»Solidarität üben, ohne Waffen«

Bild: rls

Zwei Gewerkschafter aus Berlin berichten von ihrer Reise in die Ukraine und dem Versuch, Verbindungen zwischen Beschäftigten aufzubauen

Interview: Christian Lelek

Bevor wir zu Ihrer Reise in die Ukraine kommen: Wie sind Sie eigentlich zur Gewerkschaft gekommen und warum haben Sie sich entschieden, auf dieser Ebene aktiv zu werden und zu bleiben? Das liegt ja nicht mehr unbedingt im Trend.

Enrico Wiesner (EW): Bei mir war es direkt am sogenannten Betriebetag für neue Auszubildende, als ich bei Siemens anfing. Da war ich 16. Die Funktionäre haben uns dort plausibel gemacht, dass man Gewerkschaftsmitglied sein sollte, um sich zu organisieren und eine Gegenmacht zu entwickeln, sowohl gegen die Unternehmer als auch mit Blick auf gesellschaftliche Fragen. Das war der Grund, dessentwegen ich eingetreten bin. Ich bin dann komplett durch die IG-Metall-Arbeit politisiert worden.

Hermann Nehls (HN): Ich komme aus einer Generation, in der es ein Verständnis gab: Wenn du die Gesellschaft verändern willst, dann macht man das in Betrieben und Gewerkschaft. Vor diesem Hintergrund habe ich eine Mechanikerausbildung gemacht. Anlass, in die Gewerkschaft einzutreten, war eine Auseinandersetzung bei uns im Betrieb um Bildungsurlaub. Wir haben als Ausbildungsjahrgang geschlossen darum gekämpft, dass wir diesen Bildungsurlaub in Anspruch nehmen können. Von meinem Ausbildungsjahrgang sind dann viele in die Gewerkschaft eingetreten.

Wie haben Sie sich dann kennengelernt und wie kam es zu der Reise in die Ukraine?

HN: Kennengelernt haben wir uns beim Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall Berlin, als ich einen Austausch nach Ungarn organisierte und Enrico teilnahm, weil Arbeitsplätze von Siemens dorthin verlagert werden sollten.
Ich arbeite bei einer Initiative gewerkschaftlicher Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften mit, die wir als Gewerkschafter von unten entwickelt haben, weil wir gesehen haben, dass es zu wenig gewerkschaftliche Initiativen gibt, die konkret darauf abzielen, humanitäre Hilfe zu leisten. Mit den Fragen »Wie ist die Lage der Beschäftigten in der Ukraine, was heißt Neoliberalisierung der Arbeitsbeziehungen unter Kriegsbedingungen?« haben wir gedacht, wir fahren hin, um persönliche Kontakte aufzubauen und von da aus weiter zu überlegen, wie wir das Thema gewerkschaftliche Solidarität hier verankern können.

EW: In meinem Freundes- und Arbeitskreis gab es sehr viele emotionale Debatten zur Ukraine, aber im luftleeren Raum, weil man nicht mit Betroffenen gesprochen hat. Es gibt ja so viele Möglichkeiten, Solidarität zu üben, ohne Waffen zu liefern oder das als ein Thema am Rande zu halten. Im Endeffekt geht es um die Menschen, und darum zu erfahren, was die Ukrainer sich wünschen – und zwar mit den bestehenden Bewegungen und Organisationen.

Auf der Suche nach Antworten sind Sie also die Reise angetreten. Wer war Teil der Gruppe und wie lief der Aufenthalt ab?

HN: Vorausgegangen war eine ziemlich aufwendige Vorbereitung. Unser Interesse war, wirklich Leute aus Betrieben zusammenzubringen. Letztlich war Enrico aber der einzige, der richtig betrieblich verankert ist. Insgesamt waren wir zu fünft aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auf eigene Faust unterwegs. Unsere erste Anlaufstelle war eine unabhängige Eisenbahnergewerkschaft in Kiew, zu der wir schon Kontakte hatten. Unser zweiter Kontakt war das Krankenhauspersonal in Krywyj Rih. Das ist auch eine kleine unabhängige Gewerkschaft. Das waren die Ausgangspunkte, von denen aus sich das Programm dann fast organisch erweitert hat. Wir hatten keine Berührungsängste. Unser Interesse war ja, so viele Informationen wie möglich über die Lage der Beschäftigten zu bekommen, und ein differenziertes Bild. Wir waren also in Kiew und einen Tag in Krywyj Rih.

Welche Erfahrungen haben Sie auf der ersten Station in Kiew mitgenommen?

HN: Eines der ersten Gespräche, das wir hatten, war mit der Bildungsgewerkschaft. Mich hatte gewundert, dass der Vorsitzende von fast 700 000 Mitgliedern sich mit einer fünfköpfigen Delegation trifft. Erst im Gespräch wurde mir klar, was da abging. 2022 sind unheimlich viele Delegationen gekommen, um sich zu informieren, um zu gucken, wie man Hilfslieferungen organisieren kann. In diesem Jahr waren wir die erste Delegation, und das hat den Vorsitzenden unheimlich gefreut und erfahrbar gemacht, welche Bedeutung allein moralische Unterstützung hat.

EW: Es wurde schnell klar, dass der Krieg über allem steht, er ist omnipräsent. Es gibt die Wehrpflicht. Jeder 18-Jährige muss zur Armee, es sei denn sein Job ist kriegswichtig.

Haben Sie Erfahrungen gemacht, die Parallelen zwischen Beschäftigten in Deutschland und der Ukraine erkennen lassen?

HN: In Kiew haben wir uns unter anderem mit der landesweiten Initiative #BelikeNina (Sei wie Nina) getroffen, die für die Interessen des Krankenhauspersonals kämpft. Nina Kozlovska ist eine Krankenschwester, die 2019 auf Facebook einmal beschrieben hat, wie ihre Arbeitsbedingungen sind und dass sie nicht mehr kann. Daraus hat sich eine Initiative entwickelt, die heute Vertretungsstrukturen in allen Krankenhäusern in der Ukraine hat und dabei ist, mit 80 000 Mitgliedern eine Gewerkschaft zu gründen. Es gibt eine offizielle Gesundheitsgewerkschaft vom Dachverband FPU, die eigentlich die Aufgabe hätte, genau solche Situationen aufzunehmen und die Interessen des Krankenhauspersonals zu vertreten. Doch ihr wird vorgeworfen, sie vertrete hauptsächlich die Interessen der Ärzte.

EW: Das zeigt, dass es nicht reicht, was die ukrainischen Gewerkschaften tun. Und was will die neue Gewerkschaft erreichen? Arbeitnehmerrechte durchsetzen. Sie haben uns gesagt, ähnlich wie bei uns gebe es eine zu dünne Personaldecke, hohe Arbeitsbelastung, schlechte Materialien, schlecht ausgerüstete Infrastruktur.

Neben Kiew haben Sie auch die Stadt Krywyj Rih besucht. Wen haben Sie dort getroffen?

HN: Krywyj Rih liegt ziemlich weit im Südosten, 400 Kilometer von der Front. Wir haben uns dort mit zwei Assistenzärzten getroffen. Auch sie haben gesagt, die offizielle Gewerkschaft kümmere sich nicht wirklich. Sie haben alle möglichen Initiativen unternommen, um Gelder zu kriegen, um zusätzliche Medikamente und Verbandsmaterial zu kaufen. Auch sie haben eine kleine unabhängige Gewerkschaft an ihrem Krankenhaus gegründet.

EW: Sie erzählten uns, dass sie 250 Euro im Monat verdienten. Das sind 1,30 Euro in der Stunde. Das sind die niedrigsten Löhne in ganz Europa.

Nach den Ärzten haben Sie Beschäftigte des großen Stahlwerks des indischen Konzerns Arcelor Mittal getroffen.

HN: Das hat sich ganz kurzfristig ergeben. Die Gewerkschaftsvorsitzende dort erzählte uns: »3000 Kollegen aus unserem Betrieb kämpfen an der Front, und zu unseren Aufgaben gehört es, diese Kollegen auszustatten mit notwendigen Materialien.« Die Beschäftigten haben uns aber auch damit konfrontiert, dass sie eine zugespitzte betriebliche Auseinandersetzung haben. Der landesweite Kollektivvertrag, der umfassende Schutzbestimmungen und Arbeitszeitregelungen enthält, soll geschwächt werden. Das Werk selbst hatte vor dem Krieg 25 000 Beschäftigte. Jetzt sind es noch 10 000. Aber nicht weil das Werk zerstört wurde. Es kann nicht mehr liefern, weil das Schwarze Meer als Haupthandelsroute wegfällt.

EW: Und die übrigen Beschäftigten sitzen jetzt bezahlt mit zwei Dritteln des Lohns zu Hause. Das ist in einer betrieblichen Vereinbarung geregelt. Die Leute vor Ort gingen davon aus, dass auch diese geändert werden soll. Und das vor dem Hintergrund des Streikverbots in der Ukraine. Diese Geschichten müssen erzählt, verbreitet und Protest muss dagegen organisiert werden, damit das aufhört.

Sie haben die Begegnungen und die Erlebnisse wiedergegeben. Und gesagt, dass es Ihnen zunächst um die direkte Erfahrung, das Sammeln von Wissen ging. Warum aber fiel Ihre Wahl auf den Kriegsschauplatz Ukraine?

HN: Ich war in den 80er und 90er Jahren im Rahmen von Austauschprogrammen öfters in Kiew gewesen. Deswegen war mir die Region vertraut.
Enrico hat gesagt, die Ukraine habe die niedrigsten Löhne in Europa. Und gerade deswegen beheimatet sie wichtige Zulieferindustrie. Kabelbäume für Autos werden dort gebaut. Deutsche und niederländische Agrarunternehmen haben die Ukraine, was Arbeitskräfte angeht, ausgenutzt.
Und die Lage hat sich verschärft. Die Gewerkschaften in der Ukraine stehen jetzt nochmals unter besonderem Druck. Sie sind zum einen konfrontiert mit der Kriegssituation. Die Bildungsgewerkschaft hat uns erzählt, dass über 3000 Schulen zerstört sind. Sie müssen Online-Unterricht organisieren – für Gewerkschaften eine Mammutaufgabe. Zum anderen müssen sie sich aber auch zur Wehr setzen gegen die Selenskyj-Regierung, die alles dafür tut, Arbeitnehmerrechte abzubauen, gerade die genannten Kollektivverträge. Die Bedingungen in der ganzen Arbeitswelt haben sich verschlechtert. Gerade jetzt sind Gewerkschaften wichtig, die dagegenhalten.

EW: Also, vor der Reise war für mich ganz klar: Es ist Krieg in Europa und es ist ein großer Krieg. Der ist verdammt nah. Das kann man nicht ignorieren. Ohne direktes Wissen von Beschäftigten kann ich mich in meiner betrieblichen Funktion gar nicht dazu positionieren. Insofern war es für mich eine Wissensreise, eine Erfahrungsreise. All diese Problemen, die gewachsene Korruption, der Krieg, der verletzte Stolz auf russischer Seite, das sind Dinge, über die kann man sich super am Stammtisch in Deutschland unterhalten und man bewirkt gar nichts. Oder man fährt in die Ukraine und unterhält sich mit den Leuten.

Gibt es Ideen, was mit dem neuen Wissen und den Erfahrungen, den neuen Kontakten passieren soll?

EW: Statt über Grenzverläufe und Stellungskriege wollen wir die persönlichen Geschichten erzählen und ein Interesse dafür wecken: niedrigschwellige und in den Organisationen eingebettete Austausche. Das wurde auch von einer Gewerkschaftsverantwortlichen von Arcelor Mittal geteilt. Eine Idee: fünf Jugendliche aus der Ukraine mit fünf Jugendlichen aus Deutschland, fünf Leitfragen, anschließend Diskussionen über Korruption oder Hilfe zur Selbsthilfe und darüber, was die Gruppen voneinander lernen können. Und das bestenfalls verstetigen.
Den Vertrauenskörperleiter von Arcelor Mittal Eisenhüttenstadt habe ich persönlich getroffen. Er hat gesagt, das sei eine beeindruckende Geschichte. Und wenn man das weiterdenke, könnten sie das nutzen. Sie haben Fachkräftemangel in Eisenhüttenstadt, trotz Viertagewoche. Wenn sie Ukrainer besser und gezielter ausbilden, können sie Verantwortungsübernahme mit der Lösung ihrer Probleme verknüpfen. Da lassen sich Interessen verbinden. Und natürlich wollen wir Wege finden, wie Beschäftigte hier den Kampf für den Erhalt dieses ukrainischen Kollektivvertrags unterstützen können. Wir wollen auch nochmals schauen: Welche anderen vernetzten Unternehmen gibt es? Welche Firmen stellen die Kabelbäume her? In welchem deutschen Werk werden sie verbaut? Gibt es in diesem betreffenden Werk jemanden aus der Jugend, der Lust auf so einen Austausch hat?

Und Geld – wir haben bisher 13 000 Euro gespendet – soll weiterhin an die richtigen Organisationen fließen.

Haben Sie mit den Leuten und den Organisationen, die Sie getroffen haben, selbst schon weitere Verabredungen getroffen?

HN: Was #BelikeNina angeht: Da sind wir im Gespräch, dass Leute herkommen und berichten. Die Verbindung mit den Eisenbahnern läuft weiter, um Beratungsstrukturen für arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen aufzubauen. Wir bleiben auch an dem Thema Ausbildung dran. Es gab zudem ein Rieseninteresse daran, wie wir gewerkschaftliche aktivierende Jugendarbeit organisieren.

Und die Menschen, die Sie kennengelernt haben, welche Wünsche haben sie geäußert?

EW: Der Vorsitzende des gewerkschaftlichen Dachverbandes FPU hat konkret eine Spende über 500 Euro der dänischen Gewerkschaften als große Hilfe bezeichnet: »Das war gelebte Solidarität.« Er hat aber auch die Bitte geäußert: »Wenn ihr in Deutschland darüber redet, sprecht euch auch für die Waffenlieferungen aus. Wir wollen diesen Feind da besiegen.«

HN: Aber ich habe dazu klar gesagt, dass ich dagegen bin. Das wurde akzeptiert, weil das einfach eine völlig andere Ausgangslage ist. Hier führt das zu einer Militarisierung der Gesellschaft. Was Wünsche angeht: Wir haben konkrete Projekte besprochen, unter anderem wie wir bei der Ausbildung von Arbeitsrechtler*innen unterstützen können, die widerständige Kolleg*innen wie die Krankenschwestern in Arbeitskämpfen vor Gericht unterstützen.

Angenommen, ich bin einer Ihrer Kollegen. Was könnte mich überzeugen, mich für die Interessen der Beschäftigten in der Ukraine einzusetzen?

EW: Die Angleichung der Lebensstandards ist ein Selbstzweck, und zwar ein guter Selbstzweck. Du wirst immer den Verlagerungsdruck haben, solange die Arbeitsbedingungen irgendwo ein bisschen schlechter sind. Es ist klar, dass es meinen Arbeitsplatz nicht sicherer macht, wenn die Arbeitsbedingungen in derselben Firma 600 Kilometer Luftlinie von hier, die dasselbe Produkt herstellt, viel schlechter sind.

HN: Arcelor Mittal ist einer der größten Investoren in der Ukraine. Das wirft genau die Frage auf, zu welchen Bedingungen da gearbeitet wird. Wie kannst du durch die Unterstützung gewerkschaftlicher Arbeit in den Betrieben dafür sorgen, dass Dumpingbedingungen da nicht Einzug halten?

Organisiert wurde der Ukraine-Besuch von der Initiative Internationale Solidarität, finanziert von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt. Am 4.12. findet um 19 Uhr eine Online-Infoveranstaltung zur Reise statt. Die Teilnahme ist über folgenden Link möglich:

https://gewerkschaftliche-linke-berlin.de/gewerkschaftliche-solidaritaet-%e2%80%92-humanitaere-hilfe-fuer-ukrainische-gewerkschaftense-in-die-ukraine-infoveranstaltung-zur-reise-in-die-ukraine/


Enrico Wiesner arbeitet bei Siemens Energy, ist dort im Betriebsrat und Vertrauensleutesprecher. Zudem ist er Mitglied im Arbeitskreis Internationalismus (AKI) der IG Metall Berlin und in der Linken Neukölln. Hermann Nehls war als Mechaniker im Personalrat und Auszubildendenvertreter, beim DGB Gewerkschaftssekretär. Heute ist er berentet und aktiv im Verein Internationale Solidarität, im AKI und in der Linken Neukölln.

Erstveröffentlicht in nd vom 2.12.23
https://www.nd-aktuell.de/

Wir danken dem nd und unseren Kollegen für das Publikationsrecht.

Feministischer Generalstreik


Titelbild: Protest vor dem Sitz der Provinzregierung beim femnistischen Generalstreik im Baskenland / Foto: Amalur Gaztanagai

Im Baskenland legen die Fabrikarbeiter für die Pflegekräfte die Arbeit nieder. Erstmals rufen die baskischen Gewerkschaften außerhalb des Frauenkampftags zum Generalstreik auf, um stellvertretend für die zu streiken, die selbst nicht streiken können oder dürfen.

Ralf Streck, San Sebastián

»Gora borroka feminista«, schallen Sprechchöre schon am frühen Donnerstagmorgen durch die Stadtteile des baskischen Seebads Donostia-San Sebastián. Dass an diesem 30. November viele den »Feministischen Generalstreik« hochleben lassen, wurde sofort beim Einschalten des Radios deutlich. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk EITB, der meistgehörte Sender hier, lief nur ein Notprogramm mit Musik und stündlichen Nachrichten. Auf den Straßen lassen sich derweil die Aktivist*innen auch vom starken Regen nicht davon abhalten, mit Regenschirmen bewaffnet durch Industriegebiete und Straßen in allen Städten und Dörfern zu ziehen, um für den Ausstand zu werben.

»Bei diesem Generalstreik müssen die Männer unterstützen, insbesondere in den am stärksten von Männern dominierten Bereichen, wie in großen Fabriken und Unternehmen«, hatte Maite Irazabal, Sprecherin der Frauenversammlung in Biskaya, im Vorfeld bei Mobilisierungen zum Generalstreik gefordert. Agustín Rodríguez hat sich diese Aufforderung zu eigen gemacht. Er ist mit Streikposten im Stadtteil Gros unterwegs. Vor seiner »Marruma Taberna« warten Kunden vergeblich, dass sich die Türen der Kneipe öffnen. Gegenüber »nd« erklärt er: »Ich streike, da das Pflegesystem vollständig umgekrempelt werden muss.« Es dürfe nicht sein, dass die Pflege in Krankenhäusern, Heimen und zu Hause vor allem von Frauen geleistet werde, daran müssten auch verstärkt Männer teilnehmen. Auch die Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen sich deutlich verbessern.

Wurde schon am Internationalen Frauenkampftag stark gestreikt, hatte sich die feministische Bewegung hier schon vor Jahren zum Ziel gesetzt, über den 8. März hinauszukommen. Das ist ihr, nach der Zäsur in der Corona-Pandemie, gelungen. »Wir haben mit der Idee eines feministischen Streiks die Gewerkschaften und soziale Organisationen durchdrungen«, erklärt Naia Torrealdai Mandaluniz, Sprecherin von »Bizitzak Erdigunean« (Das Leben im Zentrum). Die zähe Arbeit der Bewegung hat erste Erfolge gezeigt und Torrelaldai bewertet den Streik als »historischen« Vorgang.

Zum Streik haben neben Feministinnen auch Studenten- und Rentnervereinigungen, soziale Organisationen und alle baskischen Gewerkschaften aufgerufen. Die großen spanischen Gewerkschaften CCOO und UGT beteiligen sich, wie beim Streik für würdige Renten im Januar 2020 nicht, dafür die kleineren CGT und CNT. CCOO und UGT geben sich gerne progressiv, machen aber vor allem Klientelpolitik für eine meist noch relativ gut abgesicherte Arbeiterschaft.

Die Arbeitsbedingungen in den meist von Frauen ausgeübten Pflegeberufen sind oft prekär. Teilweise nehmen sie bisweilen extrem ausbeuterische Formen an – wie in der häuslichen Pflege. Die wird oft von illegalisierten Einwanderinnen geleistet. »Wir müssen praktisch alle Bedingungen akzeptieren«, erklärt Elisa Pereda zu endlosen Arbeitstagen und einer Sieben-Tage-Woche. »Wir sind denen hilflos ausgeliefert, die uns einen Arbeitsvertrag versprechen, die Grundlage für eine Aufenthaltsgenehmigung.« Um das zu beenden, fordern die Aktivist*innen die Aufhebung des Ausländergesetzes und die Legalisierung aller Pflegekräfte. Doch real wird das Streikrecht nicht nur Frauen wie Pereda verweigert, weshalb für sie heute stellvertretend viele Frauen und Männer auf der Straße sind, überraschend auch recht viele junge Männer. In einigen Sektoren war die Streikbeteiligung sehr hoch. Die baskische Regionalregierung spricht zum Beispiel von 40 Prozent im Bildungssektor, die Gewerkschaften sogar von 75 Prozent.

In Pflegeberufen ist ein Streik nur eingeschränkt möglich, da Kranke, Alte, Behinderte und Kinder sich nicht einfach selbst überlassen werden können. Das zeigt sich an den von der Regionalregierung verordneten »Minimaldiensten«. Sind es im Transportbereich 30 Prozent, sind es in Heimen schon 50 bis 60 Prozent und in einigen Bereichen sogar 100 Prozent, wo gar nicht gestreikt werden kann.

Gestreikt wird aber auch gegen die zunehmende Privatisierung, gegen die sich der Chef der größten Gewerkschaft im Baskenland wendet. Der ELA-Chef Mitxel Lakuntza kritisierte, dass pflegebedürftige Menschen immer stärker vernachlässigt würden, die Pflege werde oft von »privaten Unternehmen geleistet«, während sich die »Institutionen ihrer Verantwortung entziehen«. Das sieht auch Eider so, die vor dem Rathaus in Donostia die Privatisierungen durch die Stadtregierung hart kritisiert und mit ihren Kolleginnen für eine würdige Pflege in öffentlicher Hand eintritt. Sie ist von der »guten Mobilisierung« erfreut: »Es sind viele Leute gekommen«, erklärte sie dem »nd« und erwartete für den Nachmittag eine riesige Demonstration, wie in allen anderen baskischen Städten. Dass viele Kneipen und Geschäfte in San Sebastián, anders als bei anderen Generalstreiks, geöffnet sind, zeigt für den Wirt Rodríguez, dass noch ein langer Weg zu beschreiten ist. Er ist sich mit Eider darüber einig, dass der Streik ein »Startpunkt« ist und tiefer in die Gesellschaft vorgedrungen werden muss.

Zum Teil kam es aber auch zu Übergriffen auf Streikende durch die Polizei und es gab Festnahmen, wie am Sitz der Provinzregierung. Dort hatten sich fünf Frauen angekettet. Die Polizei prügelte sich durch die friedliche Menge zu den Frauen durch, die schließlich weggeschleift wurden. Die Sicherheitskräfte können Generalstreiks offenbar wenig abgewinnen, auch nicht feministischen.

Erstveröffentlicht im nd, v. 1.12.23
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178187.feminismus-baskenland-feministischer-generalstreik.html

Wir danken für das Publikationsrecht.

„Sobald wir die Russen anrufen, werden sie sich am nächsten Tag an den Verhandlungstisch setzen“

Von Florian Rötzer

Nach Arakhmaia, der Fraktionsvorsitzende der „Diener des Volkes“, hätte der Krieg im Frühjahr 2022 enden können, wenn die Ukraine einen neutralen Status akzeptiert hätte. Sucht Kiew nach einem Ausweg aus dem Krieg?

David Arakhamia ist nicht irgendjemand, er ist Fraktionsvorsitzender von Selenskijs Partei „Diener des Volkes“. Und er bekannte jetzt in einem Interview für den Sender 1+1, was vielen Ukraine-Unterstützern im Westen nicht gefallen wird, dass der russische Angriffskrieg kurz nach seinem Beginn im Frühjahr hätte beendet werden können. Putin hatte einer afrikanischen Delegation den Entwurf des in Istanbul ausgehandelten Friedensabkommens gezeigt. Arakhamia führte als Grund dafür an, warum der Krieg dennoch weiterging und Zehn- oder Hunderttausenden das Leben gekostet hat, was die Spatzen längst vom Dach pfiffen, aber was man in Nato-Kreisen verschwieg: Es war vor allem Boris Johnson, der Selenskij dazu antrieb, die Friedensverhandlungen abzubrechen und auf Sieg, d.h. auf Rückeroberung aller Gebiete, einschließlich der Krim, zu setzen. Wir hatten im Mai 2022 darüber berichtet: Hat Boris Johnsohn Selenskij gedrängt, Verhandlungen mit Russland einzustellen?.

„Russlands Ziel war es, Druck auf uns auszuüben, damit wir die Neutralität akzeptieren“, zitiert Strana Arakhamia. „Das war für sie das Wichtigste: Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir die Neutralität akzeptierten, wie es Finnland einst tat. Und wir würden eine Verpflichtung eingehen, nicht der NATO beizutreten. Das war die Hauptsache.“ Alles andere wie die „Entnazifizierung“ oder der Schutz der russischsprachigen Bevölkerung sei politische Würze oder Blabla gewesen.

Auf die Frage, warum die Ukraine das abgelehnte hatte, sagte er, dass dafür erstens eine Verfassungsänderung notwendig gewesen wäre, weil der Nato-Beitritt in die Verfassung aufgenommen worden war. Zudem habe es kein Vertrauen in die Russen gegeben, Vereinbarungen auch einzuhalten. Zu der Zeit sei eben Boris Johnson nach Kiew gekommen, der von Vereinbarungen abgeraten und gesagt habe: „Lasst uns einfach kämpfen.“

Und Arakhamia sagte: „Russland wird sich sofort an den Verhandlungstisch setzen. Sobald wir sie anrufen, werden sie sich am nächsten Tag an den Verhandlungstisch setzen.“ Sie würden wissen, dass dann die versprochenen Waffenlieferungen aus dem Westen noch weiter verzögert werden.

Allerdings versicherte er, dass die politische und militärische Führung den Krieg weiter fortsetzen wollen, da jetzt die Verhandlungsposition sehr schlecht sei und es in Frage stünde, ob die Gesellschaft eine Beendigung des Krieges akzeptieren würde. Das könne auch das Parlament nicht entscheiden. Es gebe „sehr polare Ansichten“, sie würden sich im Parlament „gegenseitig umbringen“. Die Entscheidung könne nur über ein Referendum erfolgen: „Wenn das Volk sagt, dass es notwendig ist. Dann werde ich es tun, ohne hinzusehen – ich werde einfach meine Meinung beiseite legen und tun, was die Leute sagen. Wenn die Abgeordneten entscheiden, fühle ich mich nicht stark genug, um das zu entscheiden.“

Was Selenskij über Waffenlieferungen und finanziellen Unterstützungen hinaus angeboten wurde, sagte der Fraktionschef nicht. Im Hintergrund stand, dass vor allem die USA und Großbritannien, die von einer friedlichen Lösung durch die Minsker Abkommen nichts hielten, nach der Verweigerung, mit Russland über dessen Sicherheitsinteressen zu sprechen, auf Krieg setzten. Nachdem die Russen bei Kiew zurückgeschlagen wurden oder ihre Truppen zurückgezogen hatten, war vermutlich der Eindruck entstanden, dass die russischen Streitkräfte schwach seien und dem Land wegen der Sanktionen sowieso schnell der Stecker gezogen würde.

Wie auch immer muss man sich jetzt vor allem fragen, was Arakhamia mit seinem Äußerungen bezweckte, die nahelegen, dass der Westen in Gestalt des britischen Premiers, die Verlängerung des Krieges wollte, während Selenskij auf dem Weg zu einer Beendigung war. Ein militärischer Sieg über die Russen, wie er lange Zeit verkündet wurde, ist für die ukrainische Regierung und die Regierungspartei „Diener des Volkes“ erst einmal realistisch nicht mehr erreichbar. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, zuletzt vom Obersten Militär Saluschni bestätigt, dass bestenfalls ein langer Stellungskrieg droht, wenn nicht außergewöhnliche militärische Unterstützung kommt. Selenskij versucht zwar, weiterhin Optimismus zu verbreiten, nimmt aber dafür einen Zwist mit der Militärführung hin.

Dass Arakhamias Äußerungen  mit Selenskij abgesprochen waren, ist zu vermuten (Selenskij: Wenn Unterstützung wegen Israel ausbleibt, „werden wir uns zurückziehen müssen“). Selenskijs Macht bröselt, er befürchtet, dass General Saluschni gegen ihn antreten könnte. Nicht umsonst werden Wahlen weiter hinausgezogen und bemüht sich Arakhamia gerade darum, mit den bislang verpönten Abgeordneten der eher prorussischen Oppositionspartei „Plattform – Für das Leben“ eine Zusammenarbeit zu ermöglichen. Vielleicht wollen Selenskij und seine Partei die Möglichkeit ausloten, einen Volksentscheid über Friedensverhandlungen durchzuführen. Das könnte deren Macht sichern und verhindern, als Verräter zu gelten. Angesichts der bröckelnden und ungewissen militärischen und finanziellen Unterstützung aus dem Westen, dürfte der Druck steigen, nicht alles an die Wand zu fahren und einen Ausweg zu finden, der auch für die USA und die Nato gesichtswahrend wäre, da es die rein militärische Lösung kaum mehr gibt.

Erstveröffentlicht im Overton Magazin
https://overton-magazin.de/top-story/sobald-wir-die-russen-anrufen-werden-sie-sich-am-naechsten-tag-an-den-verhandlungstisch-setzen/

Wir danken für das Publikationsrecht.

Diese Seite verwendet u. a. Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung