Der gleiche Schmerz

Kundgebungungen und Notfall-Nummer: Wie sich die Initiative »Standing Together« in Israel für Frieden einsetzt

Cyrus Salimi-Asl

Bild: Rula Daood und Alon-Lee Green von »Standing Together«, einer Friedensinitiative mit jüdischen und palästinensischen Israelis

Foto: Doro Zinn

Es fing hoffnungsvoll an, Ende 2015, Anfang 2016, als sich linksorientierte jüdische und palästinensische Israelis zusammenschlossen, um gemeinsam für Frieden zu streiten. Der Name der daraus entstandenen Graswurzelbewegung »Standing Together« deutet an, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Die ersten Treffen der sich sozialistisch verstehenden Bewegung fanden auch in den Räumen des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung statt. Am 6. Dezember dieses Jahres waren die beiden Ko-Direktoren Rula Daood und Alon-Lee Green auf Einladung der Stiftung in Berlin; sie Palästinenserin, er jüdischer Israeli. Der Saal war gerammelt voll, das Interesse so groß, dass viele Anmeldungen abgelehnt wurden. Offenbar ist das Bedürfnis groß, miteinander zu sprechen und sich gemeinsam zu versichern, dass es trotz des blutigen Kriegs noch Hoffnung gibt.

Das von der Islamisten-Miliz Hamas begangene Massaker an Israelis vom 7. Oktober hat viele israelische wie palästinensische Aktivisten, die sich gemeinsam für mehr Gleichberechtigung in der israelischen Gesellschaft einsetzen, buchstäblich gelähmt. Die Stimmung in der israelischen Gesellschaft ist auf Krieg getrimmt, Friedensinitiativen, besonders unter Beteiligung von Palästinensern, fallen schnell unter den Generalverdacht des Vaterlandsverrats. So wurden im Oktober zwei Aktivisten von »Standing Together«, die sich für die Verbesserung der Beziehungen zwischen jüdischen und palästinensischen Bürgern Israels einsetzten, von der israelischen Polizei in Jerusalem festgenommen. Sie haben bloß Plakate aufgehängt mit der Aufschrift »Wir stehen das gemeinsam durch« – auf Arabisch und Hebräisch.

Rula Daood berichtet, wie die Behörden kurz nach Kriegsbeginn mit den palästinensischen Bürgern umsprangen oder mit jedem, der etwas anderes sagten als die Regierung vorgab. »Selbst wenn man geschrieben hat ›Mein Herz ist mit Gaza‹ oder ›Wir wollen keine weiteren Kriege‹, oder irgendwas anderes, was nicht mit der Regierungslinie übereinstimmte, wurden wir verfolgt.« In der ersten Kriegswoche seien sogar bekannte palästinensische Schauspieler und Fußballer verhaftet worden, nur weil sie etwas zu Gaza gesagt hatten. »Sie wurden in Handschellen zur Polizeistation gebracht, vor eine israelische Flagge gestellt und so fotografiert«, erzählt Rula. Das Bild sei dann überall verbreitet worden als deutliche Warnung an alle Palästinenser: Wer Kritik äußert oder sich auf das Leiden der Menschen in Gaza bezieht, wird verhaftet. Sie erinnert daran, dass rund 20 Prozent der israelischen Bevölkerung palästinensische Araber sind.

Derzeit ist es schwer, in Israel für Frieden zu werben. Zu groß ist die Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung zum Krieg gegen die Hamas, zu klein der Anteil derer, die für einen Ausgleich eintreten, arabische bzw. jüdische Israelis nicht als Gegner, sondern gleichberechtigte israelische Staatsbürger sehen, die ein gemeinsames Interesse haben: das Ende der Gewalt. Die Zustimmung zur sogenannten Zwei-Staaten-Lösung ist unter Israelis massiv geschrumpft auf magere 25 Prozent. Das ergab eine Gallup-Umfrage, die in der Zeit vom 13. Oktober bis 3. Dezember durchgeführt wurde; bei der letzten Erhebung 2012 waren es noch 61 Prozent.

»Die Atmosphäre in Israel ist im Moment so, dass es sehr wenig Geduld mit der Friedensbewegung gibt. Und das sage ich als jemand, der sein ganzes Erwachsenenleben lang Teil der Friedensbewegung war«, sagte Yossi Mekelberg, der beim britischen Thinktank Chatham House zum israelisch-palästinensischen Konflikt forscht, dem US-Magazin »Time«.

Diese Aussage verwundert nicht, wenn man sich Ergebnisse des Peace Index Survey zum Einsatz von Gewalt in Gaza anschaut: 57,5 Prozent der israelischen Juden gaben an, dass die israelischen Streitkräfte ihrer Meinung nach zu wenig militärische Gewalt in Gaza einsetzen, während nur 1,8 Prozent der Meinung waren, die Armee setzte zu viel ein; für 36,6 Prozent seien die Mittel angemessen.

Dennoch ist die Friedenbewegung nicht tot, und gerade »Standing Together« hat nach der anfänglichen Schockstarre alle Ressourcen mobilisiert. Am Donnerstagabend gab es in Tel Aviv eine große Friedensdemo: »Tausende jüdische und palästinensische Bürger Israels versammeln sich in Tel Aviv gegen diesen endlosen Krieg und fordern ein Waffenstillstandsabkommen, das die Geiseln zurückbringt und das Töten in Gaza beendet« berichtete Alon-Lee Green live von der Kundgebung über X und unterstreicht, dass es die »größte Kundgebung für den Frieden seit Beginn des Krieges« gewesen sei.

Die Graswurzelbewegung bietet Israelis, Juden wie Arabern, vor allem einen geschützten Rahmen, in dem sie über ihre Ängste und ihr Leid sprechen können. Eine der ersten Maßnahmen waren Kundgebungen, die nach Kriegsbeginn dank eines Netzwerks Tausender Aktivisten in verschiedenen Städten organisiert wurden. »Die Menschen bei diesen Kundgebungen wollten keine Politik, sondern nur reden. Sie wollten verstehen, dass das Leid ein gegenseitiges ist. Sie wollten sehen, dass jeder von uns seine eigene Geschichte hat, aber den gleichen Schmerz spürt, den wir auch spüren«, sagt Rula Daood.

Ein zweites Instrument ist eine Art Notfall-Telefonnummer, bei der Menschen, die Diskriminierung erfahren, erzählen können, was ihnen widerfahren ist. »Viele wurden von ihrem Betrieb gefeuert, palästinensische Studenten ihrer Hochschule verwiesen«, erzählt Rula Daood. »Mit unserer Notfallnummer konnten wir den Menschen politische und rechtliche Unstützung anbieten.«

Denn das gegenseitige Misstrauen wächst in den Betrieben, speziell in gemischten jüdischen und arabischen Belegschaften. Gruppen wie »Standing Together« haben Berichte erhalten über jüdische Arbeitnehmer, die ihre Chefs und die Polizei über palästinensische und manchmal auch jüdische Kollegen informieren, weil die sich in einer Weise über Gaza geäußert haben, die abseits der offiziellen Regierungspolitik liegt. Rechtsextreme jüdische Gruppen sollen Facebook und andere Social-Media-Konten durchforsten auf der Suche nach vermeintlich »belastenden« Aussagen.

Zwischen dem 7. Oktober und 13. November wurden bereits über 100 arabische Israelis wegen angeblicher Verstöße gegen die israelischen Gesetze gegen Aufwiegelung und Rassismus verhaftet – für Dinge, die sie in sozialen Medien gesagt oder gepostet haben, berichtet Adalah, Zentrum für die Rechte arabischer Minderheiten in Israel. »Ich verstehe die Ängste der Juden«, sagt Rula Daood, »aber für uns Palästinenser fühlt sich das wie eine Hexenjagd an.«

Einen Ausweg zu finden aus dem jahrzehntelangen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern erfordert viel Mühe und mutige Vorschläge, »aber für einige Leute scheint es wichtiger zu sein, ihre historische Gerechtigkeit zu bewahren, anstatt eine Lösung zu finden«, beklagt Alon-Lee Green. Klar sei jedoch: »Die Palästinenser verdienen die Freiheit, die Israelis verdienen Sicherheit.«

Erstveröffentlicht im nd v. 30.12.23
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178843.standing-together-friedensbewegung-in-israel-der-gleiche-schmerz.html?sstr=Der|gleiche|Schmerz

Wir danken für das Punblikationsrecht.

Mailänder Scala: Kraftvolle Aktion gegen die Bombardierung von Gaza

Wir publizieren diese Geschichte zum Jahreswechsel weil sie Mut macht. Sie handelt von einer gelungenen Aktion, die das Schweigen bricht und der Unwahrheit und Verlogenheit die Stirn bietet. Bringen wir 2024 den Mut auf, um durch unzählige solcher Aktionen den Ungeist der Eskalation von Gewalt und Krieg in die Defensive zu zwingen! (Peter Vlatten)

von Andrea De Lotto 27.12.23 – Mailand, Italien , Pressenza

Am Samstag, 23. Dezember um 14:00 Uhr fand in der Mailänder Scala die Generalprobe des Weihnachtskonzerts statt. Das Orchester und der Chor sind „in Zivil“, das Publikum ist „bodenständig“, niemand hat bezahlt.

Ab und zu unterbricht der Dirigent das Orchester, gibt Anweisungen, lässt wiederholen, doch die Atmosphäre entspricht der des vielleicht wichtigsten Theaters der Welt.

Diesen Nachmittag haben einige Personen beschlossen, dass auch dort etwas gesagt werden muss, um gehört zu werden. Sie warten auf das Ende, sie wollen weder unterbrechen noch stören, aber sie wollen gehört werden!

Video Pressenza

Im Moment des Schlussapplauses werden zwei Banner ausgerollt, Fahnen erscheinen, eine Person fordert alle auf, sich vor Augen zu führen, was in der Welt gerade geschieht. Sie will jenen Gehör verschaffen, die unter den Bombardierungen und Massakern leiden, nicht nur in Gaza, sondern auch in der Ukraine, im Sudan, in Äthiopien, im Tschad, im Jemen, in Kurdistan…

Am Ende gibt es viel Beifall und Glückwünsche, sogar die Orchestermusiker nicken zustimmend.

Tagtäglich werden wir einen Weg finden müssen, unserer Stimme Gehör zu verschaffen, bis wir die ohrenbetäubenden und hämmernden Klänge der Bomben übertönen können. Wir müssen unsere kleinlichen, opportunistischen, schändlichen und tauben Regierungen endlich aufrütteln.

Habt Mut. Lasst uns gemeinsam weitermachen.

Der Beitrag von Andrea De Lotto ist erschienen in Pressenza, 27.12.2023

Wir danken für die Publikationsrechte

Palästina/Israel: «Zwei hochtraumatisierte Bevölkerungen stehen einander gegenüber»

Interview mit Anjuska und Jochi Weil*

Zeitgeschehen im Fokus Weltweit hört man von jüdischer Seite «Not in our name!» Was ist damit gemeint?

Jochi Weil Die israelische Regierung beansprucht im Namen von allen Jüdinnen und Juden zu sprechen. Das ist ihre Grundhaltung abgeleitet von «Am Israel», das heisst «das Volk Israel». «Not in our name!» heisst: Wir sind zwar Juden, genau wie die anderen auch, aber was die israelische Regierung da verkündet und macht, das ist nicht in unserem Namen. So sehe ich das vereinfacht. Hast Du eine Ergänzung?

Anjuska Weil In den USA ist diese Bewegung schon recht stark. Noch eine Ergänzung, ich bin nicht Jüdin. Ich habe einen jüdischen Vater. Im Judentum geht die Religionszugehörigkeit von der Mutter aus.

Auf welchen ethischen Grundlagen beurteilen Sie die Lage im Nahen Osten?

Jochi Weil Für mich gibt es zwei ethische Grundlagen. Einerseits wichtige Stellen in der Thora wie «Suche den Frieden, jage ihm nach», Psalm 34 – vom Christentum später übernommen, aber ganz klar jüdischen Ursprungs – und natürlich dann in der Thora «Gerechtigkeit, und nur Gerechtigkeit sollst Du verfolgen». Andrerseits die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Das Individuum, der einzelne Mensch ist für mich das Zentrum schlechthin. Was ich jetzt erlebe, diese vielen Tötungen, bis jetzt schon über 19 000 Menschen, und Verletzte an Leib und Seele sowie dann die vielen Zerstörungen, das tangiert das, was mir wichtig ist. Ich sehe natürlich auch, dass wir Menschen widersprüchlich sind mit all unseren Idealen.

Anjuska Weil Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung – ethische Grundlagen – sind eigentlich seit der Staatsgründung von Israel ein ganz schwieriges Problem. Eine nationale Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina (Balfour-Deklaration 1917) heisst nicht per se, dass man alle anderen ausschliesst, sondern dass es eine Heimstätte für jüdische Menschen ist. Aber dann hat die jüdische Seite die anderen immer mehr verdrängt. Gleichberechtigung hat bei der Staatsgründung Israels nicht mehr existiert oder gar nicht existiert. 

Die Balfour-Erklärung spricht auch von der «Massgabe, dass nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht jüdischen Gemeinschaften in Palästina» in Frage stellen könnte.

Jochi Weil In der Unabhängigkeitserklärung von 1948 heisst es, dass man mit der örtlichen Bevölkerung zusammenleben will.¹ Aber erst mit der Zeit erhielt diese das Wahlrecht. So sind die Widersprüche ein Beispiel dafür.

Der österreichisch-israelische Religionsphilosoph Martin Buber äusserte einmal, Juden seien als Gäste nach Palästina gekommen und sollten sich dort auch wie Gäste verhalten.

Anjuska Weil Ja, Israel war bei der Staatsgründung ein Fremdkörper in der Levante und ist es leider geblieben, weil man sich nicht wie Gäste verhalten hat, im Gegenteil. Man kam mit einem europäischen, kolonialistischen Selbstverständnis, das die anderen – nicht explizit aber implizit – als minderwertig betrachtete. Hätte man die Gedanken von Martin Buber berücksichtigt, wäre die Geschichte anders verlaufen. 

Diese ethische Grundlage von Martin Buber …

Jochi Weil Sie hat sich nicht durchgesetzt. Buber, ein Kulturzionist, gehörte zu dieser Gruppe, die einen binationalen zionistischen Staat wollte, in dem Juden und Araber gleichwertig und gleichberechtigt miteinander leben. Der Begriff «Palästinenser» ist relativ neu. Er ist später entstanden im Zusammenhang mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in den 1960er Jahren. 

Dieser binationale Staat sollte auch sehr kulturell ausgerichtet sein. Bis zur Staatsgründung war auch der zionistische Hashomer Hatzair, die jüdische, zionistische, sozialistische Jugendbewegung, die ja auch international vertreten ist, einst stark von Martin Buber geprägt. Nach der Staatsgründung hat sich der Hashomer Hatzair nicht mehr für einen binationalen Staat geäussert. 

Anjuska Weil Es gab ja auch diese Stimmen, die sagten, «nicht vorpreschen mit der Staatsgründung», warten, bis die arabische Seite auch so weit ist. 

Jochi Weil Ja, das ist die berühmte Auseinandersetzung zwischen Ben Gurion und Nahum Goldmann, Gründer und Präsident des World Jewish Congress und Präsident der World Zionist Organisation. Beide waren Zionisten, aber sie haben sich unterschieden. Ben Gurion hat gesagt: «Nein, jetzt proklamieren wir diesen Staat.» Und damit war Goldmann nicht einverstanden. 

1982 haben Sie das Gedicht «Friede» geschrieben, in dem Sie von einer Zweistaatenlösung sprechen. 

Jochi Weil Das war vor der Konferenz in Algier von 1988, als Arafat mit «C’est caduc» (das ist hinfällig), Artikel 15 und 22 in der palästinensischen Nationalcharta ausser Kraft setzte, so unter anderem den Wortlaut «Beseitigung der zionistischen und imperialistischen Präsenz» in Palästina. 

Anjuska Weil Damals war eine Zweistaatenlösung möglich. Es gab die Siedler noch nicht so wie jetzt, noch nicht diese Festungsstädte. 

Jochi Weil Ja, vor allem noch nicht so viele Siedler. Und dann, wohlverstanden noch unter der sozialdemokratischen Regierung. Der Likud kam erst später. 

Ausgehend von der aktuellen Situation im Nahen Osten: Was bräuchte es für einen wirklichen Frieden? 

Anjuska Weil Nicht diese Politiker, die jetzt an der Macht sind. Das kann man ganz klar festhalten. Wie auch immer es jetzt weitergeht mit dem schrecklichen Krieg, in jedem Fall braucht es Menschen – jüdisch-israelische, aber auch jüdische in der Diaspora und palästinensische dort und in der Disapora – , die etwas Konstruktives miteinander machen können. Eine ganz wichtige Grundlage für die Zukunft ist, dass man einander vertraut und sich auf Augenhöhe begegnet. 

Jochi Weil Ja, das kann ich ohne Vorbehalt unterschreiben. Für einen wirklichen Frieden braucht es – die Schweiz müsste dabei mithelfen – eine internationale Konferenz, bei der die Frage Palästina/Israel wirklich aufs Tapet kommt, und zwar ernsthaft. Es hat schon viele Konferenzen gegeben mit bla, bla, bla. Es ist sehr wichtig, dass das auch national auf den Tisch kommt und in anderen Ländern auch. In dem Sinne folge ich meinem Freund, Alon Liel. Er war einst als israelischer Botschafter in Südafrika ein Gesprächspartner von Nelson Mandela. Vor einigen Jahren ist er in Europa zu verschiedenen Parlamenten gereist und hat sie aufgefordert, den Staat Palästina anzuerkennen. 

Anjuska Weil Noch etwas wäre wichtig. Immer wieder wird gesagt, auf palästinensischer Seite gäbe es keine Gesprächspartner. Es gibt aber jemanden, der den Konsens von allen palästinensischen Fraktionen hätte. Es ist Marwan Barghouti, der seit 2004 im Gefängnis ist. Es geht nicht darum, einfache Parallelen zu ziehen zu Südafrika. Dort hat es auch jemanden gegeben, der im Gefängnis war, Nelson Mandela. Der südafrikanische Staatspräsident Frederik Willem de Klerk hatte die Weisheit, diesen aus dem Gefängnis zu entlassen und ihn als Gesprächspartner zu akzeptieren. Wenn es möglich wäre, Marwan Barghouti als Gesprächspartner aus dem Gefängnis zu holen, wäre das ein ganz grosser und wichtiger Schritt. 

Jochi Weil Ja, das vertrete ich auch. Israel müsste Marwan Barghouti  befreien. Er hat einen ähnlichen Weg gemacht wie Nelson Mandela. Irgendwann kam er zu der Erkenntnis «Nein, Gewalt ist es nicht. Diesen Weg gehen wir friedlich». Israel müsste  bereit sein, ihn frei zu lassen, und das sehe ich im Augenblick nicht. Aber auch Mustafa Barghouti, Präsident der Palestinian Medical Relief Society (PMRS), wäre ein palästinensischer Gesprächspartner für Friedensverhandlungen. Er ist eine wichtige Persönlichkeit, nur hat er keine Hausmacht. 

Anjuska Weil Die Frage ist, was man machen kann. Eine internationale Kampagne zur Freilassung von Marwan Barghouti könnte etwas bringen und würde ihn auch bekannter machen. 

Jochi Weil Das finde ich gut, sehr gut. Er gehört zur Fatah.

Was sind Ihre weiteren Überlegungen? 

Jochi Weil Ich würde der Hamas empfehlen: «Ergebt Euch, sonst gibt es eine unglaubliche Katastrophe. Ihr habt militärisch keine Chance – wirklich keine.» 

Ich kenne meine Leute, ich bin ja auch einer von ihnen, aber ich gehe mit dem anders um. Diese Härte, die sie haben und mit der sie im Gazastreifen vorgehen, das ist etwas, was sie durchziehen werden. Man hört deutliche Kritik von Uno-Generalsekretär Guterres, von der WHO, von Uno-Resolutionen und so fort. Ich gehe auch vom Individuum aus. Diese vielen Opfer, Tote und Verletzte, wir haben alle nur ein Leben auf dieser Erde. Und da muss ich sagen, das darf nicht sein. Das darf nicht sein! Und darum sage ich ganz bewusst: «Ergebt Euch». Das sage ich um der Menschen willen. Das hat kaum mit Gerechtigkeit zu tun, aber mit dem Leben von jedem einzelnen Palästinenser und jeder Palästinenserin. Das könnte zu einer gewissen Ruhe führen. Dann könnte man dann auch eine Konferenz realisieren. Das ist meine feste Überzeugung. 

Anjuska Weil Wir sind da unterschiedlicher Meinung. Ich respektiere, was Du sagst. Ich weiss, dass Du das nicht im billigen Sinne meinst, überhaupt nicht. Aber ich denke, es geht nicht. Was ihnen noch bleibt, ist die eigene Würde zu behalten, in dem Sinne, dass sie sich nicht ergeben. Im Laufe der Geschichte sind viele untergegangen. Aber was geblieben ist, ist, dass sie sich nicht ergeben sondern tapfer gekämpft haben. In Europa die Pariser Kommune (1871), die Spanische Republik (1931 bis 1939), in den USA der Aufstand der Indigenen von Wounded Knee oder die Sklavenaufstände seit Spartakus. Der Mythos jener, die sich nicht ergeben haben, ist immer wieder die Basis für andere, weiterzukämpfen. Natürlich gibt es auch Leute in der Bevölkerung, die sich lieber ergeben würden als weiter zu kämpfen, das muss man auch respektieren. Hier haben wir eine unterschiedliche Position. Die Latinos sagen dazu «Patria o muerte». Das ist eine Haltung bei vielen, vor allem auch bei jüngeren palästinensischen Menschen. Ich weiss nicht, wie respektiert die Palästinenser sein werden bei den eigenen Leuten, bei den internationalen Playern und bei den Israeli, wenn sie sich ergeben haben. 

Jochi Weil Ich muss vielleicht präzisieren: «Ergebt Euch im bewaffneten Kampf. Ihr habt keine Chance.» Und das mit der Würde möchte ich jetzt einfach einmal etwas in Frage stellen. Wenn ich jetzt sehe, wie die Hamaskämpfer am 7. Oktober gewütet haben, dann muss ich sagen, da ist nichts von Würde. Ich rede auch davon, wie die Hamas mit ihrer Zivilbevölkerung umgeht.

Anjuska Weil Ja, da bin ich mit Dir einverstanden. Aber es gibt nicht nur die Hamas. Es sind auch die palästinensischen Menschen in der Westbank, beispielsweise in Jenin und in Chalil (Nablus). Das sind nicht einfach «Hamas». Auch sie kämpfen für ihre Würde. Es ist die «ongoing Nakba» seit 75 Jahren. Es hat immer wieder Widerstand gegeben. Ich erinnere mich an eine Fahrt mit unserem palästinensischen Freund Saad in der Westbank. Als wir an hohen Felsen vorbeikamen, sagte er: «Schaut, von diesen Felsen haben sie unsere Kämpfer hinuntergestossen.» Es war klar, das überlebt man nicht. Ich habe dann gefragt: «War das in der Zeit der englischen Mandatsmacht?» Saad antwortete: «Jawohl, in dieser Zeit, aber ein Mandat von uns hatten die nie!» Die Art und Weise und die Würde, mit der er das gesagt hat, beeindruckte mich zutiefst. 

Bräuchte es nicht eine Klage gegen Israel und die Hamas vor dem Internationalen Strafgerichtshof?

Jochi Weil Das läuft bereits. Karim Ahmad Khan, Chefankläger des ICC, war bereits in Israel. Er wird auf beiden Seiten untersuchen. Dann gibt es natürlich die pfannenfertigen Voruntersuchungen vor allem zu den früheren Gazakriegen von 2008/2009 und 2014 unter Fati Bensouda. Die kommen dann auch noch dazu. Also das läuft. 

Es gibt noch etwas, was mir sehr wichtig ist. Anjuska, kannst Du das erzählen? 

Anjuska Weil Ich bin so aufgewachsen, dass ich gegenüber palästinensischen Menschen nie Angst entwickelt habe. Wir lebten im Wadi Jamal, etwas südlich von Haifa. Unsere palästinensischen Nachbarn, bei denen ich ein- und ausgegangen bin als kleines Mädchen, sind die ersten Leute, an die ich mich erinnern kann, die freundlich zu mir waren – ausser meiner engsten Kleinfamilie. Die Nachbarn waren sehr gut zu mir. Etwas ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Etwas weiter weg wohnte eine Familie, bei der die Frau aus dem Konzentrationslager gekommen ist. Sie hatte immer wieder, so wie wir das erlebt haben, völlig unvermittelt Schreianfälle, so auch, als ihr Sohn und ich miteinander gespielt haben. Das war so grässlich, dass es einem die Knochen zersägte. Wir Kinder haben augenblicklich alles fallen gelassen und sind weggerannt. Weil unsere palästinensischen Nachbarn am nächsten waren, haben wir uns bei ihnen in Sicherheit gebracht. Diese gute Erfahrung, dass wir uns in Sicherheit bringen konnten bei palästinensischen Nachbarn, das ist mir geblieben. Das Arabische gehört auch zum Soundtrack meiner Kindheit, obwohl ich kein Arabisch verstehe. 

Jüdische und palästinensische Leute haben jedoch – beide aus ihrer Erfahrung heraus und natürlich auch auf Grund der Propaganda – in der Regel Angst voreinander. Wie Jochi immer sagt, es sind zwei hochtraumatisierte Bevölkerungen, die einander gegenüberstehen. Die jüdisch-israelische Seite hat Angst vor Attentaten von Palästinensern. Die palästinensische Seite – im Gazastreifen sowieso – hat Angst vor Krieg und Bombardierungen. Die Kinder, die dort aufwachsen, kennen gar nichts anderes. Im Westjordanland kennen sie Israelis praktisch nur als Siedler und Soldaten und nicht als sich normal benehmende Zivilpersonen. Ich erinnere mich an einen Besuch bei einer palästinensischen Freundin im Gazastreifen. Während die Erwachsenen miteinander geredet haben, hat ihr ältester Sohn, damals etwa acht Jahre alt, gezeichnet. Er zeichnete Panzer mit ganz bösen Gesichtern. Vor den Panzern hatte es so kleine Strichmännlein, tote Kinder. Immer wieder hat er dasselbe gezeichnet, immer wieder ein neues Blatt und immer wieder das. Das war nach dem Gazakrieg von 2008/2009. Jetzt ist er ein junger Mann, er muss 23 oder 24 Jahre alt sein. 

Jochi Weil Ja, das wollte ich auch ergänzen. Diese tiefen Verwundungen, die da sind und aufeinanderstossen, die sind ein hochexplosives Gemisch, eingerahmt von den Ängsten, von denen du erzählt hast. Das ist ein Kernpunkt, je aus diesen Geschichten, der palästinensischen und der jüdischen. Es ist kein Konflikt. Es ist eine absolute Tragödie. 

Anjuska Weil Ein Merkmal der Traumatisierung kann auch sein, dass man für andere keine Empathie mehr entwickelt. Hin und wieder sieht man das bei Flüchtlingsfrauen. Obwohl ihr Kind bitterlichst weint, reagieren sie nicht. Diese Unfähigkeit zur Empathie kommt dann noch zu allem anderen dazu. 

Jochi Weil Ja, das ist eine klassische Haltung. Gestern Abend ist das auch zum Ausdruck gekommen. Es ist Chanukkazeit. Gestern hat man das vierte Licht angezündet. Es war sehr friedlich, und es wurde der israelischen Opfer und Geiseln, die umgekommen sind, gedacht. Aber kein Wort, kein einziges Wörtchen zu den Opfern im Gazastreifen und das, das unterscheidet mich. 

Was für ein Friedensmodell wäre für die politische Zukunft von Israel und dem besetzten Palästinensischen Gebiet sinnvoll?

Jochi Weil Mein Fernziel ist jetzt, weil ich ein überzeugter Schweizer bin, das Schweizer Modell mit den Kantonen und der Gewaltenteilung. Ich kann mir einen Kanton rund um Hebron oder rund um Jenin oder dann rund um Nazareth oder in Tel Aviv und so weiter vorstellen. Ich meine aber auf keinen Fall ein «Copy-paste». Wir – die Schweiz – sind ja das «gelobte Land», das muss man einfach sehen. Am prominentesten vertritt das Micheline Calmy-Rey. Sie kennt die Schweiz, sie war ja Bundesrätin. Sie war auch Mitbegründerin oder Gründerin der Genfer Initiative im Jahr 2003. Das ist meine Vision. Es muss eine demokratische Lösung geben für alle. Wenn man zum Beispiel einen Kanton Nazareth hat, sind jüdische Menschen dort in der Minderheit. In Tel Aviv gibt es mehr Jüdinnen und Juden als Araber, die israelischen Palästinenser müssen dort genauso geschützt sein. In jedem Kanton müssten dann die Minderheiten gleichberechtigt sein, wie zum Beispiel bei uns die romanische Bevölkerung, das ist für mich sehr zentral. Unser Schweizer Modell gefällt mir trotz all den vielen Problemen, die wir im Land haben. Aber ich bin so dankbar, dass ich hier leben darf. Das möchte ich Israel-Palästina auch gönnen. Aber das ist das Fernziel, bis dann sind meine Knochen schon längstens verstaubt. 

Herr und Frau Weil, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

* Anjuska Weil (1946) verbrachte ihre ersten Lebensjahre in Jugoslawien und Israel. Sie war Kindergärtnerin und Hortnerin und gründete mit ihrem Mann die  Sektion Ostschweiz von Terre des hommes. Zusammen mit einem Knaben aus Tunesien und einem Mädchen aus Korea bilden sie eine Familie. Sie engagiert sich gegen Apartheid und Rassismus und für Frieden und Solidarität mit den Völkern des Südens, so auch gegen den US-Krieg in Vietnam. Sie arbeitete mit an Projekten von medico international schweiz in Vietnam. Seit 1994 ist sie Präsidentin der Vereinigung Schweiz-Vietnam. 2006 wurde sie von Vietnam mit der Freundschaftsmedaille ausgezeichnet, 2016 für 25 Jahre Engagement für die Leprakranken sowie für 50 Jahre Vietnam-Solidarität. Von 2001 bis zu ihrer Pensionierung 2013 war sie Geschäftsführerin der Kampagne Olivenöl aus Palästina. Für die FraP! (Frauen Macht Politik!) sass sie 1991 bis 99 im Zürcher Kantonsrat. 

* Jochi Weil (1942) lebt mit seiner Frau Anjuska in Zürich. Er war Lehrer an der Volksschule und an der Berufsschule und engagierte sich für Reformen im Strafvollzug Er amtete als Schlichter in Mietsachen, als Arbeitsrichter und als Beisitzer an Arbeitsgerichten. Er war engagiert bei medico international schweiz, vormals Centrale Sanitaire Suisse CSS Zürich, und Mitbegründer der «Kampagne Olivenöl aus Palästina». Er ist im Vorstand der Religiös-Sozialistischen Vereinigung der Deutschschweiz (Resos) und arbeitet mit im Komitee Brückenschlag Zürich-Amed/Diyarbakir in der Solidarität mit Kurden und Kurdinnen. Jochi Weil ist Mitglied der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich ICZ.

¹ www.hagalil.com/israel/independence/azmauth.htm

Anjuska und Jochi Weil (Bild zvg)
Anjuska und Jochi Weil (Bild zvg)

Erstveröffentlicht in Zeitgeschehen im Fokus v. 22.12.23
https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-19-vom-22-dezember-2023.html#article_1618

Wir danken für das Publikationsrecht.

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