Bekenntnissen zum Westen wie Chordorkowsky wurden inhaftiert oder ins Exil getrieben, St. Petersburg-Gefolgsleute wie die Brüder Rotenberg, Georgi Timotschenko und Waleri Golubow bemächtigten sich u.a. des Gazprom-Konzerns, der deutsche Ex-Kanzler Schröder wird sie gut kennen.

Ziel der Putin-Mannschaft war – neben der Selbstbedienung an staatlichem Vermögen – die Umstrukturierung der Produktionsmittel: die Gewinne aus der Rohstoffvermarktung sollten genutzt werden, um „Bereiche der Metallurgie, Luftfahrt, Automobile, Nanotechnologie, Kernkraft und natürlich Militärausrüstung wettbewerbsfähig“ zu machen.

Dieses Ziel, die weitgehend verrottete industrielle Basis zu modernisieren und so sich gegenüber der internationalen Konkurrenz behaupten zu können, ist gründlich verfehlt worden. Aus dem Absturz im Gefolge der Finanzkrise 2008-2009 hat sich die Wirtschaft nie richtig erholt. Auf die Depression der Neunziger Jahre und dem kräftigen Aufschwung des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts folgte der Einbruch im Gefolge der Finanzkrise 2008/2009 mit der seitdem anhaltenden Stagnation. Dieser Trend untergräbt die Zustimmung der Bevölkerung zum Putin-Regime und verstärkt dessen Tendenz, mit nationalistischen Manövern die Russen hinter der nationalen Flagge zu versammeln.

Das Problem heute rührt nicht nur von den unzufriedenen Massen her, sondern auch von den Oligarchen, deren Kapitale durch die Sanktionen des Westens nicht mehr die gewohnten Profite abwerfen und die sich deshalb ihre Haltung zu Putin neu überlegen. Sollte Putin seine Kriegsziele spektakulär verfehlen, müsste er eine „nationale Demütigung“ erleiden, bekäme er kontra von allen bedeutenden politischen Seiten. Bei den Massen würde seine nationalistische Demagogie, da er seine Ziele verfehlt, sich gegen ihn wenden, bei den Oligarchen, den Wirtschaftskapitänen, verlöre er an Unterstützung.

Wer sind die Oligarchen?

Entstanden sind die Oligarchen als Eigentümer und Dirigenten der großen Kapitale in der Präsidentschaft Jelzins. Dessen Vizepremier Vladimir Potanin legte 1995 seinen Plan „Share for Loans“ (Aktien gegen Kredite“) vor. Ein Konsortium von Banken bot dem Staat einen Kredit über 1,8 Milliarden Dollar an, der durch Anteile an Staatskonzernen abgesichert wurde. Nach einjähriger Laufzeit sollte der Staat die Anteile zurückkaufen können. Das konnte er planmäßig nicht, auf sogenannten Auktionen wurden die Anteile an Günstlinge aus Wirtschafts-, Sicherheits- und sonstigen Politikbehörden gezielt und preisgünstig verhökert. Die Politikmaschine gebar die neue Wirtschaftselite selbst. Wie korrumpiert dieser Mechanismus war, zeigt sich schon darin, dass der größte Nutznießer dieser Verscherbelung des Volkseigentums an die Oligarchen Potanin selbst war, der Organisator des Prozesses.

Das Beispiel Roman Abramovich

Ein Musterbeispiel dieser neuen Herrschaftskaste ist der Aufstieg von Roman Abramovich, des bis vor kurzem umjubelten Eigner des Londoner Fußballklubs FC Chelsea. Abramovich wurde schon als Student Eigentümer einiger Kleinunternehmen, bevor er von 1993 bis 1996 Büroleiter eines Schweizer Rohölhändlers wurde. Seine wichtigste Qualifikation aber war seine Freundschaft mit Jelzins Tochter. In der zweiten Präsidentschaft Jelzins wurde der smarte, von Westspezialisten geschulte Ölhändler dann Chef von zahlreichen Öl- und Stahlunternehmen, die heute bei Forbes mit rund 15 Milliarden Dollar zu Buch stehen.

Unter den Oligarchen mag Abramovich die längste Luxusyacht besitzen, andere haben aber ein weitaus größeres Vermögen. Potanin wird mit 28 Milliarden Dollar verbucht, Alekperow und Bogdanow, zwei „rote Direktoren“ (früher im Kollektiv der Direktor, jetzt im privaten Kapitalbereich ganz vorne), spielten in der Potanin-Liga, auch der Sibneft-Chef Beresowski zählt dazu und vor allem einer: der Yukos-Eigner Chodorkowski, die bestimmende Figur, bis ihn Putin 2004 absägte und sein Vermögen neu verteilen ließ, und der Petersburger Clan greift in großem Stil ins Volksvermögen.

Und Putin? Ist in keiner Reichenliste zu finden, auch nicht das kleinste bisschen Vermögen ist irgendwo auf seinen Namen notiert. Was zeigt, dass Putin offenbar zu den politisch Klügsten seiner Kleptokratenschar zählt, die in Russland gezeigt hat, dass es noch einen schnelleren Weg zum Super-Reichtum gibt als die Ausbeutung der Arbeit: Man stiehlt den vorhandenen Reichtum und nennt das Ganze dann Überführung in Demokratie und Leistungsgesellschaft. Diese Schar der Oligarchen, die Herrschaft der wenigen und supergroßen Kapitalbesitzer mit ihrem Frontmann Putin besteht aus einem Geflecht von Personen aus Politik, Verwaltung und Sicherheitsinstitutionen, die in Russland eine bestimmende Rolle spielen und denen auch der vormalige KGB-Oberstleutnant Wladimir Putin entspringt. Die sich den Zugriff auf die sozialistische Erbmasse sicherten, besitzen heute Energie- und sonstige Rohstoffe, auch die Stahl- und Metallproduktion sowie Chemie und Düngermittel, das Transportwesen und große Bereich der neuen Technologien. Also Bereiche, die in der globalen Wirtschaft unterschiedlich angesiedelt sind und deshalb auch unterschiedliche Interessen entwickeln.

Der Druck des Westens hält die Oligarchen zusammen

Dass diese Unterschiedlichkeit nicht längst aufgebrochen ist, ist auf die Politik des Westens zurückzuführen. Denn statt 1990 eine friedliche Koexistenz mit Russland anzustreben, worin die Interessen der beiden Seiten ihren Platz hätten, entwickelte die Nato ihr Programm der Osterweiterung.

In knapp 20 Jahren wurden in regelmäßigen Abständen Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Albanien, Kroatien, Montenegro und Nord-Mazedonien in die Nato aufgenommen – und die DDR wurde der BRD einverleibt und damit auch zum Nato-Gelände gemacht. Gemessen an dem Versprechen an Gorbatschow, die Nato würde sich keinen Inch weit nach Osten verlagern, ist das ein gewaltiger und die Russen aufs Äußerste beängstigender Vertrauensbruch.

Auf diese Tatsache hinzuweisen, ist fundamental für eine Friedenspolitik klarer Orientierung. Wer die stets engere Umklammerung Russlands durch die westliche Militärmacht als entscheidenden Hintergrund der russischen Aktion leugnet, leistet dem weiteren Marsch der Nato und der USA nach Osten und der damit verbundenen Hochrüstung und Kriegsgefahr Vorschub. Die Beschlüsse des deutschen Bundestags, die jährlichen Rüstungsausgaben um ein Drittel zu erhöhen und dazu noch ein „Sondervermögen“ von 100 Mrd. Euro für die Rüstung anzulegen, weist ebenso in die Richtung weiteren Vormarschs nach Osten wie die Aufstellung einer „schnellen militärischen Eingreiftruppe“ durch die EU, zu der Deutschland „das militärische Herzstück“ stellen soll.

Die Ukraine zieht die einheimische korrupte Machtgruppe dem System Putin vor

Dass Putin und Russland bei diesem Marsch „den Takt angibt“, ist ein schlimmes Missverstehen der Lage. Wladimir Putin hat an der Spitze seiner räuberkapitalistischen Oligarchenclique der Nato ein donnerndes „Bis hierher und nicht weiter“ entgegengerufen. Selbst dies verhallt im Knirschen seiner „militärischen Spezialoperation“. Die Waffenhilfe der Nato und der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung, die den dreisten Brudervolksanspruch von Anfang an durchschaute und ihre eigene korrupte Herrschaftsclique einer russischen Militär-Vormacht immer noch vorzieht, führt jede Blitzkrieg-Phantasie ad absurdum. Putin steckt fest. Die Frage ist, wie er aus dieser Lage herauskommt, die offenbar in einen Dauerbeschuss der Großstädte übergeht, bevor eine vertragliche Lösung möglich wird. Deren Bestandteile müssten sein: Die Ukraine bleibt selbständig und neutral, wird kein Nato-Mitglied; Russland zieht seine Truppen ab, die Krim bleibt russisch, in den beiden autonomen Regionen des Donbass werden Volksabstimmungen über ihre staatliche Zugehörigkeit durchgeführt; ein System von Friedensregeln für Mittel- und Osteuropa wird angestrebt.

Die Reihe der von den Oligarchen kontrollierten Kapitale, die von stabilen Außenbeziehungen abhängt, ist relativ groß. Wer Öl und Gas verkauft, wie viele von ihnen, ist an den riesigen Märkten des Westens interessiert. Andererseits ist der Weltmarkt auch außerhalb des Dollarraums groß genug, um Absatzeinbußen im Westen auszugleichen. Eher sind Kapitalisten betroffen, die von der einheimischen Nachfrage abhängen. Die Inflation greift um sich, mit ihr die Armut und der allgemeine Rückgang der kaufkräftigen Nachfrage. So hat Oleg Tinkow, ein typischer Oligarch mit einem Milliardenvermögen vor allem im Handel und mit Kindern auf englischen Internaten und Universitäten, auf Instagram den Krieg und die Tötung unschuldiger Menschen als „undenkbar und inakzeptabel“ bezeichnet. Der vielzitierte Evgeny Lebedev – offener Brief an Putin, den Bruderkrieg sofort zu beenden – ist der Sohn eines KGB-Agenten, der es nicht nur zur britischen Staatsbürgerschaft, sondern auch zum Lord gebracht hat. Er besitzt zwar Milliarden und gewiss auch einige in Russland, aber er gehört mit Sicherheit nicht zum Zirkel, der in Moskau die Politik lenkt.

Das System Putin: Oligarchen und Sicherheitsapparat

Dieser Zirkel, diese Nomenklatura aus korrupten Sicherheitsleuten, Wirtschaftsfunktionären, Militärs und fungierenden Kapitalisten hat die Ukraine-Aktion geplant, vorbereitet und durchgeführt. Deren Ziel war offenbar der schnelle Sieg über das Kiew-Regime, die Installierung einer Marionettenregierung mit der Erwartung, die Ukrainer stimmen dem „regime change“, wenn auch nicht begeistert, aber doch duldend zu. Der gesamte Plan war unrealistisch und er hat verhindert, dass man sich auf ein längerfristiges Vorhaben eingestellt hat. Weder klappt der Nachschub, noch primitivste Formen der Versorgung der Truppen.

Der von vielen herbeigesehnte Sturz Putins von innen, durch den eigenen, nun enttäuschten und besorgten Machtapparat scheint dennoch eher unwahrscheinlich. Begonnen hat die Benennung der Verantwortlichen im Sicherheits- und Militärapparat, einschließlich höchster „Würdenträger“, und ihre öffentliche Demütigung durch Putin bei landesweit ausgestrahlten Fernsehprogrammen. Eine „Säuberungswelle“ steht bevor, die von der großen Mehrheit der neuen Eliten getragen wird, die sich ihrer prekären Lage gegenüber ihren kapitalistischen Konkurrenten im Westen bewusst sind. Sollte das Putin-System stürzen, wird es zu einer Neuverteilung der Reichtümer Russlands kommen – diese Befürchtung hält die Oligarchenclique zusammen und bei Putin, bei aller Kritik an dessen kriminellen, aber auch dilettantischen Vorgehen in der Ukraine. Auch die Jagd des Westens auf Vermögensteile der Oligarchen im Westen treibt sie eher Richtung Putin-Russland. Doch auch wenn es in Moskau nicht zu einem Personen-Wechsel an der Spitze kommt, wird sich Russland schließlich, da die Ukraine militärisch nicht zur Aufgabe gezwungen wird, auf eine Verhandlungslösung einstellen müssen. Und Russland kann froh sein, wenn China dabei eine bestimmende Rolle spielt.

Womit wir zu unserem zweiten Komplex kommen, der in einem weiteren Teil dargestellt wird.

Wir (die traditionelle Linke), seien nach wie vor im „reaktionären Lagerdenken“ gefangen, stellten uns in der „Systemkonkurrenz lieber auf die Seite einer rotgelackten national-kapitalistischen Einparteienherrschaft“ statt auf die der bürgerlichen Demokratie des Westens. So lauten die Vorwürfe aus dem Lager der Mainstream-Medien und -Parteien, sie rühren aber auch von FreundInnen und GenossInnen im Lager der Friedensbewegung und der gesamten Linken.

Frank Deppe, marxistischer Politikprofessor emeritus der Uni Marburg, nennt ein Verständnis der internationalen Konfliktlinien in Begriffen des Kalten Krieges „naiv“. Es ist mehr als das – es ist falsch und kann gegebenenfalls gefährlich sein. Der alte Block des Westens ist zwar immer noch ein von den USA dominierter Block, dessen Einheit aber erst durch eine Bedrohung von außen, wie jetzt im Fall der Ukraine, hergestellt wird.

Europa, vor allem Frankreich und Deutschland, betonen eine größere Eigenständigkeit Europas, eine eigene Armee, ein größeres Gewicht in der Nato. Und selbst jetzt drücken sich die Widersprüche aus im Beharren der Deutschen auf ihren Importen von Energierohstoffen aus Russland. Der Versuch der deutschen Regierung, die Energieabhängigkeit von Russland zu beheben durch vermehrte Importe aus den arabischen Despotien demonstriert, wie gehaltlos das Gerede der US-Regierung ist, es ginge weltweit um das Gegenüber von Demokratien gegen Autokratien. Das diese Epoche kennzeichnende Kriterium ist nicht die Haltung zur „Demokratie“, sondern die realpolitische Erwägung der Länder, ihr Interesse lieber beim Stärkepol USA zu suchen oder aber bei der am schnellsten wachsenden Supermacht China. Nach Kaufkraft gemessen produzieren die USA ein gutes Fünftel des gesamten Weltprodukts. US-Kapitalisten besitzen erhebliche Teile des Kapitals in anderen entwickelten Ländern des Kapitalismus, sie besitzen den größeren Teil der weltweiten Lieferketten. Diese stellen die neue Form der internationalen Ausbeutung der Länder des Südens dar.

Das Beispiel Apple: Die neue Form der globalen Ausbeutung

Ein Beispiel dafür ist das Produktionsnetzwerk des Apple-iPhone. In den USA und in China sind etwa gleichviele Menschen für seine Produktion beschäftigt. Auf die Beschäftigten in den USA entfällt das Dreißigfache der Lohnsumme ihrer chinesischen Kollegen. In den USA sind Händler- und Produktentwickler beschäftigt, in China ArbeiterInnen am Fließband[1].

Das Beispiel Apple demonstriert mehrere Seiten der neuen internationalen Ordnung. Das westliche Kapital ist in großem Ausmaß involviert in Ländern quer über den Globus, weithin ungeachtet des Umstands, zu welchem Lager

sie gehören mögen, „Demokratie“ oder „Autokratie“, USA-Block oder China-Block. Die Länder des Südens, selbst China, werden systematisch benachteiligt bei dieser Art von internationaler Arbeitsteilung. Diese benachteiligten Länder werden im internationalen Magnetfeld vom Pol China angezogen, um dessen Belt & Road-Initiative (die Neue Seidenstraße) herum wächst ein stärker werdender Faktor, der sich nach und nach zu einem „Block“ entwickeln kann. Heute indes ist seine Kohäsion längst nicht mit der Festigkeit eines Blocks zu vergleichen.

Wie fragil die Gruppe ist, lässt sich ablesen am Abstimmungsverhalten der Staaten, als in den Vereinten Nationen das Verhalten Russlands gegenüber der Ukraine zur Abstimmung stand. Fünf Länder haben die Verurteilung Russlands abgelehnt, 141 Länder haben, angeführt von den USA, ihm zugestimmt, 35 Länder haben ihn abgelehnt. In dieser Gruppe zeichnet sich die Kontur einer Anti-US-Kraft ab. Es wäre aber völlig verfrüht, es wäre falsch, hier schon von einem Block zu sprechen, der sich um China herum gebildet hätte. Es waren Länder, die ihre Erfahrungen gemacht haben mit dem westlichen Imperialismus: Vietnam und Kuba, Nicaragua und El Salvador, vom Kongo und Zimbabwe, von Algerien und Angola, von Tansania und Irak. Selbst einige dieser Länder schwanken je nach Konfliktstoff zwischen dem Angebot des Westens und dem Chinas. Sie sind auch unterschiedlich eingebunden in die Globalisierungsstrukturen von wirtschaftlicher Produktion, Handel, Kultur, Militär.

Indien und Pakistan – nicht mehr „Sklave des Westens“?

Ein Musterbeispiel liefern Indien und Pakistan, zwei Länder, die für die Machtverteilung in Zentral- und Südasien von enormer Bedeutung sind. Beide haben sich wie China bei der Abstimmung enthalten und damit signalisiert, dass sie sich weder von der Propaganda des Westens noch von der Russlands einspannen lassen. Auf die Mahnung der EU, man solle eine kritischere Haltung einnehmen, entgegnete Pakistans Premierminister Imran Khan mit der Abfuhr, dass man kein Sklave des Westens sei. Im Krieg in Afghanistan noch Partner der USA, bahnt sich nun eine chinesisch-russisch-pakistanische Dreiecksbeziehung an. Russland kann die dringend benötigten Energierohstoffe liefern, der „China Pakistan Economic Corridor“ bringt enorme Investitionen in Häfen, Straßen und Energiesysteme. Dem über das Unrecht in der Ukraine klagenden Westen halten die pakistanischen Eliten seine Doppelmoral vor, der gerade das von ihm zerstörte und zerbombte Afghanistan verlassen musste.

Noch bedeutsamer für die internationale Machtverteilung ist die künftige Haltung Indiens, die Nr.2 der Welt an Bevölkerungsreichtum, die Nr. 3 nach dem Bruttoinlandsprodukt (BIP – nach Kaufkraftparitäten). Das Land, das einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebt, versucht in einem schwierigen Balanceakt Äquidistanz zu den großen Polen China und USA zu erringen und zu halten. Es gehört einerseits dem Quadrilateralen Sicherheitsdialog mit Australien, Japan und den USA (Quad) an, verweigert aber die Teilnahme am gegen China gerichteten Militärbündnis AUKUS (Autralien, United Kingdom=England, USA). Vielmehr ist Indien Mitglied in der von China dominierten Shanghai Cooperation Organisation und auch von BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), die größte moderne Organisation der „Blockfreien“, die schon 2009 auf ihrem damaligen Gipfel in Jekaterinburg kundtaten: „Wir wollen eine demokratischere und gerechte multipolare Welt auf der Grundlage des Völkerrechts, der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Handelns und kollektiver Entscheidungen aller Staaten.

Putin-Russland hat mit dem Militärüberfall auf die Ukraine diese Prinzipien grob verletzt, Indien will sie aber geltend machen beim Versuch der Äquidistanz zu China und zu den USA. Indien hat sich mit den BRICS-Grundsätzen gegen die USA gestellt, deren Präsident Joe Biden den Dominanzanspruch formuliert hat: „Ich will dafür sorgen, dass Amerika wieder die Welt führt“, weil „keine andere Nation die Fähigkeit dazu hat.“[2] Hingegen finden die Inder Zustimmung beim chinesischen Staats- und Parteichef Xi: „Wir dürfen die Regeln nicht durch ein oder einige weniger Länder festlegen lassen, die sie den anderen aufzwingen oder Unilateralismus von gewissen Ländern festlegen lassen, die der ganzen Welt die Richtung vorgeben wollen.

Die Gegenpole USA und China

Nach dieser Sicht haben wir eine Zweiteilung der Welt in einen USA-Pol, um den herum sich die anderen entwickelten Volkswirtschaften gruppieren, und in ein gegnerisches Feld um den Pol China, der die weniger entwickelten Nationen anzieht. Das Feld China umfasst die mit Abstand meiste Bevölkerung (die fünf BICS-Länder allein stellen 42 % der Weltbevölkerung), aber es bringt nur die Hälfte des BIP der Gegenseite auf. Der schwache Zustand ihrer Volkswirtschaften produziert in einer globalisierten Weltwirtschaft spezifische Interessen gegenüber den reichen Ländern, die sie in der globalen Auseinandersetzung eher an die Seite Chinas führen. Mit dem Ausbau der Road & Belt-Initiative, der „neuen Seidenstraße“, bietet China eine Möglichkeit vom Zugriff der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften geschützter wirtschaftlicher Entwicklung, die bereits von über 100 Nationen genutzt wird. Das bedeutet nicht, dass sie sich bereits zu einem Block formieren. Aber sie stärken das Gewicht Chinas, das als einzige Atommacht nicht den Einsatz von Atomwaffen in seiner Militärplanung vorsieht; und dass sich in seiner Außenpolitik strikt an die Gebote der friedlichen Koexistenz hält, die ausdrücklich die friedliche Kooperation auch systemischer Alternativen verlangt. Eine Friedensordnung taugt nur etwas, wenn sie unterschiedliche, ja konträre Auffassungen aushält und auf der friedlichen Austragung der Konflikte besteht.

Die Vorstellungen der USA, sie seien eine außergewöhnliche, alle anderen überragende Nation“, der „Exzeptionalismus“, unterscheiden sich fundamental von der chinesischen, es geht um friedliche Koexistenz, für „ein gutes Leben für alle“.

Was aber ist mit Russland?

Russland spielt bei diesem Aufeinandertreffen internationaler Kräfte eine große Rolle. Nach den BIP-Zahlen nach Kaufkraftparitäten (also ohne die Umrechnung in Dollar), nimmt Russland den sechsten Rang ein, direkt hinter Deutschland. Seine Diffamierung durch den damaligen bundesdeutschen Kanzler Schmidt als „Obervolta mit Atomraketen“ ist also einerseits neiderfüllte Häme. Andererseits ein richtiger Hinweis: Es sind die Atomraketen, die den besonderen Rang Russlands ausmachen. Das Atomwaffen-Arsenal – Raketen und Sprengköpfe – hält mit dem der USA mit. Die USA haben einen zwölfmal höheren Rüstungsetat als Russland, China hat einen viermal größeren, doch Russland hat den höchsten Standard und dieselbe Menge an Atomwaffen wie die USA. Russland garantiert das Patt der beiden großen „Machtblöcke“, liefert den Schutzraum für die eigenständige Entwicklung junger Nationen. Machte man sowjetische Kollegen in internationalen Organisationen früher aufmerksam darauf, dass sie in ziemlich abgerissener Kleidung daherkämen, dann sagten sie: „Entschuldigen Sie bitte, mein zweiter Anzug hängt in Angola, der dritte in Kuba.“ Diese objektive Schutzfunktion nimmt Russland immer noch wahr.

Aber der Anspruch, man arbeite an einem System friedlicher Koexistenz, an einem guten Leben für alle, ist angesichts der Flüchtlinge, der verzweifelten Menschen in Bunkern, der Leichensäcke, die nach dem russischen Angriff herausgetragen werden – dieser Anspruch ist für das Russland Putins dahin.

Als die Fragen von Autonomie und Selbstbestimmung der vielen Völkerschaften in die junge Sowjetrepublik hineinstießen, wandte sich Lenin 1922 vehement gegen die großrussischen Tendenzen auch in seiner Partei: „Dem großrussischen Chauvinismus erkläre ich hiermit den Kampf auf Leben und Tod.“[3]

Putin, alles andere als ein Marxist, hat die Worte des alten Bolschewiken in den Wind geschlagen. Und er hat sich völlig verrannt – militärstrategisch, politisch, auch ideologisch. Diese krude These, die Ukraine habe keine nationale Identität, sie sei eine künstliche Schöpfung der frühen Sowjetunion, war noch nie haltbar, und Putins Invasion hat das Nationalbewusstsein noch geschärft. Russland muss, wie schon dargelegt, zu einer Friedensregelung bereit sein, die die nationale Selbstbestimmung der Ukraine festhält und dagegen den von den USA und der Nato bestätigten Verzicht der Ukraine auf Nato-Mitgliedschaft festlegt. Die Bevölkerung der Regionen Krim und Donbass werden in Abstimmungen über ihre staatliche Zugehörigkeit entscheiden. Im Rahmen der KSZE werden Regelungen der Friedenssicherung und der Abrüstung in Europa angestrebt. China, mit dem Russland in vielen Verträgen als ein prinzipieller Partner verbunden ist, sollte auf den westlichen Nachbarn einwirken, zu Positionen des Völkerrechts, wie sie auch von BRICS bekräftigt wurden, zurückzukehren. Mehr noch als die Sanktionen des Westens wird das Gewicht Chinas das Putin-Russland zu einer Position bewegen, die sowohl das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer wie auch das Sicherheitsbedürfnis Russlands zur Geltung bringt.

Anmerkungen:

[1] Fischer/Reiner/Staritz (Hrsg.), Globale Warenketten und Ungleiche Entwicklung. Wien 2021, S. 11
[2] Peter Wahl, Der Ukraine-Krieg und seine geopolitischen Hintergründe. Attac, AG Globalisierung & Krieg; Conrad Schuhler, Das Neue Amerika des Joseph R. Biden, S. 111 ff
[3] Helmut Dahmer, Stalin, Putin und eine chauvinistische „Halt‘s Maul-Politik“. Lunapark 21, 57/03/2022, S. 52

Der Beitrag erschien beim https://www.isw-muenchen.de/ isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V., Johann-von-Werth-Straße 3, 80639 München

Conrad Schuhler ist Wirtschaftswissenschaftler, war lange in leitenden Funktionen der DKP, Mitherausgeber der Kulturzeitschrift „Kürbiskern“ und ist seit 2004 Leiter des ISW (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung) in München

Wir danken dem Autor für das Abdruckrecht

Wider eine militärische „Lösung“ des Ukrainekriegs

– Wir stellen gewerkschaftliche , linke , friedenspolitische Stimmen gegen die aktuelle Kriegseskalation zur Diskussion –

Gemeinsame Stellungnahme von Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler, Winfried Wolf (erschienen in Lunapark 9.Juni 2022)

Unsere Vorbemerkung : „Meine empörende „Äquidistanz“ gegenüber Kiew und Moskau entspringt meiner Überzeugung, dass der russische und der ukrainische Staat sich tatsächlich in jeder Hinsicht extrem ähnlich sind und zwischen beiden keine so bedeutenden Unterschiede bestehen, dass SozialistInnen sich ernsthaft entschieden mit einem von beiden solidarisieren könnten. Die Ukraine und Russland sind ja tatsächlich gewissermaßen spiegelbildliche Staaten, die genau gleichzeitig und genau auf die gleiche Weise aus genau demselben Vorgängerstaat entstanden sind: Als Fragmente der Sowjetunion, in denen eine neue Mafia-Kapitalistenschicht durch Ausplünderung der schlagartig privatisierten sowjetischen Planwirtschaft die faktische Herrschaft übernahm. Seitdem sind diese neokapitalistischen Staaten beide zwei der sozial ungleichsten Staaten der Erde mit einer armen bis extrem armen arbeitenden Bevölkerung und an der Spitze einer wahnwitzig reichen Schicht herrschender Bosse von Mafiaclans.“ Fabian Lehr , östereichischer Blogger, 10.Juni 2022. Man ersetze den Begirff Mafiaclans duch Oligarchen (PeterVlatten).

Hier die Stellungnahme von Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler, Winfried Wolf:

Wider eine militärische „Lösung“ des Ukrainekriegs

Die Invasion in die Ukraine ist ohne jede Einschränkung oder Relativierung zu verurteilen. Gleichzeitig sind wir fest davon überzeugt, dass die rein militärische Reaktion auf Putins verbrecherischen Krieg ein Irrweg ist, mit dem das menschliche Leid immer mehr vergrößert wird.

Zur Einordnung der Invasion und der Reaktion des Westens

Der Kreml verfolgt seit Jahren eine imperialistische Politik zum Erhalt und zur Ausdehnung seiner Machtbasis (Tschetschenien, Georgien, Syrien, …). In Verbindung mit der extraktivistischen Wirtschaftsstruktur in Russland ist die im Kreml konzentrierte Macht die Grundlage für den Reichtum der russischen Oligarchen, leidtragend ist die große Mehrheit der russischen Bevölkerung.

Ohne dass damit der russische Krieg gegen die Ukraine gerechtfertigt werden könnte, bleibt dreierlei festzuhalten: (1) Die NATO übertrifft mit ihren Kriegen u.a. in Afghanistan, Irak und Libyen Russland noch hinsichtlich imperialistischer Politik. (2) Die Expansion der Nato seit 1990 nach Osten ist und bleibt Ausdruck einer aggressiven Politik. (3) Die USA haben die Ukraine in jüngerer Zeit massiv hochgerüstet.

Nach mehr als drei Monaten Krieg wird zunehmend deutlich, für welche Ziele der Westen diesen Krieg zu nutzen beabsichtigt. Sicher sind sich die Regierungen der meisten europäischen NATO-Staaten der Eskalationsgefahr bewusster als der transatlantische Teil. Schließlich können auch ohne einen Atomkrieg europäische Länder von einer Ausdehnung des Kriegs betroffen werden. Aber diese Regierungen stellen ihre Befürchtungen hintan und unterstützen die US-Strategie. Die USA – und in ihrem Kielwasser die übrigen NATO-Staaten – setzen auf eine bedeutende Verschiebung der geopolitischen Kräfteverhältnisse. Ihr oberstes Ziel ist nicht die Verteidigung der ukrainischen Souveränität und schon gar nicht die Rettung von Menschenleben, sondern die Nutzung des ukrainischen Schlachtfelds, um Russland nachhaltig zu schwächen. US-Verteidigungsminister Austin erklärte in Kiew, dass „Russland so weit geschwächt werden soll, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann.“

Es ist offensichtlich: Die US-Strategie ist mit einem frühestmöglichen Waffenstillstand unvereinbar. Hinzu kommt das massive Interesse der weltweiten Rüstungskonzerne bzw. des militärisch-industriellen Komplexes an der einer möglichst langen Fortsetzung dieses Kriegs.

Zu fordern ist der sofortige Stopp aller Kampfhandlungen. Dies steht in direktem Gegensatz zur deutschen Politik. Die von Scholz und anderen ausgerufene Wende (sprich: die verstärkte Militarisierung) führt zu neuem Wettrüsten und bekanntlich führen mehr Waffen zu mehr Kriegen, von den sozialen, finanziellen und ökologischen Folgen noch gar nicht zu reden.

Die NATO kann ihre Zielsetzungen deswegen so gut verfolgen, weil das Kiewer Regime von vornherein die militärische Antwort auf die Invasion gewählt hat und sie auch Anfang Juni keine Bemühungen um einen Waffenstellstand erkennen lässt. Alles zurückerobern zu wollen (einschließlich der Krim und des Donbass), bedeutet eine Fortsetzung des Kriegs und erhöht die Gefahr einer Eskalation … bis hin zu einem Atomkrieg. Ein gefährlicher Schritt in diese Richtung kann etwa in der Form erfolgen, dass Waffenlieferungen auf polnischem oder sonstigem NATO-Territorium mit Raketen beschossen werden.

Nach einigen Erfolgen der ukrainischen Armee und der Territorialverteidigung in den ersten Wochen des Kriegs ist mit der verstärkten Offensive der russischen Armee seit Mitte Mai eine gewisse Ernüchterung eingetreten, auch bei eingefleischten Bellizisten. Da die NATO aufgrund der unberechenbaren und unkontrollierbaren Reaktion des Kremls nicht direkt mit eigenen schweren Waffen und Soldaten (oder gar mit einer Flugverbotszone) eingreifen kann, stellt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt – sprich: ab welchem Gebietsgewinn der russischen Armee – sich die NATO doch auf einen Waffenstillstand umorientieren will.

Ende Mai/Anfang Juni stehen sich innerhalb der NATO zwei Positionen gegenüber: Die US-amerikanische (und mehr noch die britische) Position ist immer noch die, Russland aus der gesamten Ukraine vertreiben zu wollen. Auf diese Linie ist auch Selenskyj eingestimmt, was er mit seiner konkreten Politik und seiner wochenlang hochgepeitschten kriegerischen Rhetorik zum Ausdruck bringt. Die Gegenposition (von Kissinger und anderen) wird erst dann stärker werden, wenn eine Perspektive der Vertreibung der russischen Streitkräfte an Durchsetzungswahrscheinlichkeit verliert. Ein Nichterreichen dieses Ziels wird dann vom Kiewer Regime – wie auch von den meisten Kräften im Westen und vor allem den Medien – damit begründet werden, dass es nicht genug Lieferungen schwerer Waffen gibt. Dabei werden die zwei Dilemmata in diesem Krieg tunlichst ausgeblendet:

Putins Dilemma ist völlig klar: Nachdem sein Ziel einer Einnahme Kiews (und eines Regimewechsels in der Ukraine) gescheitert ist, kann er nicht ohne Gefährdung seiner (und der Oligarchen) Machtposition die russischen Truppen ohne erkennbaren Erfolg abziehen. Also wird er ‒ wenn ihm keine Verhandlungsperspektive geboten wird ‒ notfalls eskalieren.

Das Dilemma für den westlichen Imperialismus ist aber nicht minder klar: Da die NATO nur geopolitische Ziele verfolgt (und nicht die Rettung von Menschenleben als Ziel hat), will sie zwar das Schlachtfeld Ukraine für die eigenen Ziele nutzen, aber sie will gegenüber der Atommacht Russland keine unbeherrschbare Eskalation betreiben und deshalb auch keine größeren Mengen an eigenen schweren Waffen oder gar Truppen in die Ukraine schicken. Auf diese Weise ist ihr realer Handlungsspielraum begrenzt. Und genau dies will Selenskyj nicht einsehen.

Die Gewinner stehen schon fest

Ganz gleich, wann es zu einem Waffenstillstand kommt (ein Friedensvertrag ist überhaupt nicht absehbar), so stehen heute schon folgende Gewinner fest:

  • der westliche Imperialismus, verkörpert durch die NATO;
  • die Rüstungsindustrie (noch vor wenigen Monaten hätten sich die Waffenschmiede – nicht nur in Deutschland – ein solches Geschenk des Himmels nicht vorstellen können);
  • alle Militaristen – und das nicht nur in den imperialistischen Staaten.

Die Verlierer stehen ebenfalls schon fest

  • Allen voran ist dies die gesamte ukrainische Bevölkerung (Tausende tote und verletzte Zivilist*innen, Zehntausende tote und verletzte Soldat*innen).
  • Die Infrastruktur des Landes ist in weiten Teilen heute schon zerstört.
  • Die ökologischen Schäden sind gewaltig (auch eine Atomkatastrophe ist weiterhin leichter möglich als es sowieso schon der Fall ist).
  • Für die Völkerverständigung gibt es jetzt noch größere Hürden als vor dem Krieg.
  • Tausende russische Soldaten haben ihr Leben lassen müssen und Tausende sind verletzt.
  • Die russische Bevölkerung leidet unter verschärfter Repression sowie unter massiver Inflation mit Reallohnabbau und unter den Sanktionen.

Zwar werden die Herrschenden im Kreml mindestens geopolitisch geschwächt aus diesem Krieg hervorgehen (wegen NATO-Osterweiterung und neu verschärftem Wettrüsten, was die russische Wirtschaft mehr schwächt als den Westen). Doch daraus können die Menschen in Russland keinen Honig saugen. Es wird vielmehr zur Verelendung breiter Schichten beitragen.

Welcher Weg sollte unterstützt werden?

Ohne Zweifel steht es einem Angegriffenen zu, sich zu verteidigen. Aber aus dem Recht zur Selbstverteidigung resultiert keineswegs der Zwang, dafür militärische Mittel einzusetzen. Gehen wir vom Völkerrecht aus – das wohlgemerkt bürgerliches Recht ist – dann hat die Ukraine das Recht, um zivile und militärische Unterstützung für ihre Verteidigung zu bitten. Aus diesem Recht folgt aber nicht automatisch die Pflicht, Hilfe auch auf militärische Art zu leisten und damit überhaupt erst zur Verlängerung des Kriegs beizutragen.

Wenn ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung den bewaffneten Verteidigungskrieg unterstützt, bedeutet das nicht zwingend, dass dies auch von außen unterstützt werden muss. Art und Umfang der Unterstützung der Ukraine in ihrer Verteidigung müssen sich an den Fragen orientieren:

  • Ist die militärische Verteidigung angesichts der materiellen Zerstörungen und menschlichen Opfer angemessen im Verhältnis zu den verfolgten Zielen und den zu erwartenden Erfolgschancen?
  • Kann eine solche Unterstützung dazu beitragen, eine Eskalation zu verhindern und eine Begrenzung des Konfliktes zu fördern?

Gegen die Wahl des Einsatzes militärischer Mittel spricht im vorliegenden Fall (noch mehr als in vielen anderen Fällen) die Vernunft. Die Lieferung von Waffen an die Ukraine ist abzulehnen, denn sie führt zu einer Ausweitung und Verlängerung des Krieges. Die anfängliche Schlappe und Fehleinschätzung der russischen Landnahmeversuche darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zerstörungsmacht der russischen Armee aus der Ferne und von oben gewaltig ist und noch längst nicht am Ende ihrer Steigerungsfähigkeit angelangt ist. Jede Verlängerung des Kriegs wird weitere Städte in Schutt und Asche legen und zu Tausenden weiterer Todesopfer führen.

Eine humanitäre Unterstützung der Bevölkerung der Ukraine und eine Unterstützung der zivilen und sozialen Widerstandsmaßnahmen sind nicht nur legitim und gerechtfertigt, sie sind geboten. Parallel dazu muss darauf hingewirkt werden, dass der Krieg möglichst schnell am Verhandlungstisch beendet wird. Daher sind sofortige Initiativen erforderlich, um einen Waffenstillstand zu erreichen und in Verhandlungen über die vorhandenen Konfliktpunkte zu treten.

Schutz und Erhaltung von Menschenleben müssen das oberste Gebot sein. Deswegen war die militärische Reaktion auf die Invasion ein Irrweg. Es gibt keine akzeptable Rechtfertigung oder Legitimation, um eine Generalmobilmachung anzuordnen, jedenfalls dann nicht, wenn wir uns nicht nach machtpolitischen Interessen richten, sondern den Blick auf die Opfer, die Zerstörungen und die Eskalationsgefahr richten.

Verschärfend kommt hinzu: Das Kiewer Regime repräsentiert keine fortschrittliche Gesellschaftsordnung. Die Selenskyj-Regierung hat vielmehr selbst ‒ unter anderem mit dem de facto-Verbot der russischen Sprache als zweiter Amtssprache ‒ zur Zuspitzung des Konflikts mit Moskau beigetragen und setzt auch heute nicht auf Deeskalation. In diesem Krieg kämpft nicht etwa eine emanzipative Befreiungsbewegung gegen eine Kolonialmacht. Hier stehen sich zwei bürgerliche Staaten ‒ die beide durch ein Oligarchen-System bestimmt sind ‒ gegenüber.

Darüber hinaus dürfen wir nicht übersehen, dass das Selenskyj-Regime gleichzeitig einen Stellvertreterkrieg führt, nämlich mit Unterstützung der NATO (vor allem der USA) und für deren Interessen. Allein das schon spricht gegen die militärische Antwort auf den Einmarsch, gegen die Zwangsrekrutierung und gegen die Fortführung des Kriegs. Die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand ist das Gebot der Stunde und muss sich an alle Seiten richten.

Wofür wir als Kriegsgegner*innen eintreten

Der soziale Widerstand der finnischen Bevölkerung zu Anfang des 20. Jahrhunderts, der Generalstreik als Reaktion auf den Kapp-Putsch 1920, der vorwiegend mit zivilem Widerstand durchgeführte Kampf gegen die Ruhrbesetzung durch französische und belgische Streitkräfte 1923 sind Beispiele einer Alternative. Ein anderes Beispiel ist jüngeren Datums: Als die Sowjetarmee am 21. August 1968 in die Tschechoslowakei einfiel, befahl die tschechische Regierung unter Alexander Dubček der eigenen Armee, in den Kasernen zu bleiben. Der daraufhin einsetzende soziale Widerstand war zwar nicht stark genug, den Kreml zum Abzug seiner Truppen zu bewegen, um dann den tschechischen Weg einer politischen Liberalisierung weiterverfolgen zu können. Aber wäre ein Krieg die bessere Alternative gewesen? Wir meinen: Nein!

Angesichts enorm gesteigerter Zerstörungskraft moderner Massenvernichtungswaffen hat in einem Krieg vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden. Gleichzeitig wird die Infrastruktur zerstört und es entstehen gewaltige ökologische Schäden. Wer vor diesem Hintergrund auf eine militärische „Lösung“ setzt, der/die hat ein verengtes Verständnis von den politischen und gesellschaftlichen Aufgaben, vor denen die Menschen in der Ukraine und anderswo stehen. Die Machtpolitik der herrschenden Klassen und die daraus sich ergebende Expansionspolitik (einschließlich Invasionen) müssen wir als eine soziale, politische und ökologische Herausforderung begreifen. Deshalb ist es ein Irrweg, sich auf die Ebene des Kampfs zwischen zwei Staaten zu fixieren und nur in diesen Kategorien zu denken. Ein Ignorieren der tiefergreifenden Ursachen und Probleme ließe uns nur noch die Wahl zwischen Desinteresse auf der einen Seite und Eintreten für Waffenlieferungen auf der anderen Seite, was schließlich zu noch mehr Opfern und zu einer sich vergrößernden Eskalationsgefahr führen würde.

Die tieferliegende Ursache für das Handeln der Herrschenden – in Moskau, aber auch in Kiew und in den hinter Kiew stehenden NATO-Staaten – ist knallharte Klassenpolitik im Interesse der jeweiligen kapitalistischen Klasse. Dem begegnen wir nicht, indem wir uns auf die Logik der Kriegspolitik einlassen. Es gilt vielmehr, die sozialen/gesellschaftlichen Ursachen offenzulegen und in diesem Konflikt die Strategie des gesellschaftlichen (sozialen) Widerstands zu unterstützen.

Was sind die Mittel und was sind die Ziele eines solchen Widerstands? Die Kampfformen des zivilen Widerstands sind klar definiert: Verweigerung der Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht, Kundgebungen, Demonstrationen, Streiks, gegebenenfalls auch Sabotageaktionen gegenüber den materiellen Mitteln der Repressionskräfte. Mit dem Ausbau eines engmaschigen Kommunikationssystems ‒ und gleichzeitig möglichst dezentralen Führungsstrukturen ‒ muss es darum gehen, vorrangig die Widerstandskraft zu erhalten und die Mobilisierung zu erhöhen.

Eine weitere zentrale Achse des gesellschaftlichen Widerstands ist die beharrliche Agitation gegenüber den niederen Rängen der Besatzungsmacht, um eine Verbrüderung/Verschwesterung und eine konkrete Unterstützung des gesellschaftlichen Widerstands durch diese Menschen (sie sind schließlich „Arbeiter und Soldaten“) zu erreichen. Gleichzeitig ist dies die beste Grundlage, um eine Verständigung zwischen den betroffenen Völkern zu befördern, statt noch mehr Gräben aufzureißen und schwer zu überwindenden Zorn und Rachegefühle zu schüren.

Parallel müssen alle Menschen, die an einem friedlichen Zusammenleben und an einer Überwindung der unmenschlichen kapitalistischen Gesellschaftsordnung interessiert sind, Proteste im Herzen der Bestie (in dem Fall vor allem in Russland) organisieren bzw. unterstützen. Je größer der Widerstand dort ist, desto eher kommt es zu einem Waffenstillstand und zu einem Ende des Kriegs. Das Beste, was humanistische und klassenkämpferische Kräfte im Westen hierzu beitragen können, ist der Aufbau einer breiten Friedensbewegung, die sich für eine sofortige, umfassende und bedingungslose Abrüstung und für einen Stopp aller Waffenlieferungen engagiert. Demgegenüber läuft die Befürwortung von Waffenlieferung nur darauf hinaus, mitzuhelfen, noch mehr Öl ins Feuer zu schütten. Ein langfristiges Ziel aller ökosozialistisch und sonstig humanistisch gesinnten Menschen muss es sein, die Rüstungsindustrie zu vergesellschaften, um sie unter Kontrolle der Beschäftigten auf die Produktion gesellschaftlich nützlicher Produkte umzustellen.“

4. Juni 2022

Heino Berg,(Göttingen) Mitglied von DIE LINKE und SAV

Thies Gleiss, Mitglied im Parteivorstand der LINKEN und im Bundessprecher:innenrat der Antikapitalistischen Linken 

Jakob Schäfer, aktiv in der Gewerkschaftslinken (VKG); jüngste Veröffentlichung: „Die Warengesellschaft und die Herausforderung der multiplen Krise“

Matthias Schindler (Portugal), aktiv in der Lateinamerika-Solidaritätsbewegung

Winfried Wolf, Chefredakteur Lunapark21 und verantwortlicher Redakteur „Zeitung gegen den Krieg“

Wir danken Winfried Wolf, die Stellungnahme hier publizieren zu dürfen.

Zuerst erschienen in der “Jungen welt” vom 9.6.22 und LunaPark21:

Grüne und Liberale entdecken ihr Herz für den Militarismus

– Wir stellen gewerkschaftliche , linke , friedenspolitische Stimmen gegen die aktuelle Kriegseskalation zur Diskussion –

Über den Rechtsruck von Grünen und Liberalen angesichts des Ukrainekriegs !

mit einem Gastbeitrag von Fabian Lehr, 3.6.2022

Vorbemerkung . „Grüner Neoliberalismus. Statt Zeitenwende vollzieht er in Wirklichkeit eine Rückwärtswende . Erinnerungen an 1914 werden wach, als roße Teile der „links-liberalen“ Berliner Gesellschaft (was die meisten der „kritischen Geister“ vorher selbst nicht für möglich gehalten hatten) einem Kaiser Wilhelm huldigten , in den 1. Weltkrieg folgten und zum moralischen Rückgrat und Echo der Kriegseuphorie wurden. Erst nach vielen Kriegsjahren mit totaler Zerstörung kam dann die totale Ernüchterung. „Neoliberalismus küsst Rechtskonservatismus und Rechtsextremismus“! Auch das ist nichts wirklich Neues, wenn man Pinochets Chile als die eigentliche Wiege des Neoliberalismus betrachtet. Die beiden grünen Superminister der bundesdeutschen Ampelkoalition setzen nicht nur die – noch bei den Wahlen fest versprochenen- friedenspolitischen Grundsätze ihrer Partei nicht um , sondern verkehren diese in ihr absolutes Gegenteil . Die beiden Minister mutieren zunehmend mit dem Großteil der Grünen Führungsriege neben der FDP Waffenlobbyistin Strack Zimmermann zu Hauptprotagonisten von Waffenexport, Wirtschaftskrieg und kompromissloser Kriegslogik und Kriegsrethorik . Das Ganze verbunden mit einer unsäglichen Dopplemoral selektiver Wahrnehmnung und Entrüstung über Völkerrechtsbrüche, Menschenrechtsverletzungen und Kollateralschäden von Kriegen. Vorläufiger Gipfel dieser Haltung ist die zynische Sorge der grünen Aussenministerin Bearbock über die Gefahr einer aufkommenden Kriegsmüdigkeit in der deutschen Bevölkerung. Der friedenspolitischen folgt die klimapolitische Kehrtwende, wenn man die Fakten hinter den vollmundigen Erklärungen betrachtet. „Wer grün wählt, wird sich noch schwarz ärgern!“ Der folgende Gastbeitrag von Fabian Lehr bezieht sich auf die Entwicklung in Österreich. Nur auf den ersten Blick ist es verblüffend wie sich die Verhältnisse in Deutschland dazu spiegeln !“ (Peter Vlatten)

Hier der Beitrag von Fabian Lehr, 3.6.2022

„Über den Rechtsruck von Grünen und Liberalen angesichts des Ukrainekriegs

Der Krieg in der Ukraine hat das politische Koordinatensystem in ganz Europa durcheinandergeworfen.

Zu den markantesten Veränderungen zählt, dass Grüne und Liberale plötzlich ihr Herz für den Militarismus entdecken und den traditionellen Konservatismus dabei von rechts überholen. Aus der berechtigten Empörung über den russischen Angriffskrieg und die dahinterstehende großrussisch-nationalistische Ideologie wird eine bedingungslose Identifikation mit dem Imperialismus des NATO-Blocks und der Ideologie des ukrainischen Nationalismus abgeleitet.

Wer gestern noch wusste, dass die Ukraine im seit 2014 andauernden Konflikt ein Spielball der imperialistischen Konkurrenz zwischen Russland und dem Westen ist, sieht nun im Taumel des Krieges Brüssel und Washington als selbstlose, edle Verteidiger ukrainischer Freiheit. Wer gestern noch richtig erkannte, dass die NATO ein von moralischen Skrupeln freies imperialistisches Kriegsbündnis ist (In dem, wenn es geopolitisch passt, auch eine faschistoide Diktatur wie Erdogans Regime herzlich willkommen ist), spricht heute die Phrasen von der NATO als einem Defensivbündnis zum Schutz von Demokratie und Menschenrechten in der Welt nach. Wer gestern noch erkannte, dass seine verfassungsmäßige Neutralität Österreich die meiste Sicherheit bietet und nicht bewaffnetes Mitmischen in imperialistischen Konflikten, redet heute davon, man müsse „die Zeichen der Zeit erkennen“, die überholte Neutralität entsorgen und Österreich in die NATO führen. Wer gestern noch von der Notwendigkeit diplomatischer Konfliktlösung sprach, fordert heute in immer schrilleren Tönen, immer mehr und immer schwerere Waffen in diesen Krieg zu pumpen und – warum nicht? – vielleicht auch gleich die Gelegenheit zu nutzen, dabei die Krim militärisch zurückzuerobern. Wer gestern noch mahnte, dem Wiederaufstieg des Rechtsradikalismus in Europa den Weg zu versperren, prangert jede Thematisierung der Legalisierung, Uniformierung, Besoldung und Bewaffnung tausender organisierter Neonazis durch den ukrainischen Staat nun als perfide Kremlpropaganda an. Wer gestern noch erkannte, dass Kriege zwischen bürgerlichen Staaten Konkurrenzkämpfe der Bourgeoisie um Märkte, Ressourcen und geopolitische Machtpositionen sind, erklärt die Invasion jetzt mit der ewigen Barbarei des russischen Nationalcharakters. Wer gestern noch propagierte, die soziale Frage müsse im Fokus der Politik stehen, meint nun im Chor mit den reaktionärsten Kreisen der österreichischen Politik, die explodierende Inflation müsse man eben als Preis der Verteidigung der Freiheit hinnehmen und die Hochrüstung des Bundesheeres sei wohl wichtiger als Maßnahmen zur Stabilisierung der Kaufkraft der arbeitenden und armen Bevölkerung.

Die Menschen, die all das vertreten, sahen sich, von NEOS und Grünen bis zum Falter-Abonnenten, bisher als progressive Avantgarde der Gesellschaft und tun es oft genug auch jetzt noch, während sie klassische Positionen der politischen Rechten vertreten (Man erinnere sich daran, dass es gerade die FPÖ war, die sich lange Zeit weitgehend isoliert durch die Forderung nach Entsorgung der Neutralität und NATO-Beitritt Österreichs profilierte). Wenn man ihnen folgt, habe der Krieg in der Ukraine alles verändert und verlange zwingend „neue Ideen“ (Die überwiegend eben einfach die Ideen der Rechten von gestern sind). Aber was ist an diesem Krieg eigentlich so neu, dass Linke und Linksliberale aufgrund dieser Erfahrung ihr Weltbild umstürzen müssten? Die Erkenntnis, dass imperialistische Staaten sich um das Völkerrecht nicht scheren, wenn es ihren Machtinteressen im Weg steht? Das hätte man leicht schon aus den völkerrechtswidrigen NATO-Kriegen 1999 gegen Serbien, 2001 in Afghanistan, 2003 im Irak oder 2011 in Libyen lernen können – vorausgesetzt natürlich, völkerrechtswidrige Kriege würden einen auch dann empören, wenn das eigene imperialistische Lager sie führt. Dass imperialistische Invasionsarmeen schreckliche Menschenrechtsverletzungen und Massaker begehen? Das hätte man lange vor Butscha und Irpin aus den Massakern in Korea und Vietnam, aus Guantanmo, Abu Ghreib und den tausenden willkürlichen Tötungen von ZivilistInnen in Afghanistan und im Irak durch NATO-Truppen lernen können – vorausgesetzt natürlich, Massaker, die von Invasionstruppen des eigenen imperialistischen Lagers verübt werden, würden einen interessieren.

Eine Erkenntnis dagegen ziehen die Heerscharen liberaler BellizistInnen freilich nicht aus den Ereignissen: Dass kapitalistische Konkurrenz und imperialistische Politik zwangsläufig Krieg, Verbrechen und Elend bedeuten unabhängig davon, ob eine imperialistische Macht Russland heißt oder USA oder Deutschland oder Frankreich oder Großbritannien. Dass regelmäßige Abfolgen von Krieg und Hungersnot und Verelendung Resultat des kapitalistischen Systems und der imperialistischen Ordnung der Welt und nicht des spezifischen Nationalcharakters einer bestimmten imperialistischen Macht oder gar der Charakterzüge ihres Präsidenten – und dass es folglich eine sehr schlechte Idee ist, aus Empörung über die Verbrechen des rivalisierenden imperialistischen Blocks für Hochrüstung und bedingungslose politische Unterstützung des eigenen imperialistischen Blocks einzutreten. Wer eine Welt ohne Krieg und Elend will, der muss auch und gerade der herrschenden Klasse und der politischen Reaktion bei sich selbst, in Österreich und der EU, den Kampf ansagen statt sich in eine harmonische nationale bzw. europäische Gemeinschaft des Burgfriedens in Abwehr des Schreckbildes des äußeren Feindes einzureihen.“

Wir danken Fabian Lehr (ÖH Uni Wien) , seinen Text hier zitieren und wiedergeben zu dürfen. Fabian Lehr ist linker Blogger , seine Beiträge findet man auf Facebook und Youtube. Der hier veröffentlichte Kommentar wurde auch in der Left Comment Reihe publiziert.

https://www.facebook.com/fabian.lehr.3/posts/10224873009926773?__cft__[0]=AZUK5CnmBIG0_PaMMkmhGXqZwGIOd1zdbtoMsmn2FvO-3gXHN4KcLN8A0ScVYC-HT9GpOvnUgVbNN9kwUQ5wobRHGV0Vc-pupzKeIdei1mnoB0l8ZrrtOLBo1ko7DfnHLIZu1xT5qwdYH4M5CpMSNQ8si2J0kZo5szMyDJN_5ZT0rLpkA-0I92T60_eX2JDWsCXqtmMtk9NrM0Yy6S44Q7YA&__tn__=-UK-R

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