„Gegen das teure Leben“

Tankstellen-Blockaden. Streiks. Großdemos. Ist der „heiße Herbst“ bei uns noch ein laues Lüftchen, so geht es in unserem Nachbarland schon deutlich zur Sache und bekommt eine ungeahnte Dynamik.

Ein deutscher Genosse war vor Ort, beschreibt seine Eindrücke und versucht eine politische Bewertung:

„Gestern fand in Paris nach langer Zeit wieder mal eine große Demo auch mit meiner Anwesenheit statt. Eigentlich einst im August angestoßen, um dem linken NUPES-Bündnis mehr praktische gesellschaftliche  Sichtbarkeit zu geben, stellen sich die politischen Rahmenbedingungen nun völlig anders da. Nach den seit drei Wochen andauernden Streiks in den meisten Raffinerien und den Treibstoffdepots, hat die französische Regierung nun den Schluss gezogen, die Streikenden zur Zwangsarbeit heranzuziehen, um die Streiks zu brechen. In der Folge entstand eine große Welle der Solidarität. Die Rufe nach langanhaltenden massiven Streiks in Frankreich sind lauter geworden und morgen soll es, geht es nach dem Willen vieler gewerkschaftlich und linkspolitischer engagierter Menschen, einen ersten kleinen Generalstreik geben, da sich viele Branchengewerkschaften den Arbeiter*innen in den Raffineriebetrieben anschließen wollen.

Diese Gesamtsituation führte dazu, dass die gestrige Demonstration zu einer der erfolgreichsten politischen Aktionen der organisierten Linken der letzten Jahre zählte. Dies liegt nicht allein an der Menge der Teilnehmer*innen (gefühlt habe ich noch an keiner größeren Aktion der Linken in Frankreich in den letzten Jahren teilgenommen), sondern vielmehr an der erfolgreichen Breite der anwesenden Organisationen. Die ausgerufene Teilnehmer*innenzahl von 140.000 Menschen scheint mir realistisch. Selbst als wir am Endpunkt der Demoroute angekommen waren, hieß es, das am Startpunkt die letzten Menschen erst mit Stunden Verspätung aufgebrochen wären. Wann erlebt man schon mal, das Grüne, Sozialdemokraten, Kommunisten Seit`an Seit mit linksradikalen oder ökoradikalen Bewegungen wie der „Letzten Generation“ gemeinsam marschieren ? 

Zudem durchzog die ganze Veranstaltung der Wunsch nach einem Bündnis der gesamten Linken, um endlich gegen Macron und seine Welt in die Offensive gehen zu können. Dieser Eindruck wurde selbst durch die Lektüre der Flugblätter der diversen linksradikalen und trotzkistischen Gruppierungen nicht gebrochen (freilich waren keine Traditionstrozkisten von „Lutte ouvrière“ anwesend !). So konnte ohne Dissenz auf der großen Bühne, welche auf einem Lkw den Demozug anführen sollte, einerseits Jean-Luc Mélenchon die empörten und erniedrigten Massen zur gemeinsamen politischen  Aktion aufrufen, während in der Folge der Vorsitzende der einst offen neoliberalen Sozialdemokratie die Gemeinsamkeiten der Linken in all ihren Facetten  seit der Pariser Commune und der „Volksfront“ ab 1935 beschworen, um gemeinsam ein würdiges Leben für alle Menschen in Frankreich zu erkämpfen. Über der gesamten Demonstration schwebte die Befürchtung, dass Premierministerin Borne ihre Möglichkeit nutzt, um mit Hilfe des Artikels 49.3. den vom Parlament zerissenen Haushaltsentwurf der französischen Regierung doch noch ohne Abstimmung in Kraft setzten zu können. Dieser hätte weitere, heftigste Einschnitte für die öffentlichen Haushalte zur Folge.

Leider konnte allerdings die mobile Bühne lange Zeit den Zug nicht anführen, denn wie es im immer weiter um sich greifenden Polizeistaat Frankreich inzwischen üblich ist, wurde die Demo zwei Stunden lang am Aufbruch gehindert. Auch in der Folge kam es sogar zu unprovozierten Übergriffen auf die Demo in unmittelbarer Nähe des Blocks mit allen prominenten Demonstrierenden mit Tränengas, was allen Teilnehmer*innen zu schaffen machte. Auch am Ende der Demo an der Bastille sah man sich einem riesigen Polizeikessel ausgesetzt. Selbst Wasserwerfer waren aufgefahren. Alles deutete darauf hin, dass eine Eskalation der Demo erhofft wurde, um sich dann gewaltsam stören zu können, um in der Folge nicht mehr über ihre politische Funktion sprechen zu müssen. Gewaltausbrüche fanden aber zu so gut wie nicht statt. Und der mediale Mainstream musste den politischen Akteuren weiten Raum geben.

Morgen sind nun wieder die Gewerkschaften am Zug. Sicherlich werden viele der Demonstrat*innen des gestrigen Tages in irgendeiner Form an den dezentralen Streiks und Protestaktionen teilnehmen.“

(Bericht an den Hamburger Jour Fixe Gewerkschaftslinke v. 17.10.22)

Mehr Infos bei Labournet:
https://www.labournet.de/internationales/frankreich/arbeitskaempfe-frankreich/streik-fuer-10-mehr-lohn-gegen-steigende-kosten-in-den-raffinerien-exxon-mobile-und-total-bewirkt-versorgungsknappheit-in-frankreich/


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