Raffineriestreik in Frankreich: Der Saftladen bleibt dicht

Vorbemerkung : Die Streiks in den Raffinerien, über deren Zustandekommen der Gastbeitrag von Bernard Schmid berichtet , haben Signalwirkung in ganz Frankreich und breiten sich aus. Viele Kollegen ließen sich vom Versöhnungskurs und Abschluss der CFDT Gewerkschaft nicht beeindrucken. Die Arbeitsverpflichtung der Macron Regierung entfachte den Widerstand erst recht und feuerte die lang geplanten Proteste am 16.10. noch mehr an. Gut 140 000 (laut Veranstalter) demonstrierten in Paris für ein offensives linkes soziales und ökologisches Programm (mehr unser Report „Gegen das teure Leben“ ) . Für heute, Dienstag den 18.10. , haben die linken Gewerkschaften CGT, FO und andere (unterstützt von etlichen sozialen Bewegungen) zu landesweiten branchenübergreifenden Streiks und Protestaktionen aufgerufen. Laut aktueller Meldungen beteiligen sich 10 tausende von Kollegen. Wir berichten weiter (Peter Vlatten).

hier der Beitrag von Bernard Schmid , 14.10.2022

Verhandlungen an den bestreikten Raffineriestandorten scheiterten: CFDT für Abschluss, CGT dagegen – Eilklage der CGT gegen die Dienstverpflichtungen abgewiesen – Neidkampagne gegen „überbezahlte“ Petrochemie-Arbeiter seitens des TOTAL-Konzerns (dessen Big Boss sich im vergangenen Jahr eine Verdiensterhöhung um +52 % gewährt hat) – Aufrufe zum branchenübergreifenden Streik am kommenden Dienstag, den 18. Oktober 22.

Der Ausstand in der Überzahl der französischen Raffinerien wurde auch an diesem Freitag, den 14. Oktober fortgesetzt. In der Nacht zuvor hatten sechsstündige Verhandlungen am Sitz des Mineralölkonzerns TOTAL – größtes börsenorientiertes französisches Unternehmen in Frankreich, das allein im ersten Halbjahr 2022 stattliche 18 Milliarden Euro an Gewinn erzielte, und stärkster Akteur der Petrochemie- und Treibstoffbranche – in der Pariser Vorstadt La Défense stattgefunden.

Die CGT verließ die Runde jedoch gegen 02.20 Uhr früh. Doch die beiden Gewerkschaftsverbände CFDT (rechtssozialdemokratisch geführt) und CFE-CGC
(höhere und leitende Angestellte) erklärten sich im Prinzip zur Unterzeichnung einer Vereinbarung bereit. Diese sollte bis Mittag stattfinden, blieb bei Redaktionsschluss dieses Artikels jedoch noch aus. Das bislang im Prinzip getroffene Abkommen sieht laut Medienberichten eine Lohnerhöhung (für 2023) in Höhe von 7 Prozent vor, das entspräche ziemlich exakt der Teuerungsrate im laufenden Jahr. Tatsächlich täuscht diese Zahl jedoch, denn das Angebot ist komplexer: Garantiert würden demnach den abhängig Beschäftigten nur 5 Prozent allgemeiner Lohn- oder Gehaltserhöhung (also
unterhalb der Inflationsrate), zuzüglich 2 Prozent individueller Zulage, die je nach Leistungsbeurteilung gewährt oder auch verweigert werden kann. Im Bereich der höheren und leitenden Angestellten betragen die beiden Werte allerdings 3,5 % (allgemeine) und 3,5 % (individuelle Erhöhung). Zuzüglich soll zum Jahresende eine Einmalzahlung oder Prämie in Höhe zwischen 3.000 und 6.000 Euro ausgeschüttet werden. Diese entspricht exakt dem Mechanismus, den Emmanuel Macron zum Jahresende 2018 als Antwort auf die damaligen „Gelbwesten“proteste einführte (deswegen auch „Macron-Prämie“ genannt), seinerzeit in Höhe von maximal 2.000 Euro, doch die Anhebung auf maximal 6.000 Euro war Teil des Wahlprogramms Emmanuel Macron im Frühjahr 2022. Es handelt sich um eine von Steuer- und Sozialabgaben befreite Summe, für die der Arbeitgeber also keine Abgaben entrichten muss und die ihm in gewisser Weise durch die Steuerzahlenden gegenfinanziert wird; für die Altersversorgung/Rente findet sie dementsprechend ebenfalls keine Anrechnung.

Die CGT sprach am Freitag früh von einer „Farce“ und kündigte die Fortsetzung des Streiks an, aber auch seine Ausweitung auf andere Sektoren. Am kommenden Dienstag, den 18. Oktober sollen nunmehr branchenübergreifend Arbeitskämpfe stattfinden, die insbesondere die Transportbetriebe und öffentlichen Dienste betreffen dürften.

Bereits in den vergangenen Tagen fanden allerdings bereits Lohnstreiks statt, die in der laufenden Woche unter anderem im Instandhaltungsbetrieb von bislang fünf französischen Atomkraftwerken, am Pariser Odéon-Theater, an der Kantine der Pariser Sozialeinrichtungen oder am Standort Rennes beim Automobilproduzenten Stellantis stattfanden.

Die Ausweitung der Streiks – bürgerliche Medien wie der Privatfernsehender BFM TV sprechen ihrerseits bereits von „Generalstreik“, wobei die Bezeichnung nicht völlig zutreffen dürfte, da ein echter Generalstreik alle oder nahezu alle Sektoren betreffen müsste – ist aber auch die Antwort der Gewerkschaften und insbesondere der CGT an die strafbewehrten Dienstverpflichtungen oder réquisitions (Labournet berichtete am Mittwoch), da diese die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gefährlich untergraben. Historisch sind solche strafbewehrten Dienstverpflichtungen vor allem in
lebenswichtigen Bereichen wie Gesundheitsversorgung oder „Verteidigung“ zulässig. Das oberste Verwaltungsgerichtshof, der Conseil d’Etat, wehrte allerdings in der Vergangenheit mehrere Klage gegen solche Dienstverpflichtungen ab. (vgl.https://blog.landot-avocats.net/2022/10/11/greve-quel-pouvoir-de-requisition-pour-letat/) Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gab hingegen 2011 an Frankreich „Empfehlungen“ ab, die darauf hinauslaufen, Dienstverpflichtungen wie während des Raffineriestreiks im Oktober/November 2010 gegen die damalige Renten„reform“ zu vermeiden.

Die CGT rief diese Woche Verwaltungsgerichte in Eilklagen gegen die aktuellen Dienstverpflichtungen an. Am Freitag mittag, just zum Redaktionsschluss dieses Artikels, traf eine erste Einstweilige Verfügung ein. Diese schmettert die Verwaltungsklage der CGT jedoch ab. (Vgl. https://www.ouest-
france.fr/economie/transports/penurie-de-carburant/requisitions-chez-esso-exxonmobil-le-recours-en-refere-de-la-cgt-rejete-par-le-tribunal-de-rouen-93d9b750-4b9b-11ed-9879-c1a2e97ee6a1
)

Artikel von Bernard Schmid vom 14.10.2022 – wir danken!

Fortsetzung folgt umgehend…

Es wird von Labornet laufend informiert

Unter anderem benutzte Quellen neben ständiger TV-Berichterstattung:
http://www.communcommune.com/2022/10/la-cgt-des-industries-chimiques-
fnic-condamne-les-propos-du-president-de-la-ces-confederation-europeenne-
des-syndicats.html

http://www.communcommune.com/2022/10/la-cgt-des-industries-chimiques-
fnic-condamne-les-propos-du-president-de-la-ces-confederation-europeenne-
des-syndicats.html

https://www.rfi.fr/fr/en-bref/20221014-gr%C3%A8ve-%C3%A0-totalenergies-
la-cgt-quitte-la-table-des-n%C3%A9gociations

https://www.lemonde.fr/economie/article/2022/10/14/penurie-de-carburants-
negociations-laborieuses-chez-totalenergies-appel-general-a-la-
greve_6145724_3234.html

https://www.mediapart.fr/journal/france/131022/sur-les-piquets-de-greve-des-
raffineries-de-normandie-la-colere-prend-de-l-ampleur

https://www.cgt.fr/comm-de-presse/mobilisations-et-greves-le-18-octobre-
pour-laugmentation-des-salaires-et-la-defense-du-droit-de

https://www.lefigaro.fr/social/greve-totalenergies-un-compromis-trouve-avec-
des-syndicats-majoritaires-sans-la-cgt-20221014

https://actu.orange.fr/politique/penurie-de-carburants-la-crise-divise-le-
gouvernement-magic-CNT000001TwWO9.html

https://actu.orange.fr/politique/penurie-de-carburants-la-crise-divise-le-
gouvernement-magic-CNT000001TwWO9.html

https://actu.orange.fr/economie/greve-totalenergies-un-compromis-trouve-
sans-la-cgt-qui-veut-amplifier-le-mouvement-CNT000001TwDA5/photos/des-
salaries-grevistes-et-des-syndicalistes-sur-le-site-de-la-raffinerie-de-
totalenergies-a-gonfreville-l-orcher-pres-du-havre-le-13-octobre-2022-dans-le-
nord-ouest-de-la-france-7c21ee2a25d12428e06bd95dca1757c9.html

„Gegen das teure Leben“

Tankstellen-Blockaden. Streiks. Großdemos. Ist der „heiße Herbst“ bei uns noch ein laues Lüftchen, so geht es in unserem Nachbarland schon deutlich zur Sache und bekommt eine ungeahnte Dynamik.

Ein deutscher Genosse war vor Ort, beschreibt seine Eindrücke und versucht eine politische Bewertung:

„Gestern fand in Paris nach langer Zeit wieder mal eine große Demo auch mit meiner Anwesenheit statt. Eigentlich einst im August angestoßen, um dem linken NUPES-Bündnis mehr praktische gesellschaftliche  Sichtbarkeit zu geben, stellen sich die politischen Rahmenbedingungen nun völlig anders da. Nach den seit drei Wochen andauernden Streiks in den meisten Raffinerien und den Treibstoffdepots, hat die französische Regierung nun den Schluss gezogen, die Streikenden zur Zwangsarbeit heranzuziehen, um die Streiks zu brechen. In der Folge entstand eine große Welle der Solidarität. Die Rufe nach langanhaltenden massiven Streiks in Frankreich sind lauter geworden und morgen soll es, geht es nach dem Willen vieler gewerkschaftlich und linkspolitischer engagierter Menschen, einen ersten kleinen Generalstreik geben, da sich viele Branchengewerkschaften den Arbeiter*innen in den Raffineriebetrieben anschließen wollen.

Diese Gesamtsituation führte dazu, dass die gestrige Demonstration zu einer der erfolgreichsten politischen Aktionen der organisierten Linken der letzten Jahre zählte. Dies liegt nicht allein an der Menge der Teilnehmer*innen (gefühlt habe ich noch an keiner größeren Aktion der Linken in Frankreich in den letzten Jahren teilgenommen), sondern vielmehr an der erfolgreichen Breite der anwesenden Organisationen. Die ausgerufene Teilnehmer*innenzahl von 140.000 Menschen scheint mir realistisch. Selbst als wir am Endpunkt der Demoroute angekommen waren, hieß es, das am Startpunkt die letzten Menschen erst mit Stunden Verspätung aufgebrochen wären. Wann erlebt man schon mal, das Grüne, Sozialdemokraten, Kommunisten Seit`an Seit mit linksradikalen oder ökoradikalen Bewegungen wie der „Letzten Generation“ gemeinsam marschieren ? 

Zudem durchzog die ganze Veranstaltung der Wunsch nach einem Bündnis der gesamten Linken, um endlich gegen Macron und seine Welt in die Offensive gehen zu können. Dieser Eindruck wurde selbst durch die Lektüre der Flugblätter der diversen linksradikalen und trotzkistischen Gruppierungen nicht gebrochen (freilich waren keine Traditionstrozkisten von „Lutte ouvrière“ anwesend !). So konnte ohne Dissenz auf der großen Bühne, welche auf einem Lkw den Demozug anführen sollte, einerseits Jean-Luc Mélenchon die empörten und erniedrigten Massen zur gemeinsamen politischen  Aktion aufrufen, während in der Folge der Vorsitzende der einst offen neoliberalen Sozialdemokratie die Gemeinsamkeiten der Linken in all ihren Facetten  seit der Pariser Commune und der „Volksfront“ ab 1935 beschworen, um gemeinsam ein würdiges Leben für alle Menschen in Frankreich zu erkämpfen. Über der gesamten Demonstration schwebte die Befürchtung, dass Premierministerin Borne ihre Möglichkeit nutzt, um mit Hilfe des Artikels 49.3. den vom Parlament zerissenen Haushaltsentwurf der französischen Regierung doch noch ohne Abstimmung in Kraft setzten zu können. Dieser hätte weitere, heftigste Einschnitte für die öffentlichen Haushalte zur Folge.

Leider konnte allerdings die mobile Bühne lange Zeit den Zug nicht anführen, denn wie es im immer weiter um sich greifenden Polizeistaat Frankreich inzwischen üblich ist, wurde die Demo zwei Stunden lang am Aufbruch gehindert. Auch in der Folge kam es sogar zu unprovozierten Übergriffen auf die Demo in unmittelbarer Nähe des Blocks mit allen prominenten Demonstrierenden mit Tränengas, was allen Teilnehmer*innen zu schaffen machte. Auch am Ende der Demo an der Bastille sah man sich einem riesigen Polizeikessel ausgesetzt. Selbst Wasserwerfer waren aufgefahren. Alles deutete darauf hin, dass eine Eskalation der Demo erhofft wurde, um sich dann gewaltsam stören zu können, um in der Folge nicht mehr über ihre politische Funktion sprechen zu müssen. Gewaltausbrüche fanden aber zu so gut wie nicht statt. Und der mediale Mainstream musste den politischen Akteuren weiten Raum geben.

Morgen sind nun wieder die Gewerkschaften am Zug. Sicherlich werden viele der Demonstrat*innen des gestrigen Tages in irgendeiner Form an den dezentralen Streiks und Protestaktionen teilnehmen.“

(Bericht an den Hamburger Jour Fixe Gewerkschaftslinke v. 17.10.22)

Mehr Infos bei Labournet:
https://www.labournet.de/internationales/frankreich/arbeitskaempfe-frankreich/streik-fuer-10-mehr-lohn-gegen-steigende-kosten-in-den-raffinerien-exxon-mobile-und-total-bewirkt-versorgungsknappheit-in-frankreich/


Willkommen in Guantanamo

Amnesty International wirft Lettland bei der Flüchtlingsabwehr an der EU-Außengrenze. Folter, Verschwindenlassen und Rassismus vor. Die EU deckt das lettische Vorgehen.

RIGA (Eigener Bericht) – Amnesty International erhebt zum wiederholten Mal schwere Vorwürfe wegen der brutalen Abwehr von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen – diesmal gegenüber Lettland. Wie die Menschenrechtsorganisation in einer soeben veröffentlichten Untersuchung berichtet, werden dort Flüchtlinge nicht nur völkerrechtswidrig pauschal zurückgeschoben – oft von vermummten, nicht gekennzeichneten „Kommandos“ unter Anwendung von brutaler Gewalt. Viele werden zudem in Zelten ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt interniert und dort mit Schlägen, Tritten und Elektroschockern malträtiert, die etwa auch gegen Genitalien eingesetzt werden – klare Folter, konstatiert Amnesty. Das lettische Vorgehen ähnelt damit demjenigen der litauischen und der polnischen Behörden stark, die Flüchtlinge mit nahezu identischen Methoden behandeln. Dabei gilt das alles lediglich für Flüchtlinge von außerhalb Europas, nicht jedoch für weiße Europäer aus der Ukraine, die in Lettland – wie auch in Litauen oder in Polen – angemessen empfangen werden. Mit Blick darauf stuft Amnesty die Repression der lettischen Grenzbehörden gegen nichtweiße Flüchtlinge aus außereuropäischen Staaten explizit als rassistisch ein.

Hilfe für weiße Europäer

In ihrem neu vorgelegten Bericht über den Umgang mit Flüchtlingen in Lettland zieht die Menschenrechtsorganisation Amnesty International einen recht naheliegenden Vergleich, der in Europa von offiziellen Stellen gerne beschwiegen wird, in den außereuropäischen Herkunftsländern von Flüchtlingen aber längst ins Allgemeinbewusstsein eingedrungen ist: den Vergleich mit der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine. Diese seien in der lettischen Hauptstadt Riga „mit warmem Essen, Kleidung und Unterkunft begrüßt worden, in geordnete Registrierungsverfahren geleitet oder in die Lage versetzt worden, sicher in andere Länder Europas weiterzureisen“, hält Amnesty fest.[1] Dies entspricht ganz dem Vorgehen anderer europäischer Staaten innerhalb und außerhalb der EU. Es belegt, dass auch in Europa eine angemessene Behandlung von Flüchtlingen nicht nur grundsätzlich möglich, sondern auch binnen kürzester Frist praktisch realisierbar ist. Lettland mit seinen kaum zwei Millionen Einwohnern habe es vermocht, innerhalb weniger Monate über 35.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen (Stand: 26. Juli 2022) und einer noch deutlich höheren Zahl den Transit in Richtung EU zu ermöglichen, konstatiert Amnesty. Die Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge sei in einem am 3. März 2022 beschlossenen Gesetz sogar explizit vorgeschrieben worden.

Abwehr nichtweißer Nichteuropäer

In krassem Kontrast dazu steht die brutale Abwehr von Flüchtlingen etwa aus Syrien oder dem Irak, die seit dem Sommer 2021 über Belarus in die EU einzureisen versuchten – nach Polen, Litauen oder eben auch Lettland. Amnesty nennt dazu Zahlen. Demnach sahen sich die lettischen Behörden in der Lage, zwischen August 2021 und dem 25. Mai 2022 exakt 156 Flüchtlinge von außerhalb Europas ins Land zu lassen – aus „humanitären Gründen“. 508 Flüchtlinge wurden zwischen August 2021 und April 2022 wegen – tatsächlichen oder angeblichen – illegalen Grenzübertritts festgenommen und interniert. Schon am 10. August 2021 hatte Riga den Notstand ausgerufen – aufgrund eines angeblich überw.ltigenden Andrangs von Flüchtlingen an der lettisch-belarussischen Grenze. Nach genauen Angaben befragt, gaben die lettischen Behörden an, von August 2021 bis zum 25. Mai 2022 habe man 6.676 Personen an der Grenze abweisen müssen; das wären wenig mehr als 20 pro Tag – ungewöhnlich wenig, um einen angeblichen Notstand zu begründen. Detaillierte Recherchen ergaben allerdings, dass die Behörden jeden Einreiseversuch mitzählten – auch diejenigen von Personen, die zum Teil mehr als zwanzigmal vergeblich ins Land zu gelangen suchten. Die tatsächliche Zahl der abgewiesenen Personen wird laut Amnesty auf vermutlich nicht mehr als 250 geschätzt.

Im Schnee, von Wölfen bedroht

Der Notstand an der Grenze, den Riga am 10. August dieses Jahres zum vierten Mal verlängert hat – er gilt nun vorerst bis zum 10. November –, ist insofern von Bedeutung, als er es den Grenzbehörden erlaubt, Einreisewillige pauschal über die Grenze zurückzuschieben und ihnen das Stellen eines Asylantrags zu verweigern; beides bricht offen das Völkerrecht. Tatsächlich drängen lettische Grenzbeamte und andere Repressionskräfte Flüchtlinge mit großer Konsequenz und regelmäßig auch mit brutaler Gewalt über die Grenze nach Belarus zurück. Dabei kommen auch bewaffnete Sondereinheiten zum Einsatz, die vollständig vermummt und in schwarzer Kleidung auftreten und deren genauer Status unklar ist. Sie sind offenkundig Teil der staatlichen Repressionsbehörden und unterstehen den Grenzbehörden, sind aber nicht weiter identifizierbar und werden allgemein „Kommandos“ genannt. Nach Angaben von Amnesty werden sie für die meisten Gewalttaten gegen Flüchtlinge an der Grenze verantwortlich gemacht. Sie sorgen zudem mit dafür, dass abgewiesene Flüchtlinge ohne die nötige Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten weitestgehend schutzlos in den Wäldern im Grenzgebiet dahinvegetieren müssen – bei jeglichem Wetter inklusive Regen, Kälte und Schnee, trotz wiederkehrender Bedrohung durch Wölfe und Bären.

Folter, Verschwindenlassen

Eine lettische Besonderheit scheint zu sein, dass Flüchtlinge immer wieder nicht in feste Gebäude, sondern in Zelte im Grenzgebiet gepfercht werden, in denen sie von bewaffnetem Personal festgehalten werden, das ihnen regelmäßig ihre Mobiltelefone wegnimmt; dadurch verlieren sie jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Die Zelte entsprechen nicht den dürftigsten sanitären Standards; Toiletten sind nicht vorhanden und werden durch simple Löcher im Boden neben den Zelten ersetzt. Flüchtlinge, die eine gewisse Zeit in den Zelten verbringen mussten, berichten von vollkommen unzureichender Nahrung und brutaler Gewalt. Demnach setzt das Wachpersonal – oft wohl die anonymen, vermummten „Kommandos“ – immer wieder Elektroschocker ein, die auf unterschiedlichste Körperteile gerichtet werden, darunter Genitalien. Auch von Schlägen und Tritten sowie allerlei Formen erniedrigender Gewalt ist die Rede. Amnesty stuft die Gewalttaten zumindest teilweise als offene Folter ein. Zudem urteilt die Menschenrechtsorganisation, wer Menschen in Zelte an unbekannten Orten festhalte und ihnen jegliche Möglichkeit raube, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen, mache sich eventuell eines Verstoßes gegen die Verbote geheimer Internierung und erzwungenen Verschwindenlassens schuldig.

Tote an der Grenze

Die Zustände an der Außengrenze Lettlands entsprechen im Wesentlichen denjenigen an den Außengrenzen Litauens und Polens, an denen ebenfalls, scheinbar legitimiert durch die Ausrufung eines Notstandes, Flüchtlinge pauschal und unter Einsatz von Gewalt abgewiesen werden. Im Fall Litauens ist dokumentiert, dass Grenzbeamte Flüchtlinge in einen Grenzfluss trieben, in dem sie unter Lebensgefahr brusthohes Wasser durchqueren mussten.[2] Die litauischen Internierungslager für Flüchtlinge sind von Amnesty als „hochgradig militarisiert“ beschrieben worden; die Lebensbedingungen in ihnen kommen, urteilt die Organisation, „nach internationalem wie auch nach EU-Recht Folter und anderen Formen von Misshandlung gleich“. Proteste gegen die katastrophalen Verhältnisse wurden mit Tränengas niedergeschlagen.[3] Ähnlich ist die Lage in Polen, Grenzgebiet zu Tode gekommen, mutmaßlich sogar erheblich mehr.[5] Warm empfangen werden auch in Litauen und in Polen ausschließlich weiße Europäer aus der Ukraine. wo zeitweise bis zu 24 Flüchtlinge in acht Quadratmeter große Räume gepfercht wurden; einige, darunter Personen, die vor Folter in ihren Herkunftsstaaten geflohen waren, wurden mit dem Ruf „Willkommen in Guantanamo!“ begrü.t.[4] Nach Angaben einer polnischen Anwältin, die für die Helsinki Foundation for Human Rights in Warschau tätig ist, sind inzwischen nachweislich mindestens 20 Flüchtlinge im polnischbelarussischen Menschenrechte als Kampfinstrument

Wie üblich werden Folter, Verschwindenlassen und offener Rassismus an der Außengrenze der EU auch im Fall Lettlands von Brüssel gedeckt. Auf die Wahrung von Menschenrechten dringt die Union lediglich gegenüber Staaten, die sie dadurch aus politischen Motiven unter Druck setzen will.

Mehr zum Thema: „Willkommen in Guantanamo!“

[1] Zitate hier und im Folgenden: Amnesty International: Latvia: Return home or never leave the woods. Refugees and migrants arbitrarily detained, beaten and coerced into „voluntary” returns. London, October 2022.

[2] Amnesty International: Lithuania: Forced out or locked up. Refugees and migrants abused and abandoned. London, 27.06.2022.

[3] S. dazu „Willkommen in Guantanamo!”

[4] Amnesty International: Poland: Cruelty not compassion, at Europe’s other borders. London, 11.04.2022.

[5] Poland’s border wall hasn’t stopped the flow of migrants from Belarus. infomigrants.net 22.09.2022.

Erschienen bei „German Foreign Policy“ am 13.10. 2022
https://www.german-foreign-policy.com/
Wir danken für die Abdruckgenehmigung.

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