Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht


Lange Linien der Geschichte

Sachliteratur

Die Lektüre dieser Klassiker über deutsche Machtpolitik ist auch heute lohnenswert – insbesondere im Kontext des Ukraine-Krieges.

Von Merle Weber

Der Umgang der deutschen Linken mit der Ukraine hat gezeigt, dass ihr das Bewusstsein über die Existenz einer nationalen Machtpolitik der BRD abhandengekommen ist. Die einen schlucken unhinterfragt die Erzählung, dem deutschen Staat läge etwas am Wohlstand, der Freiheit und dem Leben der Menschen in der Ukraine – die Deutschen als selbstlose Retter der Ukraine, gar als Schutzmacht ganz Osteuropas. Und was ist schon eine Schutzmacht ohne militärische Stärke? Die anderen erklären Deutschlands Verwicklung in den Ukraine-Krieg nicht etwa aus der wirtschaftlichen und machtpolitischen Bedeutung Osteuropas für seine herrschende Klasse, sondern mit einem vermeintlichen Kadavergehorsam der deutschen Eliten gegenüber den US-Imperialisten. Kein Wort vom deutschen Ostimperialismus.

Ein Blick in den Klassiker „Griff nach der Weltmacht“ von Fritz Fischer bringt hier Klarheit. Fischer hat mit seiner Schrift nicht nur entscheidend in die Kriegsschuld-Debatte eingegriffen, sondern vor allem eine aktive, machtpolitisch motivierte Kriegszielpolitik der Eliten des kaiserlichen Deutschlands nachgewiesen. Dabei liefern Fischers Erkenntnisse über das Deutschland des frühen zwanzigsten Jahrhunderts auch für die Analyse der aktuellen deutschen Machtpolitik wertvolle Hinweise. Denn die geopolitischen Rahmenbedingungen sind auch mehr als hundert Jahre später im Wesentlichen dieselben geblieben: Heute wie damals ist Deutschland eine Mittelmacht mit wenig Rohstoffen und vergleichsweise wenig Territorium, die für sich dennoch eine Weltmachtgeltung beansprucht. Heute wie damals stehen die Strategen der deutschen Machtpolitik im Einflusskampf mit den Grossmächten vor der Aufgabe, dem deutschen Grössenwahn eine reale Basis zu geben. Über zwei Weltkriege hinweg ist die grundlegende Strategie der deutschen Imperialisten dieselbe geblieben: Erst Europa, dann die Welt.

Mittelmacht mit Grössenwahn

Vor mehr als hundert Jahren marschierten deutsche Soldaten das erste Mal in einen Weltkrieg, weil man in Berlin überzeugt war, „zur Stellung einer Weltmacht berufen und berechtigt zu sein“ (S. 136). Viele Deutsche sahen sich „als Träger einer höheren Kultur“ (S. 137) und empfanden deswegen eine expansive nationale Machtpolitik als gerechtfertigt. Bereits damals zeichnete sich die „Entwicklung Deutschlands zu einem hochindustriellen Exportland“ (S. 22) ab. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung kam der „Ruf nach Lebensraum“ und „Absatzmärkten“ jenseits der deutschen Aussengrenzen. Es herrschte der „Glauben, dass der ungehemmte [wirtschaftliche] Aufstieg in einer fast als wirtschaftsgesetzlich vorgestellten Expansion [Deutschlands] sich weiterentwickeln würde“ (S. 23). Und wo der Markt das mit der Expansion doch nicht von alleine regelte, rollten dann die deutschen Panzer. Die Kriegszielpolitik war der Versuch, die „geopolitische Beschränkung der deutschen Basis“ (S. 21) zu überwinden – der Griff nach der Weltmacht. „Überblickt man die deutschen Ziele […] in ihrer Gesamtheit, so ergibt sich das Bild eines Imperiums von grandiosen Ausmassen“ (S. 530), resümiert Fischer.

Dabei spielten in den strategischen Überlegungen der deutschen Imperialisten die „Kolonialziele nur eine nebengeordnete Rolle“. Im „Vordergrund“ der Kriegszielpolitik habe die Eroberung der „europäischen Basis“ gestanden, die „als die Grundlage jeder Überseepolitik“ und damit der angestrebten Weltmachtstellung angesehen wurde. Die deutschen Strategen gingen davon aus, mit einem Sieg vor allem über die Kolonialmächte England und Frankreich ein umfangreiches deutsches Kolonialreich „fast von selbst erreichen zu können“ (S. 515). Dominanz über Europa sei die „volkswirtschaftliche Grundlage der deutschen Weltpolitik“ (S. 22), äusserte sich damals ein führender deutscher Banker.

Europa den Deutschen

Die europäische Vormachtstellung wollte das kaiserliche Deutschland durch Expansion nach Westen und Osten erreichen. Im Westen plante Berlin unter anderem die „Annexion oder zumindest die wirtschaftliche Beherrschung“ (S. 144) Belgiens aber auch Luxemburgs und der Niederlande sowie die Eroberung von französischem Gebiet, insbesondere des Erzbeckens von Longwy-Briey. Damit hätte Deutschland seine Basis in Europa bereits an der Nordseeküste bis über die französische Grenze hinaus vergrössert und gleichzeitig zwei seiner europäischen Rivalen geschadet: England hätte mit seinem Verbündeten Belgien sein Sprungbrett nach Westeuropa eingebüsst und Frankreich wäre durch den Verlust industriell bedeutsamer Gebiete nachhaltig geschwächt. Sicherzustellen, dass Frankreich „als Grossmacht nicht neu erstehen kann“ (S. 98) war für den deutschen Kanzler ein übergeordnetes Ziel des Krieges.

Passend zum Thema…

Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel unterzeichnet am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin-Karlshorst.

Heute – eine Befreiung ohne Befreier

8. Mai 1945 – eine Erinnerung 2025

In grossen Teilen richtete Deutschland seinen Expansionsdrang nach Osten. Russland müsse „von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden“ (ebd.), so der damalige deutsche Kanzler. Gemeint waren unter anderem die Baltischen Staaten, Polen und die Ukraine, die vor Kriegsbeginn noch ganz oder teilweise russisches Staatsgebiet waren. Nicht nur der deutsche Kaiser sah im ersten Weltkrieg den „Endkampf der Slaven und Germanen“ (S. 38). Anti-slawischer Rassismus war weit verbreitet in einer Zeit, in der der deutsche Imperialismus nach Osten drängte.

Damals schon war der Gedanke nach Siedlungsraum im Osten in der deutschen Machtpolitik präsent. Deutschland strebte nach einer regionalen Vorherrschaft im baltischen Raum, inklusive Herrschaft über die Seewege der Ostsee, Annexionen im heutigen Lettland, Litauen und Estland sowie Polen, und darüber hinaus auch die indirekte Beherrschung der nicht offiziell annektierten Teile Polens sowie in Skandinavien. Österreich-Ungarn sollte deutsche Provinz werden, das heisst das heutige Österreich, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien und Bosnien Herzegowina sowie Teile Polens und der Ukraine (Galizien). Auch die Schwarzmeerregion sollte deutsch werden: über die Ukraine und „Restrussland“ bis nach Georgien und über Rumänien, Bulgarien bis in die Türkei, gar bis in den heutigen Iran reichten die Expansionsträume der deutschen Eliten vor und während des Ersten Weltkrieges.

Hauptsache Expansion

Fischer bestimmt nicht einfach das eine statische Kriegsziel der abstrakten Deutschen, sondern zeichnet über mehrere Jahre die Kriegszielpolitik als Prozess politischer Auseinandersetzung unter den Herrschenden in Militär, Staat und Wirtschaft nach. Diese inhaltliche Schärfe macht den ohnehin voraussetzungsreichen und fordernden Klassiker zuweilen zur unübersichtlichen und langatmigen Lektüre. Nur dadurch wird allerdings sichtbar, dass je nach innen- oder aussenpolitischer Kräftelage der Expansionsdrang sich mehr oder weniger offen zeigte. Neben den Hardlinern, die auf Expansion durch Annexion setzten, gab es auch damals schon diejenigen, die eine subtilere Expansion durch die vorrangig wirtschaftliche Beherrschung formal selbstständiger Staaten bevorzugten.

Der damalige Direktor der Deutschen Bank beispielsweise sprach sich dagegen aus, „blindlings eine Politik der Annexionen zu beginnen“ und forderte stattdessen, „Deutschlands wirtschaftliche Vorherrschaft (in Europa) zu etablieren“ (S. 97). Der deutsche Kanzler strebte in diesem Sinne „die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins“ an, und zwar „unter äusserlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung“ (S. 99). Auch in der Belgien-Frage plädierte er statt für offene Annexion dafür, Belgien zu Deutschlands „Tributärstaat“ zu machen, der „der Form nach möglichst frei bleiben, faktisch aber uns [Deutschen] sowohl in militärischer als auch wirtschaftlicher Beziehung zur Verfügung stehen muss“ (S. 105). Fischer spricht in diesem Zusammenhang von „indirekter Annexion“ (S. 106).

Ob indirekte oder offene Expansion, das Ziel war dasselbe: von der Nord- und Ostsee bis zum Schwarzen Meer Europa der deutschen Machtpolitik unterzuordnen. Und auch wenn sich natürlich nicht alles eins zu eins auf heute übertragen lässt, ist es doch erschreckend, wie ungebrochen die langen Linien der deutschen Machtpolitik sich durch die Jahrhunderte bis in den Ukraine-Krieg ziehen. Gerade heute, wo Berlin der direkten, formalen Expansion abgeschworen hat, mahnt Fischers Analyse dazu, die indirekte Expansion Deutschlands in Europa in ihrer machtpolitischen Bedeutung nicht zu unterschätzen. So zu tun als hätte Berlin in Osteuropa keine nationalen machtpolitischen Interessen – ob als selbstlose Schutzmacht der Ukrainer oder willenloser Vasall der USA – ist geschichtsvergessen.

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Klassenkampf statt Denkmal

Eine Sammlung mit Briefen, Reden und Interviews erinnert an den Widerstandskämpfer und Gewerkschafter Willi Bleicher

Von Peter Nowak

Zum 80. Jahrestag der Zerschlagung des Nationalsozialismus wurde dieses Jahr einmal mehr deutlich, wie sehr die Antifaschist*innen heute fehlen, die im Widerstand waren und über ihre Zeit in der Illegalität, im Exil und meistens in den faschistischen Konzentrationslagern berichten konnten. Es war nur eine kleine Zahl von Männern und Frauen, die aber in der BRD zahlreiche junge Menschen beeindruckten und mit dazu beigetragen hatten, dass diese selbst Antifaschist*innen wurden. Zu diesen inspirierenden Personen gehörte auch Willi Bleicher. Dass er heute fast vergessen ist, liegt auch daran, weil er schon 1981 mit 74 Jahren verstorben ist. Es ist daher überaus verdienstvoll, dass der Historiker Hermann G. Abmayr im Schmetterling-Verlag unter dem Titel »Texte eines Widerständigen« auf über 450 Seiten nun Schriften von Bleicher veröffentlicht und politisch eingeordnet hat.

Vom Hilfsarbeiter zum Widerstand

Abmayr hatte sich bereits vor 40 Jahren mit der Biografie von Willi Bleicher beschäftigt und 1992 das Buch »Wir brauchen kein Denkmal – Willi Bleicher: Der Arbeiterführer und seine Erben« herausgegeben, das lange Zeit vergriffen war und nun als E-Book neu aufgelegt wurde. Schon der Titel macht deutlich, was sich in den letzten 30 Jahren verändert hat: Bleichers Erben und Schüler, wie Eugen Loderer und Franz Steinkühler, sind heute schon vergessen oder haben – wie der Erfinder der kapitalgetriebenen Rente, Walter Riester – einen politischen Weg genommen, den der lebenslange Marxist Bleicher nicht verteidigen würde. Bleicher war vor 30 Jahren noch mit jenem Ausspruch bekannt, der auch zum Titel des Filmporträts über ihn wurde: »Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken«.

In »Texte eines Widerständigen« ist eine Rede Bleichers zur Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises im Jahr 1978 abgedruckt, in der er auf die Hintergründe dieses Satzes einging: »Ich liebte sie nicht, meine Schullehrer, die mir als siebenjährigen Jungen befahlen, mich zu bücken, damit der Rohrstock nicht nur meinem Hinterteil Schmerzen bereitete, sondern auch meinem kindlichen Gemüt. So lernte ich beizeiten die Erkenntnis, mit welchen Mitteln und Methoden die Menschen kleingemacht werden.«

Bleicher, geboren 1907, war kein Intellektueller gewesen. Er war zunächst Hilfsarbeiter, erst im Bäcker- dann im Metallgewerbe. Nach 1945 war er Funktionär der IG Metall in Baden-Württemberg und gehörte dort zu den linken Gewerkschafter*innen mit einem kommunistischen Hintergrund. Und auch für ihn gilt, dass Arbeiter*innen tendenziell wenige schriftliche Zeugnisse hinterlassen: Auf den ersten 100 Seiten sind die Briefe abgedruckt, die Bleicher aus den verschiedenen NS-Gefängnissen und dann dem KZ-Buchenwald an unterschiedliche Familienmitglieder geschrieben hat. Es wird deutlich, dass er sich zu politischen Fragen nicht äußern durfte. Vielmehr bittet er um etwas zu essen oder um »die Wasch«, was schwäbisch saubere Wäsche bedeutet. Fast in allen Briefen betont er, dass es ihm gut gehe und sich die Adressat*innen keine Sorgen machen sollten.

Wie es ihm wirklich ging, zeigt sich schon darin, dass Bleicher 1936 die Geburtstagsgrüße an seine Mutter mit der Hoffnung beendete, er würde im nächsten Jahr wieder zu Hause sein. 1939 konnte er nur noch schreiben, dass er diesen Wunsch jetzt schon so oft geäußert hätte und er bisher nicht in Erfüllung gegangen sei. Dabei sollte die schlimmste Zeit seiner Gefangenschaft erst noch kommen. In den gesammelten Texten veröffentlicht Abmayr ein Interview, das Bleicher 1973 mit dem Fernsehjournalisten Klaus Ullrich führte. Dieser plante eine Bleicher-Biografie, zu der es nie gekommen ist. Das im Nachlass von Ullrich gefundene Tonband mit dem Gespräch ist hier erstmals publiziert. Bleicher schildert darin, wie er nach der Verbüßung seiner Haftstrafe in das KZ Buchenwald deportiert und dort Teil der kommunistischen Widerstandsbewegung wurde. Ihm blieben auch die mit schwerer Folter verbundene Verschleppung in den Bunker und die Todesmärsche in den letzten Wochen des NS nicht erspart.

Enttäuschung und Einheit

Das Interview beeindruckt jedoch auch, weil Bleicher tiefe Einblicke in das Leben einer Arbeiter*innenfamilie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gibt. Die Schule erlebte der junge Bleicher als autoritäre Drillanstalt. »Was waren die Lehrer? Das waren Unteroffiziere«, heißt es in einem seiner Texte. Doch es wird auch deutlich, wie wichtig Bleicher schon in jungen Jahren die Aneignung von Bildung war. Im kommunistischen Jugendverband verschaffte er sich Bücher und gründete einen Lesekreis zum Thema Geschichte der Arbeiter*innenbewegung. Bleicher beschreibt, wie er in Opposition zum Kurs der KPD unter Thälmann geriet und sich in der Kommunistischen Opposition organisierte, die schon früh für ein großes Bündnis der Arbeiter*innenparteien gegen den wachsenden NS eintrat und sich auch in der Gewerkschaftspolitik am Einheitsgedanken orientierte.

Doch auch mit der KPO machte Bleicher nicht nur positive Erfahrungen. So berichtet er, dass er auf der Flucht vor der Verfolgung ohne Geld und Kontakte in einer französischen Stadt von Genoss*innen abgewiesen wurde. Später erfuhr er, dass er aufgrund einer innerparteilichen Intrige für einen Spitzel des NS gehalten wurde – ein einschneidendes Erlebnis, das Bleicher noch 50 Jahre später in Erinnerung bleibt: »Das war am Pfingstmontag 1934. Das war das Schlimmste, was ich in all den Jahren mitgemacht habe. Ich kann mich sehr wohl daran erinnern, dass ich zum ersten Mal mit dem Gedanken des Selbstmords spielte.«

Gegen jeden Nazismus

Trotz einer drohenden Verhaftung entschied sich Bleicher, zurück nach Deutschland zu gehen. Seine Arbeit in der illegalen KPO setzte er entgegen der Enttäuschungen bis zu seiner Verhaftung 1936 fort. Erst im April 1945 wird er von der US-Armee befreit. Er kehrt zurück nach Stuttgart und stürzt sich wie viele Widerstandskämpfer*innen sofort wieder in die politische Arbeit in der IG Metall und der KPD, aus der er 1950 austrat. Dabei ist ihm aus den Erfahrungen mit dem Aufstieg der Nazibewegung die Einheit der Arbeiter*innenbewegung ein besonderes Anliegen.

In der zweiten Hälfte des Buches sind neben einem Interview mit Erasmus Schöfer und Erhard Korn verschiedene Reden von Bleicher auf Gewerkschaftskongressen veröffentlicht. Oft sind es nur kurze Berichte, in denen er zitiert wird. Hier äußert er auch gelegentlich Selbstkritik über eine Gewerkschaftsbürokratie, die sich zunehmend in den Kapitalismus integriert. Nach seinem Ausscheiden aus allen Gewerkschaftsfunktionen beim Erreichen des Rentenalters hatte Bleicher noch einige Jahre Gelegenheit, auf antifaschistischen Demonstrationen oder Preisverleihungen aufzutreten. Auch diese Reden sind dokumentiert. Er meldete sich zu Wort, wenn alte SS-Männer sich zu Kameradschaftstreffen versammelten, und er warnte vor allen Formen des Neonazismus. Dabei sah er die Gefahr nicht nur am rechten Rand. Besonders die Kanzlerkandidatur des CSU-Rechtsaußen Franz Josef Strauß, der bekanntlich beste Kontakte zu Faschisten im In- und Ausland hatte, war für Bleicher Anlass zu Warnungen vor einer neuen Form des Faschismus.

Hier nahm er den Standpunkt als Marxist ein, der in der NS-Bewegung wie in allen Faschismen eine Herrschaftsform des Kapitals sah und der die Überzeugung hatte, dass nur eine auf dem Boden des Klassenkampfs stehende Arbeiter*innenbewegung den Faschismus verhindern könne. Dabei sprach er auch deutlich vom historischen Versagen der Arbeiter*innenbewegung in Deutschland. Er forderte sogar ein Schuldbekenntnis der Arbeiter*innenklasse in Deutschland, dass sie, anders als in Österreich und Spanien, kampflos vor dem Faschismus kapituliert habe.

Früh äußerte er sich auch zum wiedererstarkenden Antisemitismus. Weil er im KZ Buchenwald den jüdischen Jungen Jerzy Zweig vor der Deportation versteckt hatte, wurde Bleicher 1965 in der israelischen Gedenkstätte Yad Vaschem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. Es ist gut, dass Abmayr mit dem Buch an einen antifaschistischen Gewerkschafter erinnert, der kein Denkmal braucht – die Arbeit an einer zeitgemäßen linken Arbeiter*innenorganisierung wäre die größte Ehrung für ihn.

Hermann G. Abmayr (Hrsg.): Willi Bleicher. Texte eines Widerständigen. Briefe aus dem KZ, Reden und Interviews. Schmetterling-Verlag 2025, 460 S., br., 24,80 €.
Erstveröffentlicht im nd v. 29.5. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191556.willi-bleicher-klassenkampf-statt-denkmal.html?sstr=Willi|Bleicher

Wir danken für das Publikationsrecht.

Link zum Verlag
https://schmetterling-verlag.de/produkt/willi-bleicher-texte-eines-widerstaendigen/

Niemand verlangt nach Großdeutschland

Als der Krieg sich wendete: Der monumentale antimilitaristische Roman »Stalingrad« von Theodor Plievier in einer Neuausgabe

Von Irmtraud Gutschke

Die Schlacht um Stalingrad dauerte lang, denn die von der Roten Armee eingekesselten deutschen Soldaten wurden von Hitler zum Durchhalten verpflichtet. »Männer verwandeln sich in Leichen. Das ist nicht ungewöhnlich und ist nicht widernatürlich. Das kommt vor im Zuge politischer und kriegerischer Veränderungen … Aber deine im Stalingrader Steinbruch hingekegelten Männer – es ist doch so, dass selbst die Erde sich ihnen versagt und dass Elstern ihre Augen, ihre Herzen, ihre Gedärme wegtragen –, was zementieren sie, das ist die Frage. Großdeutschland! Großdeutschland an der Wolga –… ist das Land der Slawen etwa eine wohlfeile Menschenplantage … Ein sich über den Osten erstreckendes und bis zur Wolga ausspannendes Großdeutschland, niemand verlangt danach und niemand braucht es … selbst Deutschland braucht es nicht.«

Starke Worte, eindrückliche Szenen in »Stalingrad«, dem monumentalen Roman von Theodor Plievier, der 1945 in Deutschland nach dem Krieg erschien, nachdem er zuerst 1943/44 in Moskau in der deutschsprachigen Exilzeitschrift »Internationale Literatur« erschienen war. Um ihn zu schreiben, konnte Plievier mit gefangenen deutschen Soldaten sprechen. Es war der erste Roman über den Untergang der sechsten deutschen Armee in Stalingrad. Während heute wieder von einem bevorstehenden Krieg mit Russland geredet wird, als solle diese Niederlage von einst wettgemacht werden, erscheint in einer Neuausgabe des Aufbau-Verlags die letztgültige Fassung des Autors, um uns daran zu erinnern, was Krieg bedeutet.

Carsten Gansel, der schon 2016 mit einer Neuausgabe von Heinrich Gerlachs Roman »Durchbruch bei Stalingrad« international für Aufsehen sorgte, erhellt in seinem Nachwort Zusammenhänge, die bislang kaum bekannt gewesen sind. Nach dem Krieg ging Plievier in die SBZ und arbeitete unter anderem für den neugegründeten Kulturbund. Warum wusste ich so wenig von diesem Autor? Weil er im Herbst 1947 von einer Vortragsreise durch Westdeutschland weggeblieben war. Wie oft in derlei Fällen wurde danach nicht mehr groß über ihn geredet. Und als mir Hermann Kant erzählte, er habe 1956 seine Diplomarbeit über den Roman »Stalingrad« geschrieben, merkte ich nicht auf. Dass Kant 1984 mit einem lobenden Nachwort für eine späte Rehabilitierung des einstigen Bestsellers gesorgt hatte, erfahre ich jetzt erst von Carsten Gansel.

In ausführlichen Recherchen folgt er dem Lebensweg des Autors, der auf der Ausbürgerungsliste der Nazis gestanden, 1935 am Allunionskongress der Sowjetschriftsteller teilgenommen, eine Zeit lang in der Wolgadeutschen Republik gelebt und aus nächster Nähe erfahren hatte, was stalinistischer Terror bedeutete – dem 70 Prozent der deutschen Exilanten zum Opfer fielen, wie ich hier lese. Auch dass die Zentrale der Komintern im baschkirischen Ufa stationiert war, wo Plievier für sowjetische Rundfunksender arbeitete. Fälschlicherweise dachte ich ja immer, er sei Augenzeuge der Schlacht um Stalingrad gewesen. Den Roman lesend, hat man daran auch keine Zweifel, weil niemand sich so viele Einzelheiten ausdenken könnte. Aber er hat sehr genaue Erkundigungen eingezogen, mit vielen Augenzeugen gesprochen. »Ungeheuerlich die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, ungeheuerlich auch das Einfühlungsvermögen, die scharfe Intelligenz, die beim zweiten Wort schon das Wesentliche erfasste, die Zähigkeit und Genauigkeit seines Arbeitens«, schreibt Gansel.

»Soldaten sind Mörder«, schrieb einst Kurt Tucholsky. Täter, ob freiwillig oder unter Zwang. Doch wie auch immer, und sei es durch Propaganda, sie werden auch zu Opfern einer Kriegsmaschinerie gemacht, zum Schlachtvieh für fremde Interessen. Minutiös beschreibt Theodor Plievier den Untergang einer Armee als Wende im Zweiten Weltkrieg, noch bevor die West-Alliierten eine zweite Front gegen Nazideutschland eröffneten. »Von nun an war es die Rote Armee, die die Oberhand hatte. Nach Beendigung der Kampfhandlungen am 2. Februar 1943 gerieten innerhalb weniger Tage 91 000 Mann in Kriegsgefangenschaft.« Sterberate 90 Prozent – auch das wird hier nicht verschwiegen. Plievier selbst stellt die haarsträubenden Vorgänge vor uns hin, ohne sie zu kommentieren. Ein großes, ein bleibendes Werk der Antikriegsliteratur.

Theodor Plievier: Stalingrad. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau-Verlag, 624 S., geb., 30 €.

Erstveröffentlich im nd v. 6.5. 2025
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191044.stalingrad-niemand-verlangt-nach-grossdeutschland.html?sstr=Stalingrad

Wir danken für das Publikationsrecht.

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